Mancherorts wird noch mit Knüppeln gekämpft, in den USA hingegen tobt seit Jahren ein erbitterter Kampf um Waffengesetze. Mit Argumenten und Pseudo-Argumenten.
Es gibt Fernsehsendungen über junge Leute, die für einige Monate oder ein Jahr ins Ausland gehen. Gymnasium in Argentinien, Walbeobachtungsstation in Südafrika, Überlebenscamps im Dschungel von Malaysia – alles ist möglich.
Vor zehn Jahren war schon ein Austauschjahr in den USA oder Kanada eine große Angelegenheit, und natürlich wollte jeder am liebsten nach Kalifornien, Florida oder New York. Oder zumindest irgendwo an die obere Ostküste. Wäre damals allen deutschen Schüler ihr Wunsch erfüllt worden, sie hätten vermutlich die Hälfte aller High-School-Schüler in Kalifornien und an der Ostküste gestellt. Tatsächlich landeten die meisten in Käffern im Mittleren Westen oder den Südstaaten, fern der westlichen Zivilisation – der Kulturschock hätte in Bangladesh nicht größer sein können. Texas war noch vergleichsweise ein Glückstreffer.
Was man damals akut bedauert hat (weder Sunshine State noch metropolitan flair), war im Nachhinein vermutlich die sehr viel wertvollere Erfahrung. Wie in so vielen Ländern sind nämlich die lautesten Medien auch in den USA nicht immer repräsentativ, und wer verstehen will, warum so viele Amerikaner GW Bush ein zweites Mal wählten, und warum es Charlton Hestons Ansehen nie abträglich war, Präsident der „National Rifle Association” (NRA) zu sein, der muß sich im Hinterland umsehen, nicht an den Küsten. Im Hinterland wird nämlich allergrößter Wert gelegt auf die Unantastbarkeit des zweiten Verfassungszusatzes: „the right to bear arms”.
Im Hinterland sind Cowboystiefel und fette Gürtelschnallen keine modische Peinlichkeit, sondern ein verbreitetes Accessoire, und die Mitgliedschaft in der NRA ist noch verbreiteter als bei uns der ländliche Schützenverein. In der schönen neuen Web 2.0-Welt nutzen die Anhänger ganz neue Arten, ihren politischen Vorlieben Ausdruck zu verleihen. Ein Beispiel dafür ist die Seite der „Gunowners of America” bei Facebook, die offenbar reissenden Zulauf erhält. Das ist eine der Situationen, wo ich mir sehr ernsthaft einen Dislike-Button wünsche, aber in Ermangelung eines solchen äußere ich mich hier. Die GOA auf Facebook nämlich hat freundlicherweise einen Factsheet zusammengestellt, der nachweisen soll, warum Waffen eigentlich gut sind. Wollen wir mal sehen, wie haltbar das ist.
Concealed carry laws have reduced murder and crime rates in the states that have enacted them. According to a comprehensive study which reviewed crime statistics in every county in the United States from 1977 to 1992, states which passed concealed carry laws reduced their rate of murder by 8.5%, rape by 5%, aggravated assault by 7% and robbery by 3%.
Die Hypothese ist also, daß Gesetze, die erlauben, Feuerwaffen im Alltag mit sich zu führen (auf Lizenz) die Kriminalität gesenkt haben in den Staaten, die solche „concealed-carry laws” einführten.
Die oben zitierte, bahnbrechende Studie über fast 70 Seiten dreht eine Unmenge Daten durch eine noch größere Unmenge von Methodenvarianten und kippt über dem Leser derart viele Informationen aus, daß man überwältigt zurückbleibt. Eigentlich muß man aber die 70 Seiten gar nicht durcharbeiten. Der Anspruch, solche Gesetze hätten kausal Kriminalität gemindert, kann beim aktuellen Stand der Forschung gar nicht korrekt sein. Da Laborexperimente bei solchen Sachverhalten nicht möglich sind, kann man nur Alltagsdaten mathematisch auswerten, und keine Methode der Welt kann derzeit eine solche Kausalität nachweisen. Jedenfalls nicht mit der brachialen Gewissheit, die aus den obigen Worten quillt. Hier werden Korrelation und Kausalität verwechselt. Wie auch die detaillierte Lektüre zeigt.
Die Autoren geizen allerdings nicht mit Informationen. Mehrere Fragen werden abgearbeitet, an deren Ausgangspunkt neue Gesetze stehen, die es Bürgern erlauben, auf Antrag ihre Feuerwaffen auch im Alltag mit sich zu führen. Die Autoren schätzen mit Daten aus den gesamten USA (Staaten, die solche Gesetze einführten im Vergleich mit jenen ohne), wie sich die Häufigkeit diverser Straftatentypen nach Einführung des Gesetzes geändert hat. Wo sie schon mal dabei sind, schauen sie auch gleich, ob die Wahrscheinlichkeit, gefasst zu werden, und die durchschnittliche Strafdauer bei Verurteilung Auswirkungen auf die Häufigkeit der Straftaten haben. Mithilfe zusätzlicher Daten quantifizieren sie auch noch die Kosten der Straftaten bzw. der Nichteinführung solch wundervoller Gesetze und berücksichtigen das politische Umfeld (wie konservativ, sprich republikanisch, der jeweilige Staat war). Bei sovielen Variablen, Zusammenhängen und Kombinationsmöglichkeiten verliert man schnell den Überblick, aber erfreulicherweise weisen ausnahmslos alle Ergebnisse darauf hin, daß mehr Waffen nur gute Effekte haben, das macht die Orientierung viel einfacher. Vor allem die unzähligen Variablen machen es schwierig, die geschätzten Werte in monströs großen Tabellen zu durchschauen. Mir ist noch immer nicht ganz klar, ob und welche Einflußfaktoren des Umfelds berücksichtigt wurden. Demographische Unterschiede (wie Alter, Einkommen, Hautfarbe) werden teilweise berücksichtigt. aber so ganz durchschaut habe ich das Konzept immer noch nicht.
Besonders interessant ist natürlich die Kostenveranschlagung. Prinzipiell ist es zulässig, bei einer guten Schätzung den Effekt zu quantifizieren und in Prozent auszudrücken, wie es die Autoren tun: Die Einführung von „concealed-carry laws” führte zu einer Minderung von 5-7 % der Häufigkeit mehrerer Typen von Straftaten. Das darf man so sagen – wenn man eindeutige Kausalität nachweist, was die Autoren nicht tun. Kein bißchen zum Beispiel beschäftigen sie sich mit der Frage, ob möglicherweise andere, nicht beobachtete Faktoren des Umfelds die Veränderung in der Kriminalität verursachen. Diskutiert wird zum Beispiel in der Literatur, daß Baby-Boom-Effekte zu mehr Straftaten führen. Möglich wäre auch, daß verstärkte Polizeipräsenz oder andere Sozialgesetze Einfluß nehmen. Nehmen wir jedoch einen Moment an, eine solche Kausalität sei klar nachgewiesen. Dann ist es immer noch nicht korrekt, davon auszugehen, daß eine Minderung von 5-7 % der Straftaten in den beobachteten Staaten mit „concealed-carry laws” in den anderen Staaten ebenfalls zu 5-7 % Rückgang führen würde. Da es sich um andere Staaten handelt, kann das keinesfalls einfach übertragen werden. Als dritte Schlampigkeit Daten aus anderen Quellen heranzuziehen, die den „value of life” berechnen (also die volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsverluste aus Straftaten) und daraus zu schließen, die Nichteinfährung von „concealed-carry laws” in manchen Staaten hätten die USA 5.000 Millionen USD gekostet, ist schon sehr weithergeholt.
In einem Nebensatz, gänzlich aus dem Zusammenhang gerissen, widmen sich die Autoren auch noch dem „Brady Law” (einem Paket von strengeren Waffenkontrollgesetzen aus den 90er Jahren), weil ein einziger Koeffizient für eine einzige Straftatengruppe statstisch signifikant war – demzufolge hätten Waffenkontrollgesetz zu 24 % mehr gewalttätigen Überfällen geführt. Solch ein Nebenprodukt ihrer Schätzungen, das so positiv in ihr Forschungsziel passt, konnten sie vermutlich nicht einfach ignorieren, egal wie zufällig und singulär.
Der Höhepunkt wissenschaftlicher Schlamperei und Nachlässigkeit sind jedoch die Formulierungen in der Zusammenfassung, die tatsächlich suggieren, die Gesetzgebung hätte direkt und unmittelbar zu – netto – weniger Straftaten geführt. Kein halbwegs seriöser Statistiker hätte das jemals zu behaupten gewagt, aber seriöse Statistiker waren da wohl auch kaum am Werk.
Sehr löblich im Gegensatz dazu ein anderes, viel zitiertes Paper, das die Waffenlobby ebenfalls – und völlig zu Unrecht – für sich vereinnahmt hat.
CDC admits there is no evidence that gun control reduces crime. The Centers for Disease Control (CDC) has long been criticized for propagating questionable studies which gun control organizations have used in defense of their cause. But after analyzing 51 studies in 2003, the CDC concluded that the “evidence was insufficient to determine the effectiveness of any of these [firearms] laws.”
Zu den hier gemeinten Studien gehört ohne Zweifel auch jenes, das nach Einführung des oben genannten „Brady Law” unter Clinton versucht hat, positive Effekte nachzuweisen. Das „Brady Law” sieht vor, daß Waffenhändler ihre Waren nur noch nach Überprüfung des Kunden und mehrtägiger Wartezeit aushändigen dürfen. Die Autoren gehen sehr sorgfältig vor, nutzen eine anerkannte Methode, prüfen sorgfältig, daß die Voraussetzungen für deren Anwendung gegeben sind und kommen zu dem Ergebnis, daß in den Jahren nach der Einführung allenfalls die Selbstmordrate durch Schußwaffen bei älteren Herrschaften ganz leicht gesunken ist. Genauer: daß die Daten keine Anhaltspunkte bieten, daß nach der Einführung des Gesetzes die Mordraten durch Schußwaffen gesunken seien. Von Kausalität kein Wort, wie es sich gehört, angesichts der komplexen und weitenteils undurchschaubaren Sachlage. Dafür weisen sie in der Zusammenfassung ausführlich darauf hin, daß ihre Daten lediglich den Primärmarkt für Waffen erfassen – nicht jedoch den Sekundärmarkt, auf dem 40 % der Waffengeschäfte getätigt werden. Und wo vermutlich die Mehrzahl der Kriminellen und Straftäter Kunden sind, deren Waffen auch tatsächlich eingesetzt werden.
Zugegebenermaßen habe ich zu dem Thema meine eigenen Ansichten und bin daher sicher nicht unvoreingenommen. Wenn mir jedoch ein Wissenschaftler erzählen will, er hätte das Ei des Kolumbus gefunden auf einem so heiß umkämpften Gebiet, zweifele ich erst einmal. Davon abgesehen würde ich an deren Stelle erst mal entscheiden, ob ich nun 1,5 oder 1,9 oder 2,5 Millionen Fälle von Selbstverteidigung zitiere. Oder ob ich aus der Information, daß die Polizei in 1989 auf 170.000 Gewalttaten nicht innerhalb einer Stunde reagieren konnte, den Schluß ziehe, Waffenlobbyist zu werden. Und nicht etwa Lobbyist für mehr Polizisten.
Dieses Dokument voller absurder und verdrehter Statistiken treibt mir Schauder den Rücken hinunter, nicht zuletzt wegen des Fanatismus, der dabei durchschimmert. Ich plädiere daher für eine mathematische Grundausbildung sämtlicher Fans von GoA.