Das klingt nach Spaß: als einer der großen Internet-Trends der SXSW-Konferenz in Austin gilt “The Gamification of Life” – die Übersetzung von Computerspielen in reale Aufgaben, die soziale Netzwerke und Alltag miteinander verbinden. Folgt auf Kommunizieren, Kommentieren, Protestieren nun das fröhliche Spiel?
In der Mittagssonne von Austin wuselt es. Karohemden, Cowboyboots, Fahrradtaxis, kleine Hunde, Skateboards, vorsichtig tasten sich Autos durch den Menschenstrom rund um den “Austin Convention Center”, am Straßenrand parkt ein Food Truck: “Korean BBQ Tacos”. Der Blick von der Dachterasse des Omni-Hotels auf die texanische Hauptstadt erinnert mich an einen frühkindlichen Kontakt mit dem Computer meines Bruders: auf dem Reißbrett der ersten Simcity-Version pulsierte eine Metropole, die sich Pixel um Pixel über den Bildschirm ausdehnte. Auch Austin wächst vor dem Auge des Betrachters. Die Stadt zählt zu den Orten in den Vereinigten Staaten, die in den letzten zehn Jahren am schnellsten gewachsen sind. Jedes Frühjahr gesellen sich zu den knapp 800.000 Einwohnern mehrere zehntausend Besucher aus aller Welt hinzu, die die Stadt zehn Tage lang rund um die Uhr wach halten werden. Das SXSW-Festival – gesprochen: South by Southwest oder kurz: South by – ist das größte Geek-Treffen der Welt, das von Film, Musik oder Technologie Besessene an einem physischen Ort versammelt. Die heiligen Hallen der Medienkonferenz, die in diesem Jahr ihren 25. Geburtstag feiert, strecken sich über die ganze Stadt aus. Immer verpasst man etwas; oft finden mehr als 20 verschiedene Vorträge oder Workshops zur gleichen Zeit statt. Per Mausklick gelangt man nicht zur nächsten Diskussion. Vom Vortrag “Your Brand Is About to Become Obsolete. Congratulations!” im Konferenzzentrum zur Diskussion im Hyatt Hotel “The End of Shame: or, Getting Over Oversharing” legt man einen 20-minütigen Fußmarsch zurück. So lautet auch ein Tipp im Survival-Guide “Love your feet: you’ll be doing a good amount of walking so comfortable shoes are key. No matter how comfortable, change them once or twice a day to relieve stress points” und entschuldigt somit den zweiten Koffer gefüllt mit Schuhen, der mit auf die Reise muss.
Die Konferenz ist in Bewegung, auf den Rolltreppen in den Gebäuden, von Ort zu Ort in der Innenstadt, auf der digitalen Stadtkarte. Kein anderer Anlass als die SXSW lockt 10.000 Eary Adopter zum gleichen Zeitpunkt in eine Stadt; egal wo sie sich bewegen, sind sie ständig mit dem Internet verknüpft: Smartphones, iPads und die Clubstempel der mobilen Check-in-Dienste gehören zur Grundausstattung der Konferenzbesucher und –besucherinnen. Foursquare, mit über 6 Millionen registrierten Nutzern das größte ortsbezogene soziale Netzwerk, lockte seine Mitglieder in Austin mit neuen Badges – Auszeichnungen für das Nutzerprofil, die man für Check-ins erhalten kann – wie zum Beispiel dem Panel-Nerd-Badge, eines für Hangover oder für Head Banger. Über die spielerische Nutzung sozialer Netzwerke oder für sie eigens entwickelte Spiele hinaus entwickeln sich besonders die mobilen Angebote zu tatsächlichen Spielen, bei denen das Sammeln von Punkten und das Gewinnen von Wettbewerben die Kommunikation mit anderen und das Teilen von Informationen mehr und mehr aussticht.
Seth Priebatsch, der Gründer und “Chief Ninja” von SCVNGR, einer “location-based Gaming Platform”, hielt eine der Keynote-Reden bei der SXSW Interactive um das Phänomen, das als einer der diesjährigen Trends galt: Gamification. Gamification beschreibt dabei nicht, Internetdienste mit mehr Spielen zu bestücken, sondern Webanwendungen, die bisher nicht der Unterhaltung dienten, in ein Spiel zu überführen. Seth Priebatsch ging sogar noch ein Stück weiter. Die Vision des 22-Jährigen, der sein Studium in Princeton zugunsten der Unternehmensgründung abbrach, ist es, die spielerischen Elemente aus der virtuellen Welt in die reale Welt zu übetragen und ihr eine “Schicht aus Spielen” (“Game Layer”) zu verleihen. “Die Dynamik von Spielen ist zu kraftvoll, um sie allein in Spielen zu belassen.” Spielen, das bedeutet bei SCVNGR “Challenges” (übersetzt: Herausforderungen) zu absolvieren und dafür Punkte oder direkte Gewinne wie Rabattgutscheine zu erhalten. Diese “Herausforderung” kann sein ein Foto zu machen oder einen Kommentar in einem sozialen Netzwerk zu verfassen. Klingt das nach Spaß, Spiel und “Next Big Thing”? (Was nach Spaß aussieht: “Angry Birds” im Real Life) Jeden Restaurantbesuch mit der Lösung einer Aufgabe auf dem Smartphone abzurunden, zu joggen, weil ich die Highscore meiner App erneut knacken will, zwar digitaler “Bürgermeister” einer Kneipe zu sein, aber vom Türsteher nicht als Stammgast erkannt werden – die Zukunft von einem spielerischen Leben sieht hoffentlich anders aus. Dass Seth Priebatsch sich in seiner Rede die Frage der Motivation im Schulssystem vorknüpfte, stimmt immerhin hoffnungsvoll. Denn über Formen des E-Learning Schüler im digitalen Aufwachsen abzuholen, ist die eine Herausforderung, die andere ist die, Geeks wie Priebatsch für mehr aktives Engagement in Schulen zu gewinnen, um das Bildungssystem vor Ort zu erneuern.
Im erweiterten Alltag längerfristig und nicht nur für mobilen Zeitvertreib einen Nutzen zu haben, wird ebenso die Entwicklung der Spieleanbieter mitbestimmen. Virtuelle Auszeichnungen (“Badges”) sind schneller vergessen als ein Tennispokal. Gutscheine für Fast-Food-Restaurants überwiegen im wirtschaftlichen Nutzer für die kooperierenden Unternehmen, auf Dauer schafft man damit aber keine Nutzer- und Kundenbindung für Spiel und Marke. Wer erhält nicht lieber ein Freibier vom Barkeeper, weil man seine Freitagabende in der Kneipe seit Jahren treu erbringst, als ein Getränk gegen einen Gutschein, den man ausgedruckt oder auf dem Display vorzeigen muss? Rückblickend auf die eigene Spielegeschichte wird vielen auffallen, dass sie den Brett-, Computer- und Indianerspielen schneller entwuchsen, als den persönlichen Beziehungen entlang des Weges. Die Spannungsdauer von Spielen ist folglich umso begrenzter, wenn die Aufgaben nicht mit den Teilnehmern wachsen und für sie soziale Relevanz besetzen. Ob dies für den Mix von Online-Leben und Spiel auf eine Art und Weise gelingen wie bei einem Teamsport wie Fußball?
Priebatsch glaubt, dass sich auch größere, gesellschaftliche Probleme besser lösen lassen, wenn Menschen auf einem Spielfeld zusammenarbeiten. Ließen sich so die Spenden für die Opfer des Erbebens in Japan erhöhen? Warten wir also auf die App “Start your revolution”? Der Autor und Dozent Clay Shirky relativierte in seinem Vortrag: “Why would we think Social Media is revolutionary” (Audio-Mitschnitt des Vortrages) den Einfluss der sozialen Netzwerke auf die politischen Proteste dieses Frühjahrs im arabischen Raum. Den großen Mehrwert, den das Internet mit sich bringe, nicht nur in der ägyptischen Revolution, sei das Zusammenbringen von Menschen erst online, dann offline, so Shirky: “Wir haben lange die Bedeutung des Zugangs zu Informationen überbewertet, und unterschätzt, was der Zugang zueinander bedeutet. Regierungen haben keine Angst vor informierten Individuen, sie fürchten sich vor synchronisierten Gruppen.” Kommunikation über das Internet sei eine große Stütze, Menschen zusammenzubringen, Vorhaben zu koordinieren und diese zu dokumentieren. Raum für weiteres notwendiges Agieren lassen diese drei Funktionen jedoch zur Genüge. Nicht nur muss der Wille, etwas gemeinsam anzustoßen, zahlreiche demographische Gruppen durchdringen – was über Facebook und Twitter allein nicht möglich gewesen wäre – Kommuniziertes muss vor allem mit Vertrauen belegt sein, was zumeist über persönliche Kontakte geleistet wird. Das Internet könne als Hebel für Bewegungen dienen, nicht aber als tragende Gewalt, glaubt Shirky. Die Protestierenden in Ägypten hätten zudem sich darauf vorbereitet, dass das Internet blockiert werden könnte, und zahlreiche Kommunikationswege rund herum organisiert.
Was passieren kann, wenn ein soziales Netzwerk als einziges Medium genutzt wird und als an sich vertrauensvoll betrachtet wird, erklärte Shirky am Beispiel Sudan. Dort setzte die Regierung eine Facebook-Seite auf, die zu Protesten gegen die Regierung aufrief und Ort und Zeit dafür nannte. Die Bürgerinnen und Bürger, die dort zusammenkamen, wurden an Ort und Stelle verhaftet. Der Grund dafür, dass der Trick der Regierung erfolgreich war, sieht Shirky darin, dass die teilnehmenden Menschen einander nicht kannten. Die Protestbewegung in Ägypten hingegen sei über Jahre hinweg gewachsen und über das Netz hinaus verwurzelt gewesen.
***
Geboren irgendwo auf dem Erdball und dann an vielen Stellen im Netz immer wieder neu als User, wurzeln alle Teilnehmenden der SXSW Interactive gleichermaßen in sonnenbeschienener und technologiegetriebener Welt. Ob die digitale Bürgermeisterschaft an einem bei Foursquare verzeichneten Ort erfüllender ist als die Wahl zum Klassensprecher, ob virtuelle Nähe uns weniger berührt als eine tatsächliche Affäre, ob Kunst entwertet wird, wenn man das Museum am Bildschirm besucht oder das Stöbern im Netz vielleicht auch auf den Straßen mehr Neugierede produziert – all diese Fragen bringen keine neuen Erkenntnisse über den Ist-Zustand der digitalen Gesellschaft, in der die Grenzen von Offline und Online längst nicht mehr vorhanden sind. Der Zauber des Unentdeckten ist vorbei, die Konfliktlinien sind überzeichnet.
Ein paar Dutzend Teilnehmer der SXSW kampieren vor dem temporären Apple-Store in Austin, der den Ansturm auf das während der Konferenz neu erscheinende iPad 2 abfedern soll. Ein paar tausend andere tun dies nicht. Sie kaufen es, wenn die Wartezeiten kurz sind, oder eben gar nicht. Das Publikum der Konferenz ist ein Abbild der digitalen Gesellschaft, quer durch alle denkbaren demografischen Kategorien. Sie definiert sich nicht über Gadgets, nicht über eine spezielle Nutzung des Netzes, nicht über eine Flucht ins Virtuelle, sie kleidet sich nicht uniform. Wer den typischen Teilnehmer als weißen Mann zwischen 25 und 35 beschreibt, muss mit Scheuklappen über die Konferenz gelaufen sein. In der digitalen Welt von heute ist der Urtyp des Nerds ein Bewohner von vielen.
(Eindrücke vom Veranstaltungsort und Publikum im “Flur-Video von Daniel Fiene und Thomas Knüwer)
Am Sonntagmorgen dann füllt der Autor Tim Ferris einen Saal mit weit über tausend Zuhörern. Er spricht über “Hacking the human body”, ein rigoroser Ernährungs- und Trainingsplan für das Erreichen des Körperbaus und der physischen Fertigkeiten eines Actionhelden. Auch echter Sex gehört dazu. Dopaminkicks gibt es nicht nur beim Zocken. Check-ins bei Foursquare verlängern weder die Lebensdauer, noch erhöhen sie den Sexappeal. Ein geschöntes Avatar ist nun einmal nur ein wertloser Pixelhaufen, die Ästhetik von Apple-Produkten im Heiratsmarkt bedeutungslos, ein Apfel immer noch gesünder als ein Stück Pizza. Wenn er konsequent ist, hört der Technikgläubige eben auch auf seinen Bauch.