Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Valentinstag ohne Elektrik

Ein strahlender Sternenhimmel ist nicht romantisch, er ist vor allem ungewohnt. Abseits der Großstadt schärft sich die Wahrnehmung nicht nur für Lichtverhältnisse. Inmitten der Natur bekommen auch die Dinge, die den Kopf im Alltag verhängen, wieder klare Umrisse.

„Es wird kälter
sagte er und
schaltete das
Zimmerlicht ein.
Der Raum blieb
dunkel.”

(Rolf-Dieter Brinkmann: Kälter)

Bild zu: Valentinstag ohne Elektrik

“Das ist ja fast ein bisschen romantisch.” – “Das ist romantisch”, sagt der blonde Mann neben mir mit gesenkter Stimme und neigt den Kopf weiter in den Nacken. Ich stehe unter nachtschwarzem Sternenhimmel übersäht mit zart flackernden Punkten. Manche wohlgenährt, die anderen verwischen beinahe. Erinnern, wann die Dunkelheit das letzte Mal das Ringsum so verschluckt hat und das Biolicht am Himmel so strahlend aus der düsteren Fläche gearbeitet hat, kann ich mich nicht. Seit über acht Jahren wohne ich in Berlin, das weit weniger dunkle Flecken hat als das Gemurmel über die Stadt so gerne behauptet. Neukölln ist voller Neonlichter, in den spärlich beleuchteten Plätzen glühen die Klingelschilder und locken die Motten in die Hauseingänge. Wenn man sich wie ich fast ausschließlich in sehr belebten Stadtteilen aufhält oder aus dem Neonlicht der U-Bahn erst wieder im Morgengrauen auf die Torstraße gespuckt wird, schimmert der Görlitzer Park bei der Durchreise um Mitternacht hungrig schwarz und droht manchmal zu beißen. Bis Mitte Januar steigen von den vereisten Wiesen dort noch immer Silvesterraketen auf und bestäuben das Halbdunkel mit Farbe. Eine Großstadt ist niemals stockfinster.

Jetzt stehe ich barfuß und ungeschminkt im Sand in Palolem. Es rauscht, es glitzert, kurz vor dem Wellenaufschlag flitzt der weiße Federbauch eines Strandläufers durch mein Sichtfeld. Wenn ich den Blick wieder nach oben richte und das Milchstraßengemälde mir ins Gesicht lacht, löst sich in meinem Magen ein kleiner Quoten, der mich zwickt und es schafft, dass ich meine Augen nicht sofort wieder auf das finstere Meer richte. Das Raunen des Wassers ist weniger kitschig, als einen meiner Gedanken kurz dabei zu erwischen, wie er eine zuckende Sternschnuppe ins das schwarze Dach über Goa zeichnet. Mein Blick bleibt stehen. Ich bin dankbar, dass es keinen Anlass für einen Liebesschwur gibt. Ich ginge umgehend ins Wasser und würde darauf warten, dass ein vollgesogenes Seidenkleid mich wieder auf den Strandboden der Tatsachen bringt. Ich hasse Romantik. Sie ist etwas für tief Verzweifelte, die ihrem Kopf nicht trauen, dafür aber den kulturellen Praxen, die in Fernsehspielen von grimassenschneidenden Darstellern gelehrt werden. Zuneigung und Liebe wird über explizite Worte gewonnen, nicht mit Dilettantenlyrik. Sex unter Palmen schmeckt nach Mückenschutz. Bitter und ein wenig seifig. Ein Candle-Light-Dinner wird selbst mit Strapsen als Tischdecke nicht aufregend. Den Küssen im Rosengarten gehen irgendwann die welken Blütenblätter aus. Jemand, der es wagen würde mit einem Strauß frisch geschnittener Rosen an meiner Tür zu klopfen, würde ich mit einer Ohrfeige begrüßen. Es gibt zu wenige Männer, die das mögen. Und diejenigen, die eine Faust im Gesicht zu schätzen wissen, würden den Unsinn mit dem Grünzeug nicht einmal zu denken wagen.

Die Gefahr, versehentlich über einen romantischen Moment zu stolpern und den erröteten Himmel peinlich berührt zur Seite schieben zu müssen, bevor er klebrig wird, ist in Berlin geringer als in der indischen Idylle. Dennoch, die Farbtherapie dieses Urlaubs ist nötig. Die Sonne versinkt gegen 18 Uhr im Meer und ihr Licht glüht keine Stunde mehr nach. Ich habe den Alkohol aus den Abenden verbannt, an meinem deutschen Schreibtisch brauche ich ein Stielglas mit roséfarbenem Wein, damit meine Fingerspitzen sich mit der Tastatur befreunden. Hier macht das Rosa am Horizont beschwipst und gleichzeitig klar dabei. Doch das Dunkel, gegen das die kleine Schar pastellgelber, kugeliger Lampions anflimmern, zieht Kopf und Körper entschlossen in die Müdigkeit. Die Hormone, die unser Hirn in der Nacht in unsere Blutbahnen schießt, sind wie immer Gewinner. Sich weich auf Melatoninkissen zu betten findet mein Biorhythmus sicherlich romantisch. In der Regel quäle ich ihn mit dem künstlichen Licht aus den verschiedenen Gadgets, die in meiner Wohnung zusätzlich zur Deckenbeleuchtung einen nicht endenden Tag simulieren. Vielleicht macht zuviel von dem Designerlicht depressiv, und nicht der Winter. Ich frage mich, wie viele übermotivierte Abteilungsleiter in ihren Großraumbüros Tageslichtlampen zur Prävention von Burnout-Erkrankungen arrangieren, und die Leiden ihrer Mitarbeitenden damit verschärfen, weil deren Netzhäute ständig verkatert sind.

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Um 11 Uhr abends gehen auch die Lichter der wehenden Papierlampen aus und ich finde es unpassend, wenn mein Laptop wie ein Scheinwerfer auf den Strand grinst. Der regelmäßige Atem des Meeres wiegt mich trotz seines Donnerns im Nu in tiefen Schlaf. Nach dem ersten Kaffee – die Morgenmedizin, die ich nicht loslassen will – laufe ich am Wasser entlang. Die ersten Sonnenstrahlen brechen in den überspülten Rillen im Sandboden, die das langsam zurückkehrende Meer hineingefressen hat. Sie kitzeln tatsächlich am Wimpernbogen, wie in einem Kinderlied. Während ich laufe, versuche ich die verschiedenen Muscheln zu meinen Füßen wahrzunehmen und im nächsten Schritt bereue ich, die Schönsten von dort einfach liegen gelassen zu haben. Es ist eine Konzentrationsübung: das Tempo halten und die Muscheln nicht gleichgültig vorbeirauschen zu lassen, sondern pro Fußspur einer von ihnen einen Guten Morgen zu wünschen.

“Ich habe doch kein ADHS“, denke ich, “es ist wirklich nur Twitter”, und muss lachen. Die Selbstdiagnose, die ich mir auch bei minus zwanzig Grad in Berlin hätte vorbeten können, geht mir nach drei Tagen Strand leicht von den Lippen. Mit meinem damaligen Freund habe ich im Herbst immer wieder gestritten, weil ich nicht erklären konnte, warum ich nicht nach New York wollte und auch in keine andere Stadt. Ich hatte immer nur ein Bauchgefühl, dass sich diffus dagegen sperrte. Dass ich nach Goa fahre habe ich etwa zwei Wochen vorher sehr spontan entschieden. Da haben die Männlein in Bauch und Ohr frenetisch in die Hände geklatscht und mich geschubst, das Visum und den Flug sofort zu buchen. Freunde von mir sind bereits seit Anfang Januar hier und nun leiste ich ihnen mit meiner Berliner Blässe leuchtende Gesellschaft. Das Konzentrationspiel lässt sich auch anhand neuer Sommersprossen wiederholen. Seit ich den Strand betreten habe, hat sich mein Ruhepuls irgendwo zwischen Shavasana und schweren Betablockern eingependelt. Das Yoga, bei dem ich in Berlin nach neunzig Minuten oft immer noch den Muskeltonus einer aufgeschreckten Rehs habe, wäre hier beinahe überflüssig. Aber sich bei Vogelzwitschern und dem Duft gewürzgetränkter Luft in die Taube zu biegen, ist die Form der Romantik, bei der mir tatsächlich das Herz aufgeht. Ich fühle mich nur ein kleines bisschen albern bei diesen Satz, schließlich stoßen meine Bauchmuskeln langsam wieder durch den Lebkuchenspeck. Und mit der Lust an der Körperoptimierung halte ich den unsichtbaren Draht zur Leistungsgesellschaft – auch ohne Geräte, mit denen ich die Idylle virtuell verlassen könnte.

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Städte schärfen die Sinne nicht. Der bei den Stützen schreibende Kollege ist sicher das beste Beispiel für die Präzision des ländlichen Literaten und ein gutes außerdem dafür, dass ein Leben abseits der Stadt Texten über urbane Phänomene nicht abträglich ist. Im Gegenteil. Distanzbeziehungen können brennen.

Sollte ich irgendwann einmal selbst Kinder haben – das sagte ich schon, als ich in die Hauptstadt noch frisch verliebt war – will ich mit ihnen aufs Land. Weiter weg, als in einen großen Garten am Stadtrand. Diese Idee stammt nicht aus einer dieser neoliberalen Elternzeitschriften, noch ist sie senile Landlust. Mein Geist ist mir heilig. Ich bin mir nicht sicher, ob er in der Stadt nicht doch irgendwann verkümmert. Trotz des Kulturprogrammes, den angetrunkenen, großen Ideen, die man in Bars miteinander verhandelt, trotz des großen Pools von potentiellen Liebhabern, aus dem man sich bedienen kann um wenigstens den Körper scharf zu halten.

Immer zur gleichen Zeit ist Palolem jeden Tag für einige Minuten aus der elektrischen Gesellschaft komplett herausgelöst. Kein Strom, nirgends. Die Musik verstummt, die Sonne scheint weiter. Nackte Babys robben quietschend durch das flache Wasser. Der frische Fisch lagert in einer Kühlkette, die von dem kurzen Blackout nicht unterbrochen werden kann. Noch schwimmt er umher oder hat es sich zwischen Eiswürfeln bequem gemacht. Ein Inder erzählt mir, der Stromausfall geschähe immer dann, wenn Bangalore erwacht. In der Technologie-Hauptstadt werde dann alle Eletrizität des Landes gebraucht, seien es Software-Entwicklungsfirmen oder internationale Call-Center, wo indische Arbeitende Menschen rund um den Globus ihre Fragen zu Finanzgeschäften oder Mobilfunkanschlüssen beantworten. Nicht nur IT und Dienstleistungen werden von hier aus in die Welt gestreut. Indien ist eine der größten Exportnationen für Blumen. Zum Valentinstag nehmen die Gewächse mit den roten Kronen millionenfach ein bißchen Kitsch, ein bißchen Liebe und ein bißchen Gift mit in ferne Länder.

Ich muss niesen, als der Duft eines Rosenräucherstäbchens in mein Gesicht weht. Die verglühende Asche fällt in den Sand. Dann ist es wieder schwarz. Bis ich den Kopf in den Nacken strecke und zu dem Mann neben mir sage: “Für dich finde ich die Sterne heute romantisch.”