Wellen folgen nicht immer linearen Gesetzmäßigkeiten, wie man seit der Messung von Monsterwellen weiß – viel mehr weiß man allerdings auch nicht.
Den größeren Teil der Familienurlaube meiner Kindheit habe ich am Wasser verbracht. Für die Nachbarskinder, die mit ihren Eltern in den Bergen wandern gingen, Campen im Allgäu, oder Kirchen in der Toscana besichtigen, hatte ich nur Mitleid übrig: ohne Meer, das konnte kein richtiger Urlaub sein. Nebenbei haben wir alle gelernt, daß man vor der See Respekt haben sollte, wobei das der Faszination natürlich keinen Abbruch tat. Die klassischen Seefahrtsromane, von C.S. Forester bis P. O’Brian habe ich mehr als einmal gelesen, und einen Urlaub auf der Gorch Fock hätte ich auch nicht verkehrt gefunden. Dazu wird es nun vermutlich nicht mehr kommen, aber ich kann ja immer noch reich heiraten und mir eine Segelyacht von meinem Mann schenken lassen. Andererseits würde er sich das als liebender Ehemann vermutlich zwei Mal überlegen, denn das Meer ist ein gefährlicher Ort.
Im Durchschnitt geht pro Woche mehr als ein größeres Schiff auf den Weltmeeren verloren, meist weil eine Kombination von schlechtem Wetter, schlechtem Material und schlechter Schiffahrtskunst aufeinander treffen. Manchmal jedoch, wie man heute weiß, weil Monsterwellen auf ein Schiff treffen. Bis zum 1. Januar 1995 war sich die Wissenschaft weitgehend einig, daß die regelmäßigen Geschichten von hochhaushohen Wellen Seemannsgarn sein müssten. Wellen sind schließlich ein hochrelevantes Alltagsphänomen, über das man viel weiß.
Wellen haben eine Amplitude, sozusagen der Ausschlag von der Mitte gemessen. Die Länge kann man nach Metern messen (Wellenlänge) oder nach der Zeit, also wieviel Zeit zwischen dem Höchstpunkt einer ersten und der anschließenden Welle vergeht. Jeder, der mal am Strand zugesehen hat, wie eine schnelle Welle die langsamere, vorauslaufende Welle einholt und auffrißt, wie zwei Wellen aus unterschiedlichen Richtungen (Kreuzsee) aufeinandertreffen, und als vereinigte neue Welle auf den Strand auflaufen, jeder, der einmal den Sog nach draußen an den Knöcheln gespürt hat, hat die grundlegenden Prinzipien bereits intuitiv verstanden. Diese Intuition haben Wissenschaftler längst formalisiert, und Wellenverhalten in linearen Modellen abgebildet, was es wiederum ermöglichte, Wellenverhalten auch zu prognostizieren und mit Computern zu berechnen.
Monsterwellen kamen allerdings in den Modellen nicht vor. Heute ist man schlauer, wobei es gewissermaßen zwei Arten von Monsterwellen gibt: die fabelhaften Wellen des Seemannsgarns (oder heutzutage Journalistengarns), die ungezählte Schiffe in den Abgrund gerissen haben. Und das präzise definierte physikalische Phänomen, über das man immer noch viel zu wenig weiß. Wissenschaftlich gesehen ist die „signifikante Höhe” einer Welle im Vergleich mit dem durchschnittlichen Wellengang das entscheidenede Kriterium: eine Monsterwelle muß mindestens doppelt so hoch sein, wie der Mittelwert der höchsten 30 % der Wellen. Wären die durchschnittlichen Wellen 1m hoch, und die höchsten Wellen in einem Seegebiet 2m hoch, so wäre eine einzelne 5m-Welle bereits ein Monster. Angesichts der Tatsache, daß auf hoher See Wellen von mehr als 10m als sehr starker Seegang gelten, meint man jedoch natürlich meinst Wellen von 20-30 Metern Höhe. Das wäre dann annähernd soviel wie ein zehnstöckiges Hochhaus – also ziemlich hoch.
Monsterwellen zeichnen sich aber nicht nur durch ihre absolut und relativ überdurchschnittliche Höhe aus, sondern vor allem auch durch allerlei andere physikalische Besonderheiten, von denen allerdings viele noch sehr unklar sind. Konsens besteht weitgehend darüber, daß Wellenverhalten wohl doch nichtlinear sein kann. Treffen Wellen unterschiedlicher Periode oder aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander, verhalten sie sich in der Überlagerung meistens linear – aber manchmal auch nicht. Falls nicht, kann es zu Monsterwellen kommen, die sich offenbar sehr viel besser mit nichtlinearen Gleichungssystemen beschreiben lassen (daß hier unter anderem eine Spezialform der Schrödingergleichungen eingesetzt wird, ist vermutlich auch kein Zufall).
Weiter Faktoren gelten als förderlich für die Entstehung von Monsterwellen, insbesondere plötzliche Veränderungen der Wassertiefe (also bestimmte Küstengebiete) und gegenläufige Tendenzen von Strömung und Wind, da beide die Konzentration der Wellenenergie fördern. Das Ergebnis sind dann nicht nur sehr hohe Wellen, sondern oftmals auch sehr steile und – wenn einige wenige Monsterwellen aufeinanderfolgen – sehr kurze Wellenlängen. Für die Schiffahrt ergeben sich daraus mehrere Probleme: erstens überschreitet die konzentrierte, enorme Energie einer Monsterwelle beim Aufprall deutlich alle Maßstäbe, die bis vor kurzem im Schiffbau angelegt wurden (eingeplant ist ein Druck bis ungefähr 150 kN/m², eine Monsterwelle entwickelt hingegen bis zu 1 MN). Bei einem Seitenaufprall wird das Schiff buchstäblich umgelegt – von vorne hingegen trifft es häufig die Container auf Frachtschiffen oder die fragileren Aufbauten auf den Decks, und ist immer noch desaströs. fHinzu kommt, daß die Kürze der Wellen besondere Gefahren mitsichbringt.
Im Normalfall fahren Schiffe über Wellen hinweg, so, wie wir mit einem Fahrrad über Berge rauf und runter fahren. Im Zweifel tut man dies gegen die Wellen, mit geringer Geschwindigkeit (für die Steuerbarkeit) um die Aufprallenergie zu minimieren. Ist die Welle jedoch sehr steil und sehr kurz, befindet sich das Heck des Schiffes noch auf der einen Welle, während der Bug in ein Loch fällt. Dauert dieser Zustand zulange, bricht das Schiff entzwei. Alternativ kommt der Bug gar nicht erst wieder hoch und wird von dem Brecher komplett unter Wasser gesetzt. Einen vorteil haben Monsterwellen: sie sind aufgrund ihrer physikalischen Eigenheiten eher instabil und daher oftmals nur von kurzer Dauer.
Kapitänen, die von einer erwischt wurden, ist das natürlich ein geringer Trost, sofern sie überhaupt noch davon berichten konnten (und das ist offenbar immer noch eine Minderheit). Erst mit der offiziellen Messung einer 26m-Welle auf der (dabei nur geringfügig beschädigten) Ölbohrstation Draupner 1995, war die Wissenschaft bereit, ihre linearen Modelle über Bord zu werfen, obwohl es genug Berichte vorher gab – aber eben nur wenig Beweise, zumal wenn dabei Schiffe verloren wurden.
Bis heute ist man sich offenbar nur in einigen wenigen Fällen wirklich einig, daß vermutlich Monsterwellen (und nicht Materialmängel oder menschliches Versagen) ursächlich für den Untergang von Schiffen waren. Dazu zählt unter anderem der Frachter MS München, der 1978 in der Nähe der Azoren verschwand. In diesem Fall fand man jedoch unter den treibenden Trümmern an der fraglichen Stelle ein Rettungsboot, das aus seiner Verankerung auf einer Höhe von etwa 25m herausgerissen worden war (und nicht gezielt zu Wasser gelassen). Dies immerhin ein physisches Indiz – in anderen Fällen kann man nur mutmaßen, beispielsweise wenn Schiffe in notorisch gefählichen Gewässern mit bekannter Monsterwellenrisikokonstellation verschwinden (wie zum Beispiel im Gebiet des Agulhasstroms vor Südafrika).
Insgesamt verzeichnet die Forschung zwar Fortschritte sei 1995, es gibt Experimente in Wellentanks, Computersimulationen (die sich offenbar auch für Aktienmärkte eignen) und natürlich zunehmend Daten von Satelliten und Radaranlagen. Und dennoch weiss man immer noch viel zu wenig. Wobei es ja auch irgenwie wieder tröstlich ist, daß es noch Rätsel auf der Welt gibt, die nicht von Menschen gemacht werden.