Keine öffentliche Betrachtung von Globalisierung, Einkommensverteilungen oder Ungleichheit, ohne daß der Gini-Koeffizient bemüht wird – trotz allerlei Einschränkungen, die gerne ignoriert werden.
Menschen vergleichen sich gerne miteinander und so ist der Vergleich von Einkommen ein beliebter Sport, wenn auch meistens verdeckt betrieben – über Geld spricht man nicht. Zum Teil nehmen Gehaltsrechner und Rankings einem die leidige Fragerei ab, die es einem ermöglicht, sich in der Gesellschaft einzuordnen. Das nämlich ist wichtig: Studien haben gezeigt, daß die meisten Menschen zuerst ihren Nächsten als Referenzpunkt betrachten und im Zweifelsfall lieber absolut weniger Einkommen akzeptieren als große Divergenzen.
Auf internationalem Niveau beschäftigen sich viele Wissenschaftler mit Fragen der Einkommensverteilung, assistiert von fanatischen Globalisierungsgegnern und gleichermaßen fanatischen Marktliberalen, die die weltweite wirtschaftliche Integration entweder als Ursache aller Übel oder als uneingeschränkten Heilsbringer betrachten. Wie fast aller wissenschaftlicher Fortschritt hat auch dieser Forschungszweig sehr von den Segnungen der Moderne profitiert: mehr Daten und bessere Verarbeitungskapazität. Das Mutter aller Maßzahlen zur Ungleichheit hingegen feiert im nächsten Jahr seinen 100. Geburtstag: der Gini-Koeffizient, und hat er nichts von seiner Bedeutung eingebüßt.
Der Gini-Koeffizient ordnet die Verteilung der Einkommen basierend auf der Lorenzkurve zwischen 0 und 1, wobei 0 totaler Gleichheit entspricht, d.h. alle Bürger haben dasselbe Einkommen. Je näher an eins (oder 0 bis 100, je nach Skalierung) der Koeffizient rückt, desto ungleicher sind Einkommen verteilt, d.h. desto weniger Individuen halten immergrößere Anteile des gesamten Nationaleinkommens. Noch vor einigen Jahrzehnten waren länderübergreifende Vergleiche darauf beschränkt, lediglich das durchschnittliche Einkommen pro Land (BIP zum Beispiel) zu vergleichen. Je nachdem, ob man diese Zahl nach Bevölkerung gewichtet, ist sie noch immer gern genutzte Munition für beide der oben genannten Fraktionen, weil die Kennzahl auf nationaler Ebene beide Ergebnisse hergibt. Behandelt man China wie Luxemburg mit gleichem Gewicht, ist die weltweite Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Gewichtet man die Länder hingegen nach der Bevölkerungszahl, führen die Einkommensverbesserungen in Indien und China dazu, daß die Ungleichheit im weltweiten Mittel gefallen ist.
Im Grunde genommen sind jedoch beide Methoden unzulänglich, weil sie die nationalen Unterschiede nicht berücksichtigen. Dafür jedoch braucht es detaillierte Statistiken auf nationalem Niveau und die hat bei weitem nicht jedes Land. Und selbst dort, wo es sie gibt, sind sie bei weitem nicht immer zuverlässig oder vergleichbar.
Manche Länder vergleichen Einkommen pro Land vor Steuern. Andere nach Steuern. Steuern hingegen und soziale Transferleistungen haben in der Regel erhebliche Umverteilungswirkung, so daß die Vorher-Nachher Frage einen signifikanten Unterschied machen kann. Weshalb die USA (vorher-Erhebung) im Vergleich zu Frankreich (nachher-Erhebung) in der Regel wesentlich schlechter (d.h. ungleicher) abschneidet. Manche Arten von Einkommen lassen sich ohnehin gar nicht monetär erfassen und verzerren den länderübergreifenden Vergleich zusätzlich: Lebensmittelmarken zum Beispiel, Bildungstransfers, oder Subsistenz-Landwirtschaft in ärmeren Ländern. Die Zahl verkompliziert sich weiter, da manche Statistiken auf Umfragen basieren, die ganze Haushalte befragen – andere hingegen Individuen.
Vor diesem Hintergrund war es eine bahnbrechende Verbesserung, als zwei Wissenschaftler 1996 die verfügbaren Umfragen genauer auf ihre Vergleichbarkeit untersuchten und, wo möglich, anpassten. Viele beliebte Datensätze wurden verworfen, der verbleibende Rest deckte immerhin noch 108 Länder über die letzten 50 Jahre ab, wenn auch nicht jährlich. Das ist bis heute der Datensatz der Wahl zu länderübergreifenden Ungleichheitsforschung, trotz aller Unzulänglichkeiten. In der Not frißt der Teufel fliegen und der Wissenschaftler arbeitet mit dem, was er bekommen kann.
Auf nationaler Ebene entfallen etliche der oben genannten Probleme, zumal die meisten OECD-Länder zumindest inzwischen ziemlich gute Statistiken erheben und diese auch dank der Segnungen der Computermoderne viel leichter auswerten können als früher. Es bleiben aber immer noch genug Tücken übrig. Fest steht: nach neuesten Erkenntnisse ist die Ungleichheit der Einkommensverteilung in Deutschland in den letzten Jahren gestiegen. Genauer gesagt, verschlechterte sich der deutsche Gini-Koeffizient von 0,27 auf 0,29 von 2001 bis 2005, blieb aber seither konstant. Einkommen sind also heute ungleicher verteilt als vor zehn Jahren. Das Problem ist: diese eine Zahl sagt weder etwas über die Ursachen, noch über die genaue Art der Verschiebung von Wohlstand. Für genauere Informationen müßte man wissen, wie die zugrundeliegende Lorenzkurve geformt ist bzw. wie sie sich im Zeitablauf verändert hat. Ob sich die Mittelschicht weiter von den oberen Quantilen der Oberschicht entfernt hat, oder ob die ganz unteren Gruppen weiter abgehängt wurden – der Gini-Koeffizient gibt immer nur eine Zahl aus. Dem kann man abhelfen, indem genauere Daten erhoben und genauere Angaben gemacht werden. Zum Beispiel: In Deutschland stieg das Einkommen der reichsten 10 % der Haushalte um 2 % an, der ärmsten 10 % der Haushalte hingegen nur um 1,4 %.
Das ist tatsächlich sehr viel aussagekräftiger, sagt aber immer noch nichts über die Ursachen aus. Erhebliche demographische Veränderungen zum Beispiel beeinflussen Einkommensverteilungen, weil mehr Kinder zuerst einmal mehr einkommenlose Köpfe bedeuten, zumal wenn Haushalte (und nicht Individuen) befragt werden. Ähnlich verhält es sich mit Migration: ein Land, das sehr offen für eher unqualifizierteEinwanderer ist, wird automatisch mehr Erwerbstätige in unteren Einkommensklassen haben – folglich mehr Ungleichheit.
Für den oben genannten Trend zu mehr Ungleichheit nennt die OECD auch Gründe: mehr berufstätige Frauen zum Beispiel, die tendenziell öfter Teilzeit arbeiten und tendenziell geringere Löhne erhalten, führen ebenfalls zu mehr Ungleichheit. Umgekehrt führen gestiegene Kapitaleinkommen dazu, daß die Vermögensverteilung mehr Einfluß in der Einkommensverteilung gewinnt, weil die Kapitaleigentümer davon besonders profitieren und dies die Einkommen der ohnehin Besserverdienenden weiter hochtreibt – im Vergleich mit Personen mit wenig Kapitaleinkünften. Das ist übrigens eines der fundamentalen Probleme des Gini-Koeffizienten: über die Ungleichheit von Vermögenspositionen (jenseits der Kapitaleinkünfte) sagt er gar nichts aus. Da könnte man glatt übersehen, daß ein sehr egalitäres Land wie Schweden mit dem sensationell niedrigen Gini-Koeffizienten von 25 keineswegs so überaus gleich ist. Tatsächlich werden 77 % der Aktienvermögen von 5 % der Bevölkerung gehalten.
Bleibt festzuhalten: der Gini-Koeffizient sagt viel über die Einkommensverteilung in Ländern aus. Aber er sagt auch viel Wissenswertes nicht aus. Das macht ihn nicht überflüssig, er ist das kompakteste Maß, daß die Volkswirtschaftlich für solche Zwecke kennt und ist konzeptionell so einfach, daß auch Journalisten und Politiker sich dazu äußern können. Aber man sollte den Informationsgehalt nicht überbewerten – schon gar nicht, wenn die Interpretation von Journalisten oder Politikern kommt.