Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Ferien in "Ville Internet"

Worin die Autorin sich von der Schinderey erholet das mediterrane Frankreych bereist und einkehret in einer Statt deren Innwohner ein "Ville Internet" im Schilde führen.

Worin die Autorin sich von der Schinderey erholet
das mediterrane Frankreych bereist und einkehret in einer Statt
deren Innwohner ein “Ville Internet” im Schilde führen. 

Die Fülle der Straßenschilder entlang des Kreisverkehrs an den Ortseingängen Frankreichs erfordert eine innerstädtische Medienkompetenz, gepaart mit dem Wörterbuch im eigenen Kopf, das die accent-verzierten Worte in die gemütliche Urlaubswelt übersetzt. Die Signalstärke des Empfangs auf meinem iPhone hat sich unter der Mittagssonne weggeduckt und meine Finger erfreuen sich an gymnastische Schlängelbewegungen über eine bunte Karte aus Papier. Man sieht in letzter Zeit seltener Kleinkinder, die im Spiel über eine Wählscheibe miteinander telefonieren und später einmal zu Frauen heranwachsen, die wutentbrannt den Hörer in die Gabel knallen können, wenn der Liebste noch auf dem Bürostuhl klebt um aus seiner Mailbox neuen Sinn herauszulesen. “Mama anrufen!”, erklärt mir mein zweijähriges Patenkind und zieht den winzigen Zeigefinger von links nach rechts über seinen Handballen. 

Meine Freundin näht und vertreibt nun Gummizellen für den mobilen Draht zum Liebes- kummer, nachdem sie in diesem Jahr schon das dritte Mal unter Beweis stellte, dass ein gebrochenes Herz auch ein robustes Gerät mühelos an der Wohnzimmerwand zerschellen lässt. Ich vererbe meinem Patenkind zur rechten Zeit den Boxsack. Sobald ich mich an der französischen Mittelmeerküste zur Ruhe setze, werde ich ihn nicht mehr brauchen.

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Der Schilderwald weckt mich in diesem Jahr mit einem Wink in die Welt des Netzes aus dem Schatten der Sonnenbrille: “Ville Internet 2008”. Ohne weitere Beschriftung lässt das Schild mich ein wenig irritiert zurück. Ist das ein Gütesiegel für Städte, in denen ich Alphablogger aus der Camargue in freier Wildbahn beobachten und streicheln kann? Eine weiterführende Internetadresse zu dem Wegweiser hält das Schild in diesem Moment nicht bereit, auch kann ich das Netz nicht über eine Suchmaschine nach Informationen durch- forsten. Mein Mobilfunkanbieter, genauer gesagt der Verbraucherschutz der EU-Kommission, hat mich behende in die Erholung von der digitalen Welt gestoßen. Die Datennutzung wird bei der Überschreitung der Grenze von Roaming-Gebühren von 50 Euro unterbrochen. Möchte ich weitersurfen, bedarf dies eines Telefonats mit meinem Anbieter. Ich verzichte.

Vor Kosten lasse ich mich nur allzu gern beschützen. Meine Sommerlaune bewahrt mich glücklicherweise nach dieser Schutzmaßnahme vor Gedanken an weitere Behütung: den Jugendmedienschutzstaatsvertrag. Ich würde die Ohren meiner Kinder gerne davor behüten, dass ein paar Erwachsene sie zur “Generation Porno” ausrufen. Sexfilmchen verderben angeblich Charakter und Beziehungsfähigkeit, während Nachrichtenmagazine bilden sollen, in dem sie lehren, dass jedes dritte Titelthema mit einer nackten, wohl- geformten Frau illustriert werden kann. Die “Generation Geil” wächst nicht im Feriencamp heran, sie haust im besten Alter in deutschen Vorstandsetagen. The kids are alright.

Bild zu: Ferien in "Ville Internet"

Ist eine “Ville Internet” nun bewohnt von vielen jungen Menschen, die Milchkaffee schlürfen und sich über die spiegelnde Oberfläche des iPads ärgern, während die Sonne über dem Golf von Lyon lacht? Ohne die Spuren des Schildes “Ville Internet” im Netz verfolgen zu können, bleibt die Bedeutung dieser Auszeichnung ein Gedankenspiel. Vielleicht wagt man diese auch zu selten, lässt sich doch zu allen Fragen zumindest eine Ahnung von der Materie ergoogeln. Nach der Fingergymnastik auf der Straßenkarte darf das Hirn ohne die Assistenz des Webs ein wenig reimen.

Vielleicht hat das Städtchen unter französischer Sonne eine hervorragende Website, die in zehn Sprachen den Weg für Bewohner und Besucher weist, Amtswege erspart, dürftige kulinarische Abende ausschließt und das Begehen der Kirchen für Touristen vorwegnimmt: das “Ville Internet” erprobt Google Churchview. Angeschlossen an die visuelle Sammlung von Hausfassaden verrät mir ein Service, hinter welcher Tür der begehrteste Single der Stadt wohnt, mit dem ich die Kindergartenplätze in den nächsten Jahren befüllen kann. Foursquare ermittelt die Person als Bürgermeister, welche ihre Zeit der Bürgersprechstunde und nicht dem Golfplatz widmet.

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Ich übe in meiner freien Zeit keinen kalten Entzug vom Internet, obwohl ich am Strand und zum Croissant am Morgen die Zeitung von gestern oder ein Buch bevorzuge. Bisweilen erlaube ich mir als ersten Tagesausflug die Einwahl ins Internet, da an manchen Tagen nur die Springer-Presse den Weg neben die frischen Baguettes des kleinen Kiosks gefunden hat. Für die Planung der Reise jedoch habe ich keinerlei Websites besucht. Nicht, weil ich darüber ein Buch oder eine Titelgeschichte schreiben möchte. Doch ich verlasse mich lieber auf vier Augen, zwei Tageslaunen und dem Knurren zweier Mägen, wenn es darum geht wohin wir fahren und wo wir bleiben. Weder Bewertungssternchen im Netz zu Erholungsorten und einsamen Eiscafés, noch die Lektüre von Beschreibungen oder das Betrachten von Panoramabildern sind hilfreich, wenn der Geist nach Entspannung dürstet. Alles, und noch viel mehr wissen zu können staut sich auf in einer Erwartungs- haltung, die wohl selten erfüllt wird. Vorab gedruckte Listen von Sehenswürdigkeiten, die das Tempo von Schritt und Weiterfahrt diktieren, erinnern an Büroalltag, nicht an Urlaub. 

Wie in jedem Jahr fahren wir los ohne eine einzige Hotelbuchung im Voraus und auf der To-Do-Liste finden sich allenfalls gutes Essen, Wein, Wellen und das ein oder andere Mikrodrama. Disput und Drama ereignen sich nie aufgrund der Logis und Kost, denn nach einer kleinen Runde durch den Ort hat sich bislang an jeder Station etwas Hübsches gefunden. 

Es mag sein, dass einem Politiker eine halbwegs gute Website dienlich ist, ein kleines Hotel braucht sie nicht zwingend, und seine Gäste diese umso weniger, wenn sie nur einen Hauch von Abenteuerlust mit auf die Fahrt nehmen. In einem Pauschalurlaub warten als Nervenkitzel bloß die Salmonellen vom Buffet und der Sex mit dem Animateur. Seiten im Netz, die nicht erzählen, sondern um etwas werben, verlieren sich oftmals in zarter Selbst- verliebtheit, deren ungeschminktes Gesicht nur halb so verlockend ist. Auf der anderen Seite gelingt es bescheidenen Websites von charmanten Unterkünften oft nicht zu verraten, dass sie hinter ihrer Pforte ein kleines Gottesreich in Frankreich verstecken. Ein Plausch und ein Lachen an der Rezeption und eine tief und zufrieden schlummernde Katze im Fenster des Eingangs jedoch täuschen nie. Hier werde auch ich gut schlafen.

Ob man in einer “Ville Internet” die wahren Schätze nur online bergen kann?
Die Perlen des Internets gedeihen nicht, ohne dass in China ein Sack Reis umfälllt. Verfolgt man die Diskussionen über “digitale Öffentlichkeit” in den letzten Wochen, scheint es Menschen zu geben, die in einer rein digitalen Öffentlichkeit blühende Landschaften zu erkennen vermögen. Vielleicht ein wenig Efeu, an der ein oder anderen Hauswand. Doch das zu erwartende Ergebnis – ob nun verpixelt oder nicht – changiert in Grautönen.

Und so löst die Debatte um Google Street View aus, dass ich das erste Mal gedanklich mit Ulf Poschardt in einem Tretboot durch den Wannsee schippere, denn auch ich erkenne in der Abbildung von Deutschland in Fassaden einen ästhetischen Irrsinn, nicht nur, weil Häuser mitunter unheimlich hässlich sein können, sondern da die Langeweile, die ihre Aufzeichnung in mir erweckt, nahezu erdrückend ist. 

An den Anblick des ersten Gemäuers in Google Street View werde ich mich ebenso wenig erinnern wie an den ersten Porno, der mir im Netz begegnete. Andenken für Herz und Hirn entstehen anderswo. Brennnesselstiche, ständig verstauchte Knöchel und matschige Stiefel: an die Aussicht von meinem ersten Baumhaus aus erinnere ich mich haargenau.

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Die Bewohner der “Ville Internet” haben die Blumen auf ihren Balkonen nicht gepflanzt, um mit einem liebevollen Arrangement über Google Street View ihr Städtchen besser zu vermarkten. Das Schild, das ganz selbstverständlich neben all den anderen Wegweisern steht, die durch die Stadt führen, verrät, dass die Bewohner der “Ville Internet” sich darauf besonnen haben, dass das Netz ganz wunderbar, doch lediglich punktuell von Relevanz, Nutzen oder Gefahr ist. Gleich über der Hinweistafel weist ein Schriftzug Richtung Strand. Ein anderes Schild zu Sommersprossen, sandigen Tagträumen und Erinnerungen jenseits von Fotos.