Thue ich es gern / warumb / daß ich mich dann beklage ?
Blättert man in einem mit grobem, waldgrünen Stoff bezogenen Fotoalbum, in dem meine Eltern mein kindliches Treiben durch die Linse einer Spiegelreflexkamera festhielten, findet man dort auf Seite sieben ein fotographisches Dokument, das noch heute für mein Verhältnis zum Fernsehen steht: mit einem hölzernen Kochlöffel stehe ich vor dem flimmernden Fernsehgerät und versuchte ihm mit meinem Drumstick ein wohlklingenderes Geknister zu entlocken. Was bei einem Xylophon funktioniert, muss doch der schwarze Kasten auch können! 25 Jahre später funktioniert dieser Trick noch immer nicht. Eine überfütterte Palette verschiedenster Fernsehsender schmückt das Buffet, auf anorektischen Bildschirmen kann der Blick tief in hochauflösende Aufnahmen vom Meeresgrund tauchen, sorgfältig barbierte Moderatoren ergründen Politskandale, während sie sich auf einem aalglatten Ceranfeld den dritten Stern erkochen. Dennoch schmeckt das Fernsehen heute vergilbter als die Anmutung des betagten Fotos meines Löffelkonzertes.
Das Fernsehprogramm lässt uns keine Wahl: man kann den Fernseher ausschalten, oder auswandern.
Ein großer Fernseher ist kein Statussymbol mehr, auch als Kaminfeuer hat er ausgedient. Für Medienkonsumenten, deren zentrales Informationsmedium das Internet ist, zappelt die Bewegtbildunterhaltung zwar weiterhin auf einem Bildschirm, doch von deutschen Sendern gestaltetes Programm spielt dabei immer seltener eine Rolle. Wer am Abend abschalten möchtet, schaltet den Fernseher ab – und das Netz ein. Junge Fernsehzuschauer zappen nicht vom Sofa aus durch die Programme, sie liegen mit dem Laptop auf ihrem Bett. Diese German Gemütlichkeit ist netzgemacht.
Doch Zuschauer, die sich vom Fernsehen abwenden, da das Programm ihre Interessen und Vorlieben nur noch in Form strikter Magerkost abspeist, wenden sich nicht von den typischen Präsentationsarten des Fernsehens ab. Serien und Dokumentarfilme, sogar Nachrichtensendungen und politische Talkshows werden neben den Kurzformaten auf Youtube im Netz gesucht, geladen und konsumiert. Ein beträchtlicher Anteil dieser Formate stammt jedoch nicht aus den immer dünner und dümmer werdenden Mediatheken heimischer Sender. Die Beliebtheit teurer amerikanischer und britischer Produktionen im Bereich der Kinofilme hat sich auf die Nachfrage nach Fernsehserien des englischsprachigen Marktes übertragen. Die Ungeduld, mit der das Publikum ab Bekanntwerden der Dreharbeiten auf ein Filmwerk wartet, gilt für Episodenstücke ebenfalls. Doch wo der Filmvertrieb des Kino in Deutschland mit den amerikanischen Blockbustern zum einen deutsche Zuschauer erreicht und Geld einspielt, ignorieren Programmdirektoren der heimischen Fernsehsender, dass ihr Zielpublikum Teil einer internationalen Informationsgesellschaft ist, die Sprachbarrieren und Grenzen der Legalität nicht aufhalten, wenn sie an Hype und Genuss hervorragender TV-Produktionen partizipieren wollen. Dieses Publikum will das gesamte Unterhaltungswerk sofort.
Mad Men, ein mit Preis und Lob überhäuftes amerikanisches Glanzstück, das in diesem Herbst bereits in die vierte Staffel ging, kommt drei Jahre nach dem Start der Serie endlich ins deutsche Fernsehen. Doch der neue Heimathafen des filmischen Romans über eine Werbeagentur im New York der 60er Jahre ist der digitale Kanal ZDFneo. Der öffentlich-rechtliche Sender will über diesen Kanal Menschen erreichen, die nicht mehr fernsehen. Doch die so charakterisierten Berieselten sehen durchaus fern: der Blick schweift über den Ozean und er richtet sich nicht nach festen Sendezeiten. Die korrekte Beschreibung des jungen Digitalprogramms für diese Zielgruppe müsste lauten: gemacht für Menschen, die das Angebot deutscher Sender vollständig ausblenden. Für große Teile des von ZDFneo anvisierten Publikums existiert das Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, aber vielfach auch das der Privatsender nur noch in der Erinnerung an das Schauen von Trickfilmen im Kindesalter. ZDFneo kommt zu spät, um diese teils jungen, teils etwas älternen Menschen wieder an die Programmgestaltung des Fernsehens zu binden. Fast wirkt die Platzierung kluger Serien in einem versteckten Kanal wie das Bekenntnis der Furcht, man könne Gutes nicht auf dem Hauptsender platzieren, da sich die Zuschauer an die Qualität gewöhnen würden. Mit ein wenig Glück sorgt nun die eigentliche Zielgruppe von ZDFneo dafür, dass auch die Zuschauer des Hauptprogramms sich vom Blödsinn entwöhnen und von der Entdeckungsreise im Jugendkanal nicht mehr zurückkehren. Junge Serienjunkies geben die Droge an Ältere weiter: “Endlich können meine Eltern die Serien sehen, über die ich ihnen schon so oft erzählt habe.”
Doch vielleicht sind diese Familien sogar schon zuvor auf das gemeinsame Schauen von Serien ausgewichen, die sie über das Internet in ihre Wohnzimmer holen. Nach einem langen Tag und einem gemeinsamen Abendessen kann man sich mühelos von der Prime Time entkoppeln, die auf die Minute genau ihr Publikum herbeizitiert. Kein anderes Medium als das Fernsehen verlässt sich so auf einen stets gleich getakteten Alltag seiner Konsumenten und richtet sich derart träge darauf aus, sich an neue Realitäten des Lebens anzuschmiegen. Die globale Orientierung und das mühelose Verfolgen von Medienangeboten in Fremdsprachen ist keine Vergnügungsnische der Zwanzigjährigen. Die Alterspanne reicht bis zu den Erwachsenen, die gerade Fernsehregeln für ihre Kleinkinder aufstellen oder ihren Zögling ins Studium entlassen haben. Bisweilen scheint es, dass insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten auch diese Entwicklung ohne ein Wimpernzucken in Kauf nehmen. Ihre Unbeweglichkeit ruht sich auf dem Wissen um die demografische Entwicklung aus, die das Höchstalter ihrer Zielgruppe weiter nach oben treibt. Hundert werden die Herrschaften allemal. Mit ihnen altern Florian Silbereisen und Johannes B. Kerner. Man hofft auf lebenslanges Lernen und ahnt etwas anderes.
Für viele der beteiligten Moderatoren, Talkgäste, ja sogar Schauspieler mag es in der Rückschau ein Segen sein, dass ihre Auftritte in Sendungen der öffentlich-rechtlichen Programme im Internet nicht mehr abrufbar sein werden, da der 12. Rundfunkstaatsvertrag ihnen die Existenz im Netz nur für eine winzige Weile erlaubt. Die Elefantenrunde des Bundestagswahlabends im Jahr 2005 ist immerhin in einem Stück über die Geschichte der Elefantenrunden abrufbar. Dass dieser Beitrag noch online steht, deutet daraufhin, dass er als zeitgeschichtlicher Beitrag eingestuft wurde. Doch das Überlebenslabel der zeit- und kulturgeschichtlichen Bedeutung, dass Beiträgen eine unbegrenzte Lebensdauer in den Mediatheken verspricht, greift nur bei wenigen Sendungen. Ein Großteil des kulturellen Gedächtnis des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, darunter auch Reportagen die ausnahmslos Archivmaterial von Gesellschaft, Kultur und Umwelt schaffen, verschwindet im Kühlfach der Depublikation.
Die Politik sollte beunruhigt sein, insbesondere die publizierenden Gattinen. Wo die biederen, wo die harmlos unterhaltenden, wo die spannend edukativen Inhalte nach Ablaufdatum abtauchen, ist mehr Raum für die Ablenkung mit leicht auffindbaren pornographischen Videos, Musikclips entfesselter Popsternchen und den Traum vom tv-gemachten Superstar.
Die Herbstsaison hat den Protest in Mode gebracht; die Vernichtung von Fernsehbeiträgen durch ihre Erschaffer, die Abschaffung des Fernsehens durch die Ignoranz ihrer Vorsteher, die lieber Blödsinn senden als etwas zu wagen, ist keinem Demonstrant die Straße wert. Der zivile Ungehorsam auf Tauschbörsen und Streaming-Diensten sieht gleichgültig davon ab, das Abendprogramm eines letzten Blickes zu würdigen. Grabreden für das deutsche Fernsehprogramm werden dafür täglich auf Twitter verfasst. Einige wenige Sendungen, darunter der Tatort, Trashformate wie “Schwiegermutter gesucht” und “Bauer sucht Frau” sowie der unvermeidliche Thomas Gottschalk erfahren zur Sendezeit auf dem Mircobloggingdienst hunderte Kommentare, die offenbaren, dass eine Sendung nicht mehr geschaut, sondern nur noch zerpflückt wird. Den Sendungen wird durch die verspottende Sezierung im Netz die zeit- und kulturgeschichtliche Bedeutung geraubt: sie sind Gegenstand einer satirischen Debatte, der durch einen Blumenkübel jederzeit ersetzt werden könnte.
Die meisten prestigeträchtigen Serien der amerikanischen Sender werden wir im Fernsehen vermutlich niemals zu Gesicht bekommen. Wie ein weiteres Stück Satire klingt es dann, dass der vernarrte Beifall des Feuilletons, das die Serien als große, tragische Literatur beschreibt, nur von den Freunden des Downloads geteilt werden kann, deren Heimat doch Hirn und Kultur zerstört.