Deus ex Machina

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Artgerechtes Arbeiten

An den Olympischen Spielen nehmen nicht nur Menschen teil: die deutsche Mannschaft ist auf dem Rücken der Pferde immer erfolgreich. Was lehrt der Umgang mit Tieren über die Leistungsgesellschaft?

An den Olympischen Spielen nehmen nicht nur Menschen teil: die deutsche Mannschaft ist auf dem Rücken der Pferde immer erfolgreich. Was lehrt der Umgang mit Tieren über die Leistungsgesellschaft?

 

Hüa! Über den Ausruf stolpere ich in den Updates auf Twitter, in denen es seit Beginn der Olympischen Spiele vor allem um Sport und Edelmetalle geht, weniger um Politik und das Klagen über das Wetter ist auch erst einmal passé. In einer ZDF-Übertragung springen gerade glänzend gestriegelte Turnierpferde über die halsbrecherischen Hindernisse in einem Military-Parcours. Mitterlweile formiert die Disziplin und dem Namen Vielseitigkeitsreiterei. Die Pferde und die Menschen in ihren Sätteln müssen an drei aufeinander folgenden Tagen ins Gelände, dann in ein Dressurviereck und abschließend auf einem weiteren Sandplatz bunte Strangen überwinden. Ich muss lachen. Hüa! Wenn ich das nur meinem Arbeitsrechner zurufen könnte, damit er von alleine Artikel schreibt oder wenigstens nicht so lange lädt. Das Hashtag #hüa und Tweets zu der Equipe der deutschen Reiter sieht man an den Turniertagen öfter. Nicht zuletzt, da Medien zunächst den Reitsportkommentator Carsten Sostmeier für seine poetische Berichterstattung loben und er dann im Überschwang einen kleinen Skandal verusacht: „Seit 2008 wird zurückgeritten“, freut er sich über den Erfolg der heimischen Mannschaft. Die Reiterinnen und Reiter tragen zum satten Medaillenspiegel schon immer erfolgreich bei. 2004 jedoch rutschte die Vielseitigkeitsmannschaft nach einem spät erkannten Zeitmessungsfehler auf den undankbaren vierten Platz.

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Die Berichterstattung über den Pferdesport weckt bei mir Kindheitserinnerungen. Noch heute weiß ich die Namen der Warmblüter, die ich als Kind aus Zeitschriften abzeichnete oder ihre Poster aus der Wendy im Kinderzimmer hängen hatte: Rembrandt und Ratina Z. Die Popstars unter den Turnierrössern. Der Zeitvertreib auf dem Rücken eines Ponys war lange der einzige Sport, der mich als Kind begeistern konnte. Mittlerweile habe ich seit vielleicht zehn Jahren nicht mehr auf einem Pferd gesessen. Das in Berlin begonnene Veterinärmedizin-Studium brach ich ab, da die großen Tiere in der Politik auf mich doch mehr Faszination ausübten. Traben die Pferde mittlerweile auch durchs Netz? Als ich mit acht Jahren zu reiten begann, hatte meine Familie noch keinen Internetanschluss. Die Reitschulen, Gestüte und Hengststationen waren von der eigenen Website vermutlich noch ein ganzes Stück weiter entfernt als Privathaushalte. Aus diesem Grund googelte ich den bekanntesten deutschen Springreiter, während Carsten Sostmeister in einem anderen Tab verzückt eine Traversale kommentierte, und fand eine recht umständlich aufgebaute Internetpräsenz vor, auf der man Stammbäume der Vierbeiner in epischer Textlänge nachlesen kann und den edlen Hengstsamen gleich über ein Onlineformular für die eigene Zucht bestellen kann. Beinahe melancholisch schloss ich die Website, als ich dort las, dass Ludger Beerbaums Erfolgspferd Ratina Z 2010 verstorben ist. Die domestizierten Huftiere leben lange. Die braune Hannoveranerstute wurde 28 Jahre alt. Auf der Anlage von Ludger Beerbaum in Riesenbeck steht nun eine Bronzestatue von ihr.

Trotz der mädchenhaften Begeisterung die in der Erinnerung an meine Jugend zu Pferd kurz in mir aufflammte, sehe ich das Turnierreiten und Pferderennen sehr kritisch. Der Verschleiß an Pferden, die in Geländestrecken und auf Rennbahnen umkommen oder aufgrund ihrer Verletzungen getötet werden müssen, ist nicht klein zu reden. Schon oft sind Trainingsmethoden insbesondere für Springpferde aufgedeckt worden, die grausam und klar als Tierquälerei einzustufen sind. Doping ist ebenso verbreitet wie unter den zweibeinigen Sportlerinnen und Sportlern. Der eigentliche Grund, warum die Reiterei in London mich sehnsüchtig seufzen ließ ist jedoch, dass ich die Nähe zum Tier vermisse. So wie Kleintiere in Seniorenheimen, für Kranke und Kinder erwiesener Maßen therapeutischen Nutzen haben und Einsamkeit lindern, hat das Freizeitreiten und anderer Umgang mit Tieren für viele Menschen erstaunliche Effekte aufs Gemüt. Es gibt Phasen in der Adoleszenz von Mädchen, in denen sie ihr Pflegepferd als wichtigste „Bezugsperson“ angeben – vor Eltern, Freundinnen und Freunden oder Geschwistern. Man mag diesem Phänomen ratlos gegenüber stehen, wenn man den eigenen Draht zu Tieren nie entdeckt hat. Doch was der Umgang mit großen Tieren für das Selbstvertrauen und die Selbstständigkeit von jungen Menschen tun kann, ist enorm. Sich auf den Rücken eines Pferdes zu setzen, ist die Inkaufnahme eines kompletten Kontrollverlustes, von Risiko und Gefahr. Der Schwung in den Sattel ist aber vor allem ein riesiger Vertrauensvorschuss und –beweis. Sofern das jeweilige Tier nicht mit den fragwürdigen Sicherheitsvorkehrungen des Reitsports – Ausbinder, Chambon oder Martingal – entschärft wurde, ist der Reiter immer der schwächere Teilnehmer in einem Zusammenspiel, das im Idealfall auf gegenseitigem Verständnis und Vertrauen beruht. Diese Beziehung mit einem unberechenbaren Muskelberg eingehen zu können, erfordert Mut, Ruhe und Geduld.

Die Kommunikation mit Tieren ist eine eigene Technik, die sich durchaus erlernen lässt. Dieser Versuch schult andere Fertigkeiten als die Fähigkeit, schnell mit neuen Technologien umgehen zu können – vielleicht sogar ihr stark entgegengesetzte. Es gibt das berühmte „Händchen für Tiere“, doch eine magische Kraft ist es nicht. Eine sehr genaue Beobachtungsgabe, die in einer Verhaltensanpassung mündet, die schon erwähnte Geduld, die Zeit erfordert, und die Bereitschaft, die Sprache des Tieres verstehen zu wollen und danach zu handeln, sind von Nöten. Vielleicht kann man einem Kind gar nicht früh genug ein Haustier anvertrauen. Vielleicht ist das, wenn der bunte Reigen von Gadgets für jedes Kinderzimmer erschwingbar geworden ist, schon wieder cool. Die Beschäftigung mit Tieren schult Fertigkeiten, die in den Durchschnittsberufen, in die Geisterwissenschaftlerinnen und andere Akademiker heute gehen und rutschen, kaum noch gefordert sind. Seit ein paar Monaten wohnen bei mir zwei Kaninchen und die Wirkung, die das Schlappohrpaar auf mich entfaltet hat, verwundert mich noch immer. Als Enkelin eines Kaninchenzüchters waren die Tiere aus meiner Kindheit nie wegzudenken, nach acht Jahren Großstadt habe ich dem Vermissen schließlich stattgegeben und zwei knopfäugige Fellknäule bei mir einziehen lassen. Die zum einen beruhigende und gleichzeitig aufmerksamkeitsschulende Wirkung wird jedoch noch von etwas anderem ergänzt, dass ich in den größeren Kontext einordnen möchte, warum ich denke, dass die Anforderungen der modernen Arbeitswelt ihre Mitglieder nicht zu neuen Höchstleistungen antreiben, sondern sie ausbrennen oder in traurige Trägheit hinein langweilen.

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Der Gedanke entspinnt sich von der völlig unspektakulären Situation aus, dass Ihnen eine Katze um die Beine streift, eine kalbsgroße Dogge Sie umspringt, Sie mit den Finger durch das dicke Fell eines Angorakaninchens streichen oder Sie sich aus dem Sattel herunterbeugen und einem Pferd den warmen Hals tätscheln. Der alltägliche Körperkontakt wird um eine Spannbreite erweitert: zu menschlicher Haut, zum Jeansstoff, Wasser, zur Tastatur und zum Touchpad tritt strubbeliges, drahtiges oder flauschiges Fell. Eine kleine raue Zunge, die über den Handrücken leckt. Nun, das ist banal, Sie können freilich auch durch außereheliches Haar streifen, Rosen pflanzen und mit Fingerfarbe die Scheiben im Kinderzimmer anmalen, Sie können sich fesseln lassen, eine Urne töpfern oder den Handrücken beim Nähen als Nadelkissen gebrauchen. Am Wochenende bleibt ein wenig Zeit, um mit dem Körper wieder in Kontakt zu kommen.

Doch ich bin skeptisch geworden, ob eine moderne Wissensgesellschaft ihre Höhepunkte erreicht, wenn sie auf den Ergebnissen und Ideen von Menschen beruht, die ihre Sinne nur noch einseitig nutzen. Menschen, die nicht an den Tod von gedruckten Zeitungen und Bücher glauben, und als eines der zentralen Argumente für ihr Überleben die Haptik der Erzeugnisse anführen, haben einen Punkt. Selbstverständlich könnte ich animierte Gifs von Tierbabys im Internet anschauen, sie sind unbestritten niedlich – ich will das Kaninchen jedoch als haptisches Erlebnis mit Herzschlag.

Manchmal denke ich darüber nach, was wäre, hätte ich das Studium der Tiermedizin abgeschlossen. Stünde ich dann auf einer sonnigen Wiese und würde Schafe impfen, oder säße ich in einem Labor, gebeugt über ein Mikroskop, was kaum besser wäre als sitzend vor einem flirrenden Monitor? Über den Begriff der „Ergonomie“, für den der Wikipedia-Autor als besonderes Augenmerk die “Verbesserung der Mensch-Maschine-Schnittstelle” anführt, kann ich nur lachen. Büroangestellte wissen, dass ein ergonomischer Arbeitsplatz nicht mehr beinhaltet, als dass Haltungsschäden durch Tipps zur optimalen Einstellung von Stuhl und Monitor vermieden werden sollen und es zuweilen noch Anleitung zur Gymnastik gegen Verspannungen gibt. Zur erweiterten Benutzerfreundlichkeit des Arbeitsplatzes zählen Brillen, Pillen und Schokolade.

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Zusammengefasst könnte man sagen: wir loben den Fortschritt, der harte körperliche Arbeit auf ein Minimum reduziert hat, und lernen nichts daraus. Denn die Weiterentwicklung der Arbeit bedeutet lediglich andere Gesundheitsschäden. Für die Menschen, die ihre Aufgaben vorrangig vom Schreibtisch aus verrichten können, bedeute dieser “Fortschritt” eine enorm einseitige Auslastung ihrer Sinne und körperlichen Fähigkeiten. Wie man zu der Auslegung kommen kann, eine Vollzeittätigkeit im Büro könne überhaupt ergonomisch gestaltet werden, ist mir schleierhaft. Ob sich die geistige Leistungsfähigkeit durch kurze Unterbrechungen, wie das Bewegen zu einer Kaffeemaschine oder auf den Balkon zum Rauchen, über den Tag hinweg optimal nutzen lässt, auch daran habe ich große Zweifel. Würde man die Ausgestaltung der Berufswelt Büro – die triste Fortsetzung von Schule und weiterer Ausbildung – als Projektarbeit beurteilen, man käme nur zu dem Schluss, dass die Verantwortlichen hier dem Anschein von Effizienz aufgesessen sind, keine Kreativität zum Zuge kamen ließen, aber auch das Wesen Mensch nicht verstehen, sondern es zum Funktionieren bringen wollten. An dieser Stelle lohnt ein Rückgriff auf das „Händchen für Tiere“. Würde man den Mensch in seiner “natürlichen Wildbahn” beobachten und die Erkenntnisse ernst nehmen, fesselte man ihn nicht an einem Computerarbeitsplatz. Das Dilemma bei der Tierhaltung ist: artgerechte Unterkunft ist so gut wie unmöglich, doch ein Arterhalt wäre ohne Haltung und Zucht nicht machbar. Doch im Abgleich zur Arbeitswelt lohnt ein Eintauchen in die Welt der Tierliebhaber, die versuchen ihren Tieren abwechslungsreiche und artgerechte Beschäftigung zu bieten. Das Pendant zur Büroarbeit ist die Massentierhaltung. (Fabrikarbeit in Entwicklungsländern vielleicht schon der Schlachthof.) Mit jedem Biss in ein Bio-Schnitzel oder die Tofuwurst plädiert der Konsument für das Verbot des Einpferchens und kehrt doch nach dem Mittagessen zurück in den eigenen Käfig.

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Nun könnte man argumentieren, der mündige Mensch sei für die Integrität seiner Sinne und seines Körpers selbst verantwortlich. Büroarbeit kann als gemütlich, schonend und strukturierend empfunden werden. Doch ein anderer Teil der Arbeitnehmenden, der schon auf dem Grundschulstuhl zappelte, fühlt am Ende des Tages einen solchen Drang sich zu bewegen, dass er entweder schon vor Sonnenaufgang die Joggingschuhe anzieht oder erst spät am Abend nach dem Sport heimkehrt. Der Bewegungsausgleich zum stundenlangen Sitzen gerät dabei oft aus dem Gleichgewicht. Menschen, die regelmäßig Fitnessstudios aufsuchen, kennen die bedenklichen Formen des Trainings von anderen Personen oder sich selbst nur zu genau: Sportsucht oder Sportbulimie als weniger verdächtige oder krankhaft wirkende Ausprägungen von Essstörungen oder Körperwahrnehmungsstörungen. Orte der Gesundheit sind Fitnessstudios selten.

Die Zeit, die theoretisch zur Verfügung steht, um einen gesunden Ausgleich zum Büro zu schaffen, sei es durch Sport, Kochen, Spaziergänge und Spiel, nimmt ab, während die sich wandelnden Schönheitsnormen in der Regel nur durch eine enorme Zeitinvestition erfüllt werden können. Neben der zu einseitig ausgerichteten Arbeit und den etwaigen gesundheitlichen Einschränkungen von Büroarbeit, gesellt sich ein weiterer Aspekt, der die Bedeutung des ohnehin furchtbaren Wortes „Leistungsgesellschaft“ noch weiter pervertiert. Der Druck gesellschaftlicher Schönheitsnormen kann nur durch Leistungen erreicht werden, die wiederum andere Formen der Leistungsfähigkeit beschneiden. Die Anstrengungen und Zeitaufwendungen, die es erfordert dünn, muskulös, perfekt geschminkt, enthaart oder geschmackvoll gekleidet zu sein, fehlen für geistige oder zwischenmenschliche Aufwendungen quer durch alle Bevölkerungsgruppen. Der Mythos, Magersucht sei eine Krankheit der besseren Töchter, ist lange überholt. Die Unterdrückung des geistigen Kapitals durch zwanghafte Beschäftigung mit Idealvorstellungen von Gewicht und Aussehen geht dabei vor allem zu Lasten des weiblichen Geschlechts.

Wenn wir über Wege aus der Krise sprechen, ist es zumindest bedenkenswert, wenn nicht die Funktionsweise der Bankensysteme in Frage gestellt würde, sondern parallele Debatten geführt und ebenso die Systeme hinterfragt werden, die ohne große Gesetzesänderungen und Finanzhilfen erneuert werden könnten, deren Kriseln jedoch unmittelbar zu spüren ist: Arbeitswelt und Werte im gesellschaftlichen Miteinander. Ein Rettungsschirm über dem „Händchen für Menschen“.