Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Verloren auf der Suche nach der Zeit

Gar nicht so wenige Leute, die ich kenne, befürchten, das Internet würde ihre Zeit auf Erden vernichten wie es sonst bloß Tod und Liebe vermögen. Diese Leute haben sich meist dem Geist der Zeit so weit gebeugt, dass sie eine Mailadresse haben, aber Facebook und Konsorten meiden sie wie die Pfarrerstochter das Heroin. Sie haben schließlich zu tun, das Leben wartet nicht und der Doktorvater erst recht nicht. Und hat jemals ein Mensch mit echtem Erfolg im Leben darüber auf Facebook geschrieben?

Der Komödie zweiter Teil. (Der erste befindet sich hier)

Für den folgenden Artikel werden Sie mehr Zeit benötigen als Sie haben. Sie werden ihn daher nur überfliegen. Er ist zu lang, er passt nicht in die Zeit, vor allem nicht in Ihre.

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Gar nicht so wenige Leute, die ich kenne, befürchten, das Internet würde ihre Zeit auf Erden vernichten wie es sonst bloß Tod und Liebe vermögen. Diese Leute haben sich meist dem Geist der Zeit so weit gebeugt, dass sie eine Mailadresse haben, aber Facebook und Konsorten meiden sie wie die Pfarrerstochter das Heroin. Sie haben schließlich zu tun, das Leben wartet nicht und der Doktorvater erst recht nicht. Und hat jemals ein Mensch mit echtem Erfolg im Leben darüber auf Facebook geschrieben? Längst steht die Zeit auf der Liste der bedrohten Arten. Und das, obwohl sie sich häufig so bedrohlich ausdehnt. Denn das ist die andere Seite des Phänomens der verschwindenden Zeit – oft ist sie gar nicht totzukriegen. Nun hilft das Netz dabei, der schrecklich adipösen Zeit ein paar Pfunde abzuringen, gleichzeitig würden die meisten Netzangebote vermutlich gar nicht existieren, würden sich die Menschen in ihrer Arbeitszeit nicht so schrecklich langweilen.
Es fällt schwer, sich eine Partie Farmville vorzustellen, ohne dabei an einen angeödeten Angestellten zu denken, der mit letzter Kraft Kühe hin und herschiebt.
Und was wäre Twitter, wenn die Nutzer, statt zu behaupten, etwas zu tun, tatsächlich etwas täten? Mein Freund Kasimir sagt, der Tweet „Ich habe gerade Spaß“ sei die denkbar größte Lüge. Angemessen wäre dagegen: „Ich hasse meinen Job!“, „Alles wäre mir lieber als jetzt diese Akte zu lesen!“, „Ich lese jetzt schon Tweets von letzter Woche und es sind immer noch drei Stunden bis zur Mittagspause“. Die ehrlichste Haut auf Twitter wäre demnach ein junges Mädchen (der Username legt nah, dass sie 1992 geboren wurde), deren Tweets der vergangenen Wochen folgendermaßen lauten:
Chillen,langeweile & soo…geht heute noch was? Scheiß laune -.-
Im Bett…chillen,musik !…
Später duschen & sonst?
Chillen&soo…gleich duschen….  
Chillen & Filme gucken oder so…  
Im Wohnzimmer Tv’n …ab&zu am pc ;)..also falls was gaaanz wichtiges ist=Handy!
Chillen&langeweile..
Schlafen…wwi handy!
Popstars gucken :P Gleich irgendeinen Film gucken & dann schlafen :) Morgen arbeiten&dann wochenende *-* “I don’t need a man” 

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Der perfekte Mord, erklärte Ferdinand von Schirach kürzlich im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, sei der, der gar nicht entdeckt werde. Und so bringt man die Minuten des Tages auch am besten in die ewigen Jagdgründe, wenn niemand es bemerkt, vorzugsweise nicht einmal man selbst. Aber bevor wir den Homo Twitterensis veruteilen, werfen wir doch lieber einen Blick in die Literatur. Robert Musil schreibt in „Der Mann ohne Eigenschaften“, dem großen Zeitenwenderoman:„Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich (…) eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut. “ Welche ungeheure Leistung vollbringt dann erst ein Mensch, der heute einen halben Tag vor dem Rechner sitzt und Zeit vergeudet? Man muss sich den modernen Nichtstuer als einen Menschen mit einer enormen Aufgabe vorstellen. Amerikanische TV-Sender senden unablässig äußerst sehenswerte Serien in die Welt, von Deadwood bis Damages, von Hung bis House, von Mad Men bis Mind of the Married Men. Wann die alle schauen? Presseagenturen tickern News und Newsartiges in das, was früher Äther hieß, Paparazzis liegen hinter jedem Stein an jedem Ort der Welt außer Mönchengladbach und schießen jeden, der schon einmal irgendwo medial sichtbar war, also beinahe jeden, ab, laden die Bilder mit ihren mobilen Exekutionsmaschinen direkt auf ihr eigenes Jagdblog oder verkaufen sie an Bild, Gala, InStyle, InTouch, InZest, Vanity Fair und die Bunte, auch die Fotos der Leserreporter wollen gesichtet, die Partyberichte der Freunde auf Facebook nach Schwachstellen untersucht werden, jede Buchmesse spuckt ein rundes Hunderttausend an neuen Büchern auf den Markt, jeder Mensch mit Garageband ist eine Band und jeder Friseurmeister hat mehr Musik auf seinem mp3Player als Mozart im Kopf. Apropos Kopf: Da geht er hin.

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In einem Kommentar zu dem ersten Beitrag dieses Blogs erinnerte der Leser HansMeier555 daran, dass im Wendejahr 1990 die Ostdeutschen ein Problem damit gehabt hätten, „dass die Westzeitungen alle so unglaublich dick waren. Viele sollen ein Wochenende damit verbracht haben, FAZ und ZEIT von vorne bis hinten durchzulesen um hinterher empört festzustellen, dass sich das ja nicht wirklich gelohnt habe.“ Westdeutsche wiederum, die sich (so zumindest meine Erinnerung) in den USA so fühlten wie Ostdeutsche in Westdeutschland, berichteten fassungslos aus Übersee, „dort gebe es 13 Kanäle, und das auch noch gebührenfrei! Wer soll das alles gucken? Wie kann man da nur den Überblick behalten?“ HansMeier555 schließt: „Tatsächlich scheinen Medien auf Menschen so was wie einen moralischen Druck auszuüben, sie vollständig zu konsumieren…“ Wenn es auch ironisch gemeint ist, so stimmt es dennoch: Dieser moralische Druck existiert. Und wo moralischer Druck besteht, sucht der Mensch nach Auswegen. Ein häufig beschrittener Ausweg ist Interpassivität. Man lässt den Feedreader an seiner Stelle lesen, den Videorecorder Filme konsumieren, die Festplatte Erotisches verarbeiten, die Gebetsmühle beten, das Lachband aus den Sitcoms stellvertretend lachen, den Ich-nehme-teil-Button Events besuchen. Der Genuss wird delegiert. Man spart so eine Menge Zeit und hat doch das befriedigende Gefühl, nichts verpasst, alles erledigt zu haben. Ich werde nun dem Laub dabei zusehen, wie es aufwirbelt. Oder ich stelle eine Videokamera auf, die es für mich filmt. Und während ich das tue, delegiere ich das Denken an die übriggebliebenen Leser. Hat sich Musils Zukunftsvision einer modernen Stadt erfüllt? „Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmengen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern (…) spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder.“