Das schöne am Internet ist, dass es uns auch mit Auffassungen und Sichtweisen in Berührung bringt, mit denen wir im normalen, analogen Dasein vielleicht nicht unbedingt konfrontiert wären. In den unendlichen Weiten des WWW lesen wir beispielsweise von Zeitgenossen, die ernste Zweifel daran äußern, dass die Mondlandung je stattgefunden hat. Andere sichten ständig schwarze Helikopter und empfehlen das Tragen von Stanniolhütchen, um sich vor den Gedankenkontroll-Strahlen der Geheimdienste zu schützen. Und auf den ersten Blick mutet es kaum weniger exotisch oder weit hergeholt an, was neuerdings in bestimmten netzaffinen Kreisen unter dem Stichwort Post-Privacy ventiliert wird: Nichts geringeres als das Ende der Privatsphäre, wie wir sie kennen, wird hier zur Positiv-Utopie oder zumindest zum erstrebenswerten Zustand umgedeutet. Die Post-Privatisten hoffen dabei salopp gesagt auf Effekte wie am FKK-Strand: Wenn jeder seine private parts zeigt und angestrengt so tut als wäre es das normalste von der Welt, vielleicht stellt sich dann tatsächlich so etwas wie Ungezwungenheit ein.
Offensichtlich ist jedenfalls: Das traditionelle Verständnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit erodiert – und zwar schon seit längerem. Blogs, Twitter, Facebook und andere Internet-Schaukästen des Individuums schreiben nur einen Trend fort, den sich auch Reality-Shows wie “Big Brother”, die Nachmittag-Talkshows sowie die ganzen Casting- und Talentsuche-Formate im Fernsehen zunutze machen. Das Bedürfnis vieler Menschen, mehr von sich preiszugeben als es noch die Elterngeneration hinter ihrer Ado-Gardine mit der Goldkante tat, ist evident. Verschärfend kommt hinzu, dass das moderne Leben immer mehr auswertbare Datenspuren erzeugt, ob das unsere Einkäufe mit EC-Karte und Payback-Rabattprogramm sind oder im Extremfall das sogenannte Scoring-Verfahren der Schufa, bei dem die Kreditwürdigkeit von Kunden auch anhand von diversen externen Faktoren wie Wohngegend und dergleichen errechnet und bewertet wird. “Die gegenwärtige Daten-Explosion und Erosion des Privaten lässt sich als Bedrohung oder als Chance begreifen”, sagt Christian Heller, einer der radikalsten Post-Privacy-Propheten. Und er plädiert ganz klar für Chance. Nach dem Motto: Die Daten sind nun mal da draußen, und wir kriegen sie auch genauso wenig aus der Welt wie sich Zahnpasta zurück in die Tube zwängen lässt. Treten wir das ganze Konzept von Privatheit und Datenschutz doch am besten gleich in die Tonne – und andere Schutzrechte wie Urheberrechte und was den freien Datenfluss sonst noch hemmt gleich mit.
Aber wie soll denn die totale und offensive Offenheit des Individuums in eine bessere Gesellschaft führen? Die 68er mit ihrer Parole „das Private ist politisch” haben die Richtung vorgegeben: Öffentliche Bekenntnisse wie „Wir haben abgetrieben” oder das Coming-Out vieler Homosexueller aus der Heimlichkeit trugen sicher dazu bei, das muffige gesellschaftliche Klima der Nachkriegszeit zu verändern in Richtung mehr Toleranz und Laissez-faire. Der US-Internetguru Jeff Jarvis wird auch nicht müde zu betonen, welch positives und aufbauendes Echo sein offensiver Umgang mit einer Krebserkrankung an seinen, ähem, private parts zeitigte. Aber muss man deswegen gleich so weit gehen, aus der Preisgabe privater und intimer Sachverhalte eine neue Ethik zu stricken, nach der das Zurückhalten privater Daten eine Form von Egoismus sei, wie es Michael Seemann (einst auch Blogger im Dienste dieser Zeitung) in seinem Vortrag „Das radikale Recht des anderen” postuliert? Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Urteil zur Volkszählung formuliert hat, ist so eine Ethik jedenfalls wenig bis gar nicht vereinbar. Auf die Spitze getrieben ließe sich so ein kategorischer Imperativ auch dahingehend ausweiten, dass meine Frau und ich Millionen potenziell interessierter Zugucker über 18 Jahren um ihren legitimen Lustgewinn bringen, wenn wir den körperlichen Vollzug unserer Ehe auch künftig nicht vor einer laufenden Webcam zelebrieren.
Das scheint weit hergeholt – und so wäre das ja gar nicht gemeint gewesen? Mag sein, aber wer könnte garantieren, dass ein sozialer Druck zu immer weiter gehendem Datenstriptease vorher zum Erliegen kommt? Warum dann nicht auch gleich prophylaktische Massengentests ohne Anfangsverdacht und mit der vagen Aussicht, dass jemand in ferner Zukunft aus dieser Datenbasis vielleicht ein wirksames Mittel gegen Krebs destilliert? Und wo sollte das vermeintliche Recht des anderen denn dann enden, wenn eine Kontrolle meiner Daten durch mich selber nicht mehr erwünscht und auch technisch kaum noch machbar ist? Das Problem, das ich (und sicher nicht ich alleine) mit dieser Utopie der Post-Privacy habe, ist, dass sie erhebliches Risiko in sich birgt, die Gesellschaft in einen zwangsbasierten Dotcommunismus zu transferieren, in dem der einzelne gar nicht mehr gefragt wird und der Druck, sich komplett konform zu verhalten, enorm ansteigt. Wenn im Zuge der Debatte um Google-Street-View selbsternannte Aktivisten nicht nur daran gehen, verpixelte Hausfassaden abzulichten uns ins Netz zu stellen, sondern auch schon Eier gegen Hauswände werfen, die bei Googles Gassenglotze nicht zu sehen sind, dann erinnert das schon fatal an die FDJ- und Jungpionier-Pimpfe, die DDR-Bürgern kurz nach dem Mauerbau aufs Dach stiegen und die auf Westsender ausgerichteten Antennen kappten.
Mag sein, dass die Vertreter dieser Ideen den Konformitätsdruck nicht sehen, den totale Transparenz erzeugt, aber das heißt nicht, dass er keine Bedrohung darstellt. Zu der ZDF-Sendereihe „Datenschatten” aus dem Orwell-Jahr 1984 gab es auch ein Begleitbuch, und auf dessen Cover mahnt uns folgender Umschlagstext:
Stell Dir vor, Du müsstest Dich in Deinem Privatleben so bewegen wie in einem Betrieb mit einem funktionierenden Zugangskontrollsystem, mit maschinenlesbaren Werksausweisen, und es würde ständig gespeichert, durch welche Tür Du gehst, wie lange Du Dich aufgehalten hast – selbst wenn nie etwas Unrechtmäßiges mit diesen Daten getan wird, allein das Bewusstsein, dass Du Dich nicht mehr frei bewegen kannst, das Wissen darum, dass das alles festgehalten wird über sehr lange Zeiträume, wirkt sich verheerend aus auf das Minimum an Persönlichkeit aus, das Du noch hast.”
Sicher – die Möglichkeit, dass ein gutes Vierteljahrhundert später ein Häufchen von Netzradikalisten den Exhibitionismus auf die Spitze treiben könnte und sich dabei als Avantgarde fühlt, hat man seinerzeit nicht voraussehen können. Und noch weniger, dass die Betroffenen diesen zunehmenden Mangel an kohärenter Persönlichkeit auch noch gleich mit dem nächsten trendigen Buzzword adeln – der sogenannten Post-Identity. Aber dazu kommen wir später.
Links:
https://blog.zdf.de/hyperland/2010/11/postprivacy-verlust-der-privat.html
https://www.ennomane.de/2010/11/28/postprivacy-my-ass-von-der-utopie-des-perfekten-filters/
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