Wir sind viele
Und uns einander ewig fremd
„Nee, die Piraten doch nicht. Bist du verrückt?“, lacht meine kleine Schwester ins Telefon. „Christian Lindner ist süß, den wähle ich vielleicht.“ Sie gehört zur jüngsten Gruppe der Wählerinnen, die in diesem Jahr ihre Stimme abgeben dürfen. In der europäischen Realität wird jedoch der italienische Ministerpräsident Enrico Letta mit 47 als “Jungspund” bezeichnet, im letzten Jahr meiner Zwanziger darf ich mich blutjung fühlen, die noch Jüngeren müssen demnach Babys sein. Über die Jungen und Mädchen, die halb so alt sind wie ich selbst, weiß ich so gut wie nichts. In der U-Bahn huschen täglich magersüchtige Mädchen mit tiefen Augenschatten an mir vorbei, anderen Teenagern klebt so viel orangestichiges Make-up im Gesicht, wie ich in drei Jahren nicht verbrauche. Einer Horde männlicher Jugendlicher möchte ich in manchen Gegenden Berlins nachts nicht alleine begegnen, wiederum andere sieht man niemals, da sie in abgedunkelten Kinderzimmern zocken, im Bundestag laufen sie mit großen Augen und mühsam geknoteten Krawatten umher. Ich habe noch nie einen Praktikanten gesehen, dessen Anzug gut sitzt. Ob sie sich sicherer in der erwachsenen Stoffhülle fühlen?
Eigentlich möchte ich sie alle in den Arm nehmen und verraten, wie schön das Älterwerden ist; die Zeit zwischen 14 und 19 ist vielleicht die härteste Probe, das sage ich Maria, als sie schnell von meiner Ausgangsfrage, ob sie die Piratenpartei wählt, umschwenkt auf ihren Liebeskummer. Im Vorfeld der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen habe ich sie oft angerufen und versucht mit ihr über Politik zu sprechen. Obwohl sie in ihrem dualen Studium einen rechtswissenschaftlichen Schwerpunkt hat und einige Monate in der Ausländerbehörde arbeitete und Verstörendes über Abschiebungen erzählte, nahm sie auf Wahlplakaten zunächst den blonden FDP-Politiker wahr, den sie als Eye Candy unter wählbar verbuchte. Sie postet bei Facebook Partyfotos und Einträge über Unlust auf Klausuren, die sie überdurchschnittlich gut absolviert. Von der politischen Filterbubble, in der ich mich bewege, lebt und klickt sie weit entfernt.
Ich bitte sie am Telefon, den Livestream des Piratenparteitags in Neumarkt anzumachen, den schon partei- und politikerfahrene Twitternutzer als bizarr bezeichnen. Der Kurznachrichtendienst und Liveblogs helfen dabei, sich in der Tagesordnung zurechtzufinden. Lust auf Politik macht er nicht. „Was machen die da?“, fragt sie, „Das ist nicht ernst, oder doch?“ Sie kommentiert keine Outfits, keine Frisuren, kein Kabelgewirr. Das Parteitagsprozedere provoziert bei ihr keine emotionale Reaktion außer Irritation. Die andere steife Seite von Politik kennt sie aus der Verwandtschaft. Unser Cousin kandidierte in einem tiefschwarzen Wahlkreis für ein Landtagsmandat der CDU, fotografierte unsere Großeltern samt des dazugehörigen Kaninchenzuchtvereins für seine Wahlbroschüren, er hat 469 Facebook-Fans, auf den Fotos herrscht eine Männerquote von 90 Prozent. Einer der letzten Einträge besteht aus einem Foto mit dem Begleittext: „Übergabe eines Schützenvogels an Bundeskanzlerin Angela Merkel“. Bei Familienfeiern werden die Enkelkinder weit auseinandergesetzt; ich solle bloß nicht die gleichgeschlechtliche Ehe thematisieren, den Großeltern zu Liebe, so meine Mutter. In diesen Räumen auseinanderklaffender Werte, denen ein Schweigen gut tun soll, wächst meine kleine Schwester auf und wird unpolitisch. In einem konservativen sozialen Kontext ist ein Piercing schon rebellisch genug, eine abweichende Meinung am Mittagstisch, eine Mitgliedschaft bei der Piratenpartei braucht es da nicht.
Die Piraten repräsentierten zunächst ein politisches Extrem, das schnell harmlos wurde, da es obgleich anders lautender medialer Darstellung die Jugend nur streift, selbst die politische. Die Zeit Redakteurin Khue Pham schreibt in der ZEIT, als junger Mensch schäme man sich für die Piraten und sei wütend, da sie eine Chance verspielt haben. Sie fragt: „Was wird aus denen, (…) die sie wählen wollten, weil sie sich von keiner anderen Partei repräsentiert fühlen?“ Doch wer fühlt sich von den Piraten noch repräsentiert? In den Ergebnissen der Meinungsforschung schwindet der Schwarm.
In dem Ort, in dem ich aufwuchs, gab es nur die Junge Union – und zu meiner Schulzeit keinen digitalen politischen Diskurs. Gut möglich, dass ich damals den Piraten beigetreten gewesen wäre, oder sie gewählt hätte. Ich war Akte-X-Fan und glaubte an das Paranormale. Jetzt interessieren meine kleine Schwester und ihre Freundeskreis mich in ihrer Normalität: weder besonders politisch noch lethargisch. Maria fühlt sich von keiner Partei repräsentiert, sagt sie, ernüchtert klingt sie dabei nicht. Ihre Freundinnen, die schon ein Kind haben, hätten dafür erst recht keine Zeit. „Die meisten wählen das gleiche wie ihre Eltern, wenn überhaupt“, erzählt sie. Als größten Einschnitt hat sie zuletzt das Inkrafttreten des Rauchverbots empfunden: „Das hat eingeschlagen wie eine Bombe. Ich bin erwachsen und werde immer noch bevormundet.“ Sauer auf eine spezielle Partei ist sie nicht: “Die Politik halt.” In ihrem Zimmer hängt das „I want to believe“-Poster aus Fox Mulders Büro, das ich bei meinem Auszug da ließ. Ich glaube immer noch, dass Beteiligung an Politik eine gute Idee ist. Ich hatte und habe die Hoffnung, dass irgendeine politische Organisation zu einer Heimat für jemanden wie meine kleine Schwester werden könnte. Maria ist der Typ Mensch, die Klassensprecherin wird sobald sie den Raum betrifft. Repräsentierte sie die Durchschnittsfrau, läge die Quote in Führungspositionen bei mindestens 90 Prozent. Sie will einmal Chefin werden, sagt sie, „egal wo.“ Sie erinnert mich ein bißchen an Julia Klöckner, nur dass sie niemals Weinkönigin werden oder den Schützenkönig küssen müsste, doch vielleicht ist der Vergleich auch schief, denn sie würde politische Phrasen niemals beherrschen und stattdessen mit Neuschöpfungen der Jugendsprache für Ordnung sorgen. Sie leitet jeden dritten Satz mit „Alter!“ ein und sagt dann etwas sehr Kluges. Ich mag diesen wütenden Slang, weil er lebendig klingt. Meine Projektion schwankt zwischen dem Wunsch nach ihrem politischen Engagement und dem Wunsch, sie politisch inkludiert zu sehen.
Das Jugendwort des Jahres löst bei seiner Bekanntgabe stets Verwunderung aus, doch es sollte nachdenklich stimmen, dass wir junge Menschen so selten in ihrer eigenen Sprache sprechen hören. Dieser Text ist das allererste Mal, dass ich „YOLO“ überhaupt tippe. Der durchschnittliche junge Mensch ist ein vernachlässigtes Thema, das Englische stellt dabei mit dem schönen Begriff „undercovered topic“ die journalistische Komponente hervor, eine politische Dimension hat die Zustandsbeschreibung auch. Parteien haben Jugendorganisationen, selbst die Piraten, doch erst der Piratenpartei gelang es Öffentlichkeit herzustellen für einen Ausschnitt von jüngeren Menschen und den besonders internetaffinen, die sich zumindest in technologischen Fragen am Puls der Zeit befinden. Die Antwort, ob in den nächsten Wochen des Wahlkampfes Jugendverbände in Fragen von Teams von Spitzenkandidat_innen eine gewichtigere Rolle spielen werden als Landesverbände, ließe sich vorwegnehmen. Auch die Sprache in (journalistischen) Kommentierungen ist interessant. So heißt es über Gesche Joost, gerade als Expertin für „Vernetzte Gesellschaft“ in das Kompetenzteam von Peer Steinbrück berufen, man wolle über sie „jüngere Wähler ansprechen“. Das Ansprechen ist dabei kein „Hi, wie geht es dir?“, es ist ein „Wähle uns!“ und dementsprechend kurzfristig konzipiert. Die Piraten hingegen kreisten an diesem Wochenende um die innerparteiliche Beteiligung, bevor sie sich überhaupt Gedanken machen konnten, über welche Ansprache sie über die eigene Partei hinaus wirken und zum Mitmachen aufrufen könnten. Die Piraten wollen demokratische Teilhabe früher verwirklichen: Sie fordern die Absenkung des Wahlalters. Doch schaut man sich die Partei heute an, versagen sie nicht nur dabei, die jungen Menschen anzusprechen, die sich in keiner Partei wiederfinden. Anstatt den Gegenentwurf zur etablierten politischen Kultur zu realisieren, haben die Piraten sich als Nischenpartei verschlossen. Offenheit und Inklusion bringt man mit ihnen nicht mehr in Verbindung. Gegen das dicke Fell, das eine Person, die Verantwortung in der Partei übernehmen will, mitbringen muss, wirken andere Parteien kuschelig. Der Flausch hat die letzten Federn verloren.
Ihr Vorsitzender sagte auf dem Parteitag: „Die Piraten werden eine neue, andere Kultur einbringen.“ Auch die Kultur ist nur noch eine Phrase, ein weiteres Wort, das ich aus meinem Sprachschatz streichen werde. Die Piraten müssen viele sein, wenn sie ihr Versprechen, den Bundestag weniger gemütlich zu machen, dort tatsächlich hineintragen sollen. Doch das Murmeln der Piratenblase, die nicht nur nach und nach Parteihabitus in sich aufgesogen hat sondern auch die leere politische Sprache, besitzt nicht die Schärfe, um in der Gemengelage des Wahlkampfes erkennbar zu bleiben. Gesche Joost, vor einer Woche noch Professorin und seit Freitag Netzpolitikerin im Schattenkabinett der SPD, bekommt zu Beginn der Woche mehr Aufmerksamkeit als die Katharina Nocun, neue politische Geschäftsführerin der Netzpartei.
Bernd Schlömer will angreifen, sagt er am Sonntag, den Rest habe ich zwei Minuten später vergessen. Bushido twittert zeitgleich: „Seid dankbar für jede Sekunde, die ihr mit euren Müttern verbringen könnt.“. 627 Menschen retweeten ihn. Laut Kommunikationswissenschaftlern, die gerade zu Multiplikatoren im Wahlkampf forschen und Tweets auswerten, ist derjenige, der mit politischen Meinungsäußerungen die höchste Reichweite generiert ausgerechnet der Rapper aus Berlin. „Nee, der versteht mich auch nicht. Der findet bestimmt auch gut, dass die Piraten sich für 30 Gramm Gras Eigenbedarf einsetzen. Das ist völliger Nonsens“, sagt meine Schwester während ihr Feuerzeug in den Hörer klackt. „Keine Ahnung, CDU wähle ich sicher auch nicht, aber sag es Mama nicht.“