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Vom freien Handel: Theorie und Praxis

Die Wissenschaft ist immer noch uneins, wer in Theorie und Realität von mehr Freihandel profitiert. Aber wer ihn wünscht - da lag die Theorie ganz richtig, zeigt die wissenschaftliche Forschung.

Die Wissenschaft ist immer noch uneins, wer in Theorie und Realität von mehr Freihandel profitiert. Aber wer ihn wünscht – da lag die Theorie ganz richtig, zeigt die wissenschaftliche Forschung.

Wirtschaftswissenschaftler sind ja eigentlich keine Wissenschaftler. Richtige Wissenschaftler, also Mathematiker oder Physiker, haben Hypothesen und können diese testen, alles sist viel klarer und fundierter, und der verzweifelte Wettlauf der Sozialwissenschafter, durch Mathematisieirung Anschluß zu finden – wenig überzeugend. Dann haben die Ökonomen nicht einmal die Wirtschaftskrise kommen sehen, und mit den meisten Erkenntnissen kann man ohnehin nicht viel anfangen, denn wir sind ja alle gar nicht rational. Der Homo Oeconomicus – ein wirtschaftswissenschaftliches Hologramm, sozusagen. So ungefähr lautet die gängige Kritik, die hier oft genug auch in de Kommnetaren deutlich wird.

Vieles davon ist natürlich nicht völlig unbegründet, in den Sozialwissenschaften lassen sich experimentelle Zustände seltener herstellen, und während ein Ball in Afrika wie in Kontinentaleuropa immer zu Boden fällt, entwickeln sich die Volkswirtschaften völlig unterschiedlich – und gehorchen möglicherweise anderen Gesetzmäßigkeiten. Entsprechend gibt es für fast jedes Phänomen verschiedene, konkurrierende Erklärungsmodelle, und absolute Wahrheiten sind schwer zu finden.

Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele. Volkswirte zum Beispiel haben neuerdings vier Modelle, mit deren Hilfe sie Handelsströme zwischen Ländern erklären. Alle implizieren, daß Handels zu kollektiver Wohlstandsmehrung führt. Dem gegenüber stehen die empirischen Analysen, die zwar häufig kollektive Wohlstandsgewinne aufzeigen – leider aber nur schwer unterscheiden können, ob reichere Länder mehr handeln, oder mehr Handel zu Reichtum führt. Die dritte Dimension ist die allgemeine Wahrnehmung: Individuen, Firmen und Politiker tendieren eher dazu, die Härten und Nachteile der Globalisierung zu sehen. Tatsächlich setzt sich auch in der Wissenschaft zunehmend die Erkenntnis durch, daß Handel jedenfalls nicht pauschal und für alle gut sein kann – es gibt einfach Gewinner und Verlierer. Bleibt nur die Frage: wer sind die Gewinner, und wer die Verlierer?

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Eine grundlegende, wenn auch etwas abstrakte Antwort auf diese Frage gibt das Stolper-Samuelson Theorem, und zwar schon seit 1941. Die Erklärung beruht auf Modellen, die den Handel zweier Länder mit jeweils zwei Inputfaktoren (Arbeit und Kapital) zu beschreiben versuchen. Im Vergleich miteinander verfügt das eine Land über viel Kapital, das andere über viele Arbeiter, und beide produzieren zwei Güter: eines, das mehr Arbeitseinsatz verlangt, und eines mit mehr Kapitaleinsatz. Nehmen die beiden Länder den Handel miteinander auf, wird jedes Land dasjenige Gut exportieren, dessen hauptsächlicher Arbeitsfaktor im Land reichlich vorhanden ist, und das andere Gut von außerhalb importieren.

Um das Beispiel näher an die Realität zu rücken, könnte man sagen: Industrieländer werden Güter exportieren, die viel technologisches Wissen und hochausgebildete Arbeitskräfte erfordern, während weniger entwickelte Länder diese Produkte importieren, und dafür Rohstoffe und simple Produkte unter Einsatz ungelernter Arbeitskräfte exportieren. Die Wissenschaftler Stolper und Samuelson leiteten daraus ab, wer von diesem Handel profitieren würde: im Industrieland die hochausgebildeten Arbeiter, im Entwicklungsland die gering ausgebildeten Arbeitskräfte. Gleichzeitig würde sich im Industrieland die Situation ungelernter Arbeitskräfte verschlechtern, weil das Entwicklungsland diese Produkte günstiger und vorteilhafter herstellen kann, und diese Produktionszweige im Industrieland dadurch unter Druck geraten – und vice versa.

Die Erkenntnis ist stammt bereits aus den 40er Jahren, gilt unter Wissenschaftlern als akzeptierter Standard, allerdings ist der empirische Beweis schwierig und mit vielerlei Problemen behaftet. Einkommen in Relation zu Preisen, Handelsströme, die Klassifikation von Produktzweigen, die Messung von Daten, das oben erwähnte Henne-Ei-Problem… all das macht eine empirische Schätzung schwierig, weil die meßbaren Einkommensänderungen von Personen zu komplex und vielschichtig und wenig vergleichbar sind. Da helfen auch die schönsten Rechenmodelle am Computer nicht weiter.

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Manchmal jedoch kann man auf Umwegen auch zum Ziel gelangen – oder zumindest zu spannenden Erkenntnissen. Seit den 1980er Jahren gibt es internationale „Value Surveys”, also Umfragen, die viele Individuen in vielen Ländern nach Einstellungen und Meinungen befragen. Unter anderem auch zu ihrer Haltung gegenüber Freihandel, Globalisierung und protektionistischen Maßnahmen (z.B. Zöllen, um die heimische Wirtschaft zu schützen). Findige Wissenschaftler haben solche Daten genutzt, um zu zeigen, daß das Stolper-Samuelson Theorem in den Köpfen des Durchschnittsbürgers durchaus angekommen ist.

Zunächst zeigen die Autoren einige simple Zusammenhänge, zum Beispiel, daß gut ausgebildete Arbeitskräfte und Menschen, die sich selbst in höheren sozialen Schichten einordnen, im Durchschnitt eher für Freihandel sind – Ausbildung scheint also generell einen Effekt zu haben. Auch Alter und Geschlecht weisen klare Korrelationen mit den verschiedenen Wertvorstellungen auf, was wenig überraschend ist. Daneben scheint es einen klaren Ländereinkommenseffekt zu geben: Menschen in ärmeren Ländern können Handel viel abgewinnen, Menschen in reicheren Ländern hingegen sehr viel weniger – und in den USA hat Freihandel gemäß einer Umfragewelle sogar den schlechtesten Stand überhaupt.

Die volkswirtschaftlich interessante Frage ist jedoch, ob die Unterschiede in das Stolper-Samuelson Muster passen – sich also nach Faktorausstattung des Landes und des Individuum unterscheiden. Die Fragestellung in den Umfragen ist meistens sehr simpel gehalten: ist der Befragte für mehr Handel oder für mehr Protektion? Zusätzlich wurden für alle Befragten Alter, Einkommen, Ausbildung und natürlich das Heimatland erfasst. Setzt man Ausbildung und Einkommen in Relation zu den durchschnittlichen Ausbildungs- und Einkommensniveaus in verschiedenen Ländern, sind damit alle relevanten Informationen verfügbar. Tendenziell sind in reichen Ländern wie Deutschland oder den USA vor allem die gutausbildeten Einwohner für mehr Handel, während die weniger gutausgebildeten Arbeiter protektionistische Positionen vertreten. In ärmeren Ländern, wie den Philippinen oder Äthiopien ist es umgekehrt: gut ausgebildete Einwohner treten für mehr Protektion ein, während die unteren Schichten Freihandel favorisieren.

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Es gab in den letzten Jahren eine kleine Anzahl empirischer Analysen in dieser Richtung, deren Unterschiede vor allem technischer Natur sind: der wissenschaftliche Diskurs debattiert die Vor- und Nachteile bestimmter Umfragetypen, die Abdeckung verschiedener Länder, oder die Frage, ob nicht vielleicht mehr Ausbildung zu mehr wirtschaftlichem Denken führt und damit die Haltung gegenüber Freihandel anderweitig beeinflußt (wirtschaftswissenschaftliche Indoktrination oder so). Neuere oder andere Datensätze haben es zum Beispiel ermöglicht, zumindest annähernd letzeren Faktor separat zu berücksichtigen – während die zentralen Ergebnisse erhaltenbleiben.

Während die Herren Stolper und Samuelson sich sicher vor allem darüber gefreut hätten, daß ihre Theorie – wenn auch auf Umwegen – sich so hübsch belegen läßt, ist es im weiteren Sinne auch eine Bestätigung für die volkswirtschaftliche Wissenschaft: zumindest manchmal sind Menschen durchaus rational und wissen durchaus differenziert, was gut für sie ist. Und: manche Theorien lassen sich tatsächlich belegen, sogar in den liederlichen Sozialwissenschaften.

Ein Nebenergebnis, das die Politikskeptiker hier erfreuen dürfte (oder auch nicht): die Korrelation zwischen dem Anteil der Bevölkerung, die Freihandel favorisiert und den tatsächlichen Zollsätzen dieses Landes war sehr deutlich. Mehr Zustimmung zu Freihandel war mit deutlich weniger Zöllen assoziiert. Das läßt vermuten, daß Politiker zumindest manchmal und in Grenzen doch das tun, was die Mehrheit der Wähler wünscht.