Take a lesson, from the ones who have been there
My brain is not damaged but in need of some repair
Kaiser Chiefs, Modern Way
Ich trage schwarzgrüne, massgeschneiderte Bergwanderbrogues aus Verona mit grober Sohle, ein bequemes Sacco aus Tuch von Roydale, und einen weiten, langen Ansitzmantel aus Münchner Loden. Ganz geschlossen, und mit hochgeklapptem Kragen sehe ich nach bayerischen Verhältnissen nicht aus wie jemand, mit dem man sich anlegen sollte, denn diese Lodenmäntel aus dem Jagd- und Joggerjagdunfallumfeld sprechen für einen laxen Umgang mit körperlicher Gewalt und wenig Neigung zur friedlichen Konfliktbereinigung. Ich bin eigentlich gar nicht so und am Schalter dann auch die Höflichkeit in Person, als ich mein Gepäck aufgebe. Denn ich habe die klare Luft über den vereisten Bergen verlassen und mich hinunter in die bleigraue Ebene begeben, die sich von München bis zur Küste erstreckt. Ich reise nach Berlin. Da wäre jede zuvorkommende Erscheinung fehl am Platze.
In Berlin angekommen – und nach einem letzten sehnsuchtsvollen Blick auf meine Berge über den Wolken, Berge, die ich jetzt eine Woche nicht mehr sehen werde, und Wolken, die ich von unten erschauen werde, denn in Berlin ist es immer grau, selbst wenn es sonnig zu sein scheint – in Berlin angekommen, nach einer ruppigen Landung in Tegel überlege ich mir kurz, ganz kurz, ob ich wie jeder Mensch in die öffentlichen Verkehrsmittel steigen soll. Aber dann fällt mir ein, dass der öffentliche Personennahverkehr in Berlin ja so eine Sache und keinesfalls unsere reizende Bayerische Oberlandbahn ist, und in Berlin vielleicht nicht jeder den gefährlichen Ausdruck eines Jägermantels erahnt. So ergattere ich lieber ein Taxi. Am Steuer sitzt Hassan und ich sage ihm, dass sich Berlin in den letzten sechs Jahren auf den ersten Blick nicht verändert hat. So lange war ich nicht mehr hier. Und ich kann nicht sagen, dass ich es vermisst hätte. Meine Erfahrungen, individuell gesehen, waren ja nicht schlecht, ich hatte einen Puffer an sozialen Kontakten, Geld und Ausweichmöglichkeiten um mich herum, und meistens bin ich dann auch immer recht spät wieder nach Berlin gefahren, wenn es sich ergab, nach Bayern zu reisen – trotzdem. Nicht mein Ding, diese Stadt.
Hassan sieht das ähnlich, denn er kennt die weitere Geschichte der Zeit, die ich nicht mehr erlebt habe. Hassan hat das Pech, dort zu wohnen, wo heute alle hin wollen: An der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg. Dort ist er während des kalten Krieges in eine 90 Quadratmeter grosse Wohung gezogen, und langsam merkt er, wie man ihm diese Heimat nehmen will. Er zahlt jetzt 800 Euro warm, unter ihm wurde die gleiche Wohnung neu vermietet, für 1450. Kalt. Und sie war sofort weg. Beworben hatte sich das typische Publikum für diese Ecke, Leute mit Geld aus dem Westen, wie schon bei den anderen Wohnungen im Haus. Von den alten Bewohnern sind kaum noch welche da, Hassan ist inzwischen fast so etwas wie ein unerwünschter Fremdkörper. Man möchte, so erlebt er es, andere Mieter haben.
Dabei kann man sich über Hassen wirklich nicht beklagen. Seine E-Klasse ist so sauber, wie es meine Barchetta nur einmal war, nämlich am Tag der Auslieferung aus der Fabrik. Er fährt souverän durch das Gedrängel der Fahrzeuge im westlichen Wedding, ist auch so nett, einen kleinen Schlenker zu meiner alten Wohnung zu machen, und macht den Job richtig gut, diesen Job, den er eigentlich nicht machen will. Schliesslich ist die Tätigkeit als Taxifahrer nur das Ergebnis einer langen Entwicklung; da hinten, er weist nach Norden, war früher die Druckereifabrik, in der er einstmals Chef des Lagers war. Aber die wurde von einem Konkurrenten übernommen, und steht jetzt auf dem Balkan. Man hat ihm damals angeboten, doch mit auf den Balkan zu gehen. Allerdings nur für den ortsüblichen Lohn des Balkans, weg aus Berlin, in ein Hotel am Rande einer stalinistischen Stadt, um dort weiter das Lager zu leiten. Das hat er dann nicht gemacht.
Das war nicht die einzige Erfahrung. Er war vorher schon im Mittelstand, der hier durch die Berlinförderung gut existieren konnte. Dort gab es eine Maschine, die den ganzen Ablauf im Produktionsprozess steuerte. Drei Mann in der Firma bedienten sie, im Schichtbetrieb, 24 Stunden, rund um die Uhr, und Hassan war einer davon. Einmal, kurz vor Weihnachten, ist sein Nachfolger krank geworden, da hat er dann 16 Stunden durchgearbeitet. Und als auch der zweite Nachfolger nicht kam, wollte er eben die 24 Stunden voll machen. Aber dann kam der Chef, und hat ihm gesagt, dass er jetzt die Maschine übernimmt. Und Hassan sollte in die Kantine gehen und sich melden. Dort gab es dann für ihn zu essen, was er wollte. Hassan beeilte sich, ging zurück zum Chef, scheuchte den in sein Büro, und machte noch einmal drei Schichten. Dann erst kam ein Ersatzmann, Hassen ging er heim und schlief. Er bekam eine Woche Sonderurlaub und 500 DM. Das war 1989, das war ein guter Job und eine gute Zeit für ihn. Gerade war die Mauer gefallen, und der Kapitalismus nahm auch in Berlin West mit, was er konnte. Auch den Mittelständler. Und die nächste Maschine war dann eine, die sich selbst steuerte.
Der Kapitalismus brachte auch eine Sonderförderung Ost für Immobilien, und so lernte Hassan Mitte der 90er Jahre um, auf Elektriker und Maler. Das kann man immer brauchen. und das brauchte man auch, Hassan hatte viel zu tun bis etwa 2000, als die Begeisterung für die Altbauten des Ostens angesichts der New Economy Krise einen schweren Dämpfer erhielt. Dann machte er den Taxischein. Und jetzt, da es wieder losgeht mit den Berlinimmobilien, da entdeckt er, dass die Firmen keine Elektriker mehr brauchen, zumindest keine gelernten Spezialisten aus Berlin mehr. Die haben eigene Bautrupps, die alles aus einer Hand machen, so sagen sie es zumindest, und dahinter stehen Subunternehmer aus dem Osten, also all jene nach Deutschland verbrachten Allesmacher, die man in den nach dort verlagerten Fabriken nicht braucht. Denn eine Berlinimmobilie muss nur so lange schön aussehen und funktionieren, bis sie verkauft ist, und die Probleme teilen sich dann der Käufer aus Süddeutschland, der Mieter aus Süddeutschland und Hassan, dessen Leistung man nicht braucht, aber dessen Wohnung ein grossartiges Geschäft wäre, wenn er gehen würde. Aber das macht er nicht. Das ist seine Heimat, und da bleibt er. Bravo, sage ich. Nicht zum ersten Mal.
Dabei komme ich aus einer Region mit Vollbeschäftigung, wo man sich die Telefonnummern von sauber arbeitenden Elektrikern verschwiegen zuschiebt, und gute Maler bekommt man, wenn man sich ein paar Monate vorher auf die Warteliste setzen lässt. Draussen zieht Berlin vorbei, mit diesem schiefersilbernen Nachthimmel der Lichtverschmutzung, eine alte Frau tippelt über die Strasse, und auf den Trottoirs drängen sich die schreienden Horden der Freitagsbelustigung. Früher war das nicht so, meint Hassan, früher gab es halt den Kudamm, da war das Leben und woanders war Ruhe. Berlin war eigentlich eine schöne Stadt, gut, da war die Mauer, aber man hatte Arbeit und die Leute waren freundlicher. Diese ganze Aggressivität, der ganze Streit, das sind diejenigen, die arm sind, keine Arbeit haben und dann eben Probleme bereiten. Ich nicke und sage nichts über schlecht gelaunte freie Autor_Innen, die ihren Hass auf Twitter auskübeln, und die Atmosphäre der U-Bahn Berlin ins Netz tragen. Hassan hat schon recht. Dann sind wir beim Hotel, das den Besuchern einreden will, dass Berlin eine schicke Metropole der Künste ist, und ich bedanke mich für die Fahrt. Und das Gespräch.
In Palo Alto entwickelt Google selbstfahrende Autos, mit einem besonderen Blick auf die urbane Mobilität. Die Zukunft, an die man dort glaubt, denkt an kleine Elektrofahrzeuge, die sich selbst an das Ziel bringen, keinen Hassan brauchen, damit auch Gewicht und Kosten sparen, und natürlich die Städte entlasten. Sie werden kommen, Hassan ist dann vielleicht schon in Pension, und wird sich an seine Wohnung klammern, so lange es eben die Mietsteigerungen zulassen. Man wird sich in Tegel, dann sicher noch immer in Tegel, da habe ich üBERhaupt keine Zweifel, also in so ein Selbstfahrding setzen, und es wird in den Fenstern einen virtuellen Datenlayer haben, der Zusatzinformationen zur Stadt abspielt. Wo die Hohenzollern waren. Wo die Mauer stand. Wo die besten Bars sind. Was eben für die Menschen so wichtig ist. Relevant.
Mir persönlich hat die nackte, hässliche Wahrheit aber sehr gut gefallen, und weil Hassan zwar ein guter Geschichtenerzähler ist, aber keiner, der Zugang zu einer Zeitung hätte, habe ich es hier aufgeschrieben. Es ist trotz allem eine bessere Geschichte als die Kunstwerke im Hotel, der Blick auf den silbernen Himmel und das, was noch zu sagen wäre, das kommt auch noch.
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