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Die Qual der Wahl – was Wissenschaft zu Wahlverfahren zu sagen hat

Die Wissenschaft hält Lösungen für verunsicherte Wähler und Poltiker bereit, wenigstens wenn es um Wahlverfahren geht. Zum Beispiel die Wurzelgewichtung von Stimmen.

Die Wissenschaft hält Lösungen für verunsicherte Wähler und Poltiker bereit, wenigstens wenn es um Wahlverfahren geht. Zum Beispiel die Wurzelgewichtung von Stimmen.

Im Prinzip sind Wahlen eine feine Sache. Wahlen setzen mündige Bürger voraus und sind heute untrennbar mit hehren Prinzipien wie Gleichheit und Freiheit verbunden. Während allerdings manche Völker diese Freuden gerade erst entdecken, sind andere ihrer bereits wieder überdrüssig. In der Postdemokratie haben Lobbys und multinationale Firmen die Macht übernommen und unterminieren das System, und die parlamentarische Legitimation mancher Organisationen – wie der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union – steht ohnehin unter Dauerbeschuß.

Daran ändert auch der Vertrag von Lissabon nichts, der in 2007 geschlossen wurde, um ab 2014 das Wahlverfahren im Europäischen Rat zu reformieren. Seinerzeit wurden leidenschaftliche Debatten geführt über Staatengröße, Bevölkerung, Stimmgewichte und mathematische Verfahren – mittlerweile ist das Thema zwar passé, aber immer noch ein spannendes Lehrstück über die wackeligen Brücken zwischen wissenschaftlicher Theorie und Praxis. Polen nämlich setzte sich vor fünf Jahren mit großem Enthusiasmus für eine Reform ein, die die – damals wie aktuell gemäß des Vertrags von Nizza geltenden – Stimmgewichte durch eine Wurzelgewichtung ändern sollte. Über solche Themen lohnt es sich natürlich erst zu reden, wenn man erstens vernünftige Zensusdaten hat (Computern sei Dank) und außerdem die Rechenkapazität für komplizierte statistische Operationen (Computern sei nochmal Dank). Beides kein Problem, daher der Vorschlag, im Kielwasser der passenden Forschung zum Thema in den letzten Jahren.

Das Gewichtungsproblem in der EU entsteht erst durch den zweistufigen Wahlprozess: im ersten Schritt wählen die Bürger der Länder ihre eigenen Regierungen, im zweiten entscheiden die Regierungen en bloc im Europäischen Rat bzw. Rat der Europäischen Union (auch Ministerrat). Da dort jeweils nur eine oder wenige Personen ein ganzes Land vertreten, wäre es nachvollziehbar hochgradig ungerecht, wenn jede Ministerstimme gleich viel zählen würde – die Stimmen müssen also nach Größe gewichtet werden.

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Würde man nach Bevölkerung gewichten, müsste eine deutsche Stimme 162 mal soviel zählen wie eine luxemburgische (denn Deutschland hat über 80 Millionen Einwohner, Luxemburg gerade mal 500.000), und immerhin noch 8,5 mal so viel wie die schwedische. Unter solchen Umständen könnten sich die Regierungen kleiner Länder gleich kollektiv in den Dauerurlaub verabschieden, denn niemals bekämen sie genug Stimmen auch nur für eine Sperrminorität zusammen. Die Kompromißlösung des Vertrags von Nizza beinhaltet eine Reihe von Elementen: Einstimmigkeit für heikle Fragen, einfache Mehrheit für simple Fragen, qualifizierte Mehrheit für viele andere Fragen und weitgehend willkürlich ausgehandelte (wenn auch grob an der Bevölkerungszahl orientierte) Stimmgewichte. Die qualifizierte Mehrheit erfordert dabei, daß sowohl eine bestimmte Anzahl Staaten als auch ein bestimmter Anteil der EU-Bevölkerung der Entscheidung zustimmen.

So kompliziert wie diese Details sind – die Wurzelgewichtung fordert dem erkenntnissuchenden Bürger auch Einiges ab. Die Methode geht auf den Wissenschaftler Lionel Penrose zurück, den genau die spezielle Konstellation von zweistufigen Wahlen und gerechter Gewichtung interessierte. Theoretisch nämlich sollten die Gewichte so formuliert sein, daß möglichst jeder Bürger auch bei zweistufigen Verfahren die gleiche Abstimmungsmacht erhalten sollte – und zwar unabhängig von der Gesamtgröße des Landes. Sozialwissenschaftler interessieren sich leidenschaftlich für solche Fragen im Zusammenhang mit Spieltheorie und politischer Ökonomie, und im Rahmen der Lissabon-Verhandlungen kam das Thema zu erneutem Ruhm.

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Namhafte Wissenschaftler äußerten sich dazu in mehr oder weniger verständlichen Texten, Politiker und Medien ebenfalls. Was macht also den Charme der Wurzelgewichtung aus – außer, daß es einen hübschen und objektiven Mittelweg zwischen totaler (und total unfairer) Bevölkerungsgewichtung und (gleichermaßen unfairer) One-Country-one-vote Gewichtung bietet? Richard Baldwin erklärt die Idee sehr schön: Da es mehr Deutsche als Luxemburger gibt, hat der durchschnittliche Deutsche in nationalen Wahlen viel weniger Gewicht als der durchschnittliche Luxemburger. Gleichzeitig steigt aber die Anzahl möglicher Koalitionen, die die Wahl gewinnen können – denn je mehr Einwohner, desto größer die Anzahl möglicher Kombinationen, die zu einer Mehrheit führen. Da die beiden Tendenzen die Wahlmacht des einzelnen Bürgers gegenläufig beeinflussen, muß die Gewichtung intuitiv weniger als nach Bevölkerung sein, aber mehr als 1:1 – also irgendwie unterproportional zur Bevölkerung.

Der mathematische Beweis für die Logik der Wurzelgewichtung erfordert die Kombination zweier Wahrscheinlichkeiten für Wahlmacht auf den beiden Stufen des Wahlverfahrens – interessierte Leser dürfen sich gerne hier weiterbilden. Nehmen wir einfach an, Penrose hat richtig gerechnet.

Oder nicht? Wie üblich, stecken hinter jeder Berechnung Annahmen. In diesem Fall die Annahme, daß in großen Staaten ein knapper Wahlausgang wesentlicher wahrscheinlich ist als in kleinen Staaten. Diese Annahme hängt mit den theoretischen Maßzahlen zusammen, die in der Wissenschaft genutzt werden, die Wahlmacht des Einzelnen zu bestimmen – natürlich ohne Berücksichtigung nationaler Eigenheiten, Wahlmuster oder diverser Verfahren. Am häufigsten wird auf die Wahrscheinlichkeit abgestellt, daß ein Bürger jener “pivotale Wähler” ist, der das entscheidende Votum abgibt. Dies errechnet sich aus der kombinierten Wahrscheinlichkeit, daß in einem Staat eine Patt-Situation entsteht und der Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen, dieses Patt durch sein Votum entscheiden zu können.

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Die von Penrose berücksichtigte Anzahl möglicher Koalitionen (die in größeren Ländern größer ist) spielt also eine entscheidende Rolle – aber, so die Kritiker, nicht so entscheidend wie vermutet. Tatsächlich sind nämlich nicht alle denkbaren Koalitionen gleichermaßen strategisch sinnvoll, realistisch, oder eben wahrscheinlich – und wenn man das bedenkt, stimmt auch die Wurzelgewichtung nicht mehr.

Da die Penrose-Regel nirgendwo auf der Welt tatsächlich eingesetzt wird (weder bei den Vereinten Nationen noch in der EU), läßt sich über deren Anwendung nichts sagen, wohl aber über die prinzipiellen Verhältnisse von Wahlen in großen und kleinen Staaten. Die USA nämlich leiden mit ihrem Electoral College unter einem ähnlichen Dilemma, und retten sich ähnlich wie die EU mit einer Umgehungslösung. Wobei natürlich das entscheidende Problem weder von Befürwortern noch von Kritikern berührt wird: die Auswirkungen, die nationale Eigenheiten, politische Tendenzen, Wahlverweigerung, oder Demokratiemüdigkeit auf die statistische Wahlmacht haben. Diese Wissenslücke können auch Computer nicht füllen, leider, und so werden die Modelle und wissenschaftlichen Meinungen immer nur eine Annäherung sein. Über die man dann diskutieren kann.