Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Die ultimative Höllenmaschine

Der Anschlag von Oslo wirft Fragen auf: Ist das Netz der ultimative Komplize aller verblendeten Spinner und Netzkriminellen? Ein Plädoyer für eine differenzierte Sicht.

Eigentlich wollte ich den Bombenschlag von Oslo und das Massaker auf Utøya hier außen vor lassen. Versagen nicht die Worte angesichts einer solchen Wahnsinntat? Nun, leider nicht bei allen. Hans-Peter Uhl etwa, der innenpolitische Sprecher der Union, verstieg sich in einem Radiointerview zu einer steilen These: Die Tat von Oslo sei ja nur scheinbar von einem Einzeltäter begangen worden. Jetzt werde immer mehr bekannt über die Internetkontakte des Täters, so Uhl: „In Wahrheit wurde diese Tat im Internet geboren.” Und somit – wenn das Internet als eine derartige Höllenmaschine verstanden wird, die sogar Massenmord hervorbringt – ist das leider doch ein Thema für das Deus-ex-Machina-Blog.

Diese Sicht auf das Internet als Sündenpfuhl und Schreckenskammer ist nicht neu. Schon vor über zehn Jahren analysierte Hans Magnus Enzensberger im „Spiegel”, dass der Diskurs über Computer und neue Medien beherrscht wird von Heilsverkündern und Apokalyptikern: „Die beiden Fraktionen folgen einem vertrauten religionsgeschichtlichen Muster: Auf der einen Seite finden wir die Apokalyptiker, auf der andern die Evangelisten. In mehr als einer Hinsicht hat ja der technische Fortschritt die Nachfolge der Offenbarungsreligionen angetreten. Heil und Unheil, Segen und Fluch lesen die Auguren seit der Aufklärung nicht mehr in den Heiligen Schriften, sondern aus den Eingeweiden der technischen Zivilisation.”

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Demnach wäre Herr Uhl also der Apokalyptiker-Fraktion zuzurechnen. Die sieht das Netz vordringlich als Netz als Hort von Kinderpornographie, Betrugskriminalität und Volksverhetzung. Kurzum: Wir werden alle sterben. Aber vorher wollen aufrechte Recken wie Uhl nichts unversucht lassen, dem großen Netz-Tier oder der großen Hure Binär-Babylon mit allen denkbaren ordnungspolitischen Instrumenten zu Leibe zu rücken. Wenn die das in China hinkriegen, Unliebsames aus dem Netz draußen zu halten und regimekritischen Quertreibern auf die Spur zu kommen, dann sollte sich doch auch hier bei uns was machen lassen. Dabei glaubt die netzpolitische Stahlhelm-Fraktion wahrscheinlich selber nicht, dass sich mit mehr Überwachung und mit Netzsperren solche Wahnsinnstaten künftig verhindern ließen. Aber die Gelegenheit, diese Gebetsmühle der ewiggleichen Forderungen erneut anzuwerfen, ist nun mal gar zu günstig.

Dabei ist es doch nicht so, als hetzten die Islamophobiker und Fremdenfeinde nur in geschlossenen Benutzergruppen, in die man V-Leute einschleusen müsste. Das Online-Magazin „Politically Incorrect” und andere Plattformen von sogenannten Islam-Kritikern sind als Sammelbecken einschlägiger Strömungen seit Jahren wohlbekannt. Einen Grund zum Einschreiten haben die Behörden bislang nicht erkennen können. Man lässt sich anscheinend beruhigen damit, dass sich die Betreiber von PI und ihre Freundeskreise stramm israelfreundlich geben und gern das hohe Lied der Völkerfreundschaft mit den USA singen. Klar, dass Nazivorwürfe da vordergründig nicht so recht passend scheinen. Hey, Nazis sind doch Antisemiten, und PI ist israelbegeistert bis dorthinaus, ergo können das doch keine Nazis sein, oder?

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Wie auch immer: Dass sich Spinner und Extremisten jedweder Couleur im Internet den jeweils passenden Resonanzraum suchen können, ist wohl unstrittig. Nur was folgt daraus? Ist das Internet deswegen schlecht, der Hort allen Übels, der ultimative Komplize jedes weltanschaulich motivierten Verbrechens? Wahrscheinlich schon auch, aber eben nicht nur. Es kann uns auch klüger und toleranter machen und uns auf Sichtweisen stoßen, mit denen wir im analogen Leben vielleicht nie in Berührung gekommen wären. Ich plädiere jedenfalls für eine Kultur des Hinsehens. Ich habe vor einigen Jahren ausgedehnte Expeditionen durch die dunklen Seiten des Internets unternommen, mir ist da kaum noch etwas fremd auf dem Felde der Verschwörungstheorien: Prince William ist der Antichrist, die Zahl des Tieres 666 im Barcode der europäischen Artikelnummer EAN, das umgedrehte Pentagramm im Straßenbild von Washington D.C., die Bilderberger-Konferenzen als Plattform für die Neue Weltordnung der Illuminaten, Nazi-Flugscheiben in der Antarktis – all das habe ich mit einigem Grusel und unter einigen Gefahren für meine geistige Gesundheit konsumiert. Ich habe „Mein Kampf” im Internet gelesen und auch die verbotenen Bücher von Jan van Helsing. Und hat mir das geschadet? Hat es mich radikalisiert und auf politische Abwege geführt? Ich denke, nein. Auf alle Fälle hat es mich zusätzlich immunisiert, den Hasspredigern von PI-news und ihren islamophoben Freundeskreisen auf den Leim zu gehen. Und nachdem ich in den letzten Jahren mitbekommen habe, wie sich die Kommentatoren auf diesen Plattformen zu immer radikaleren Äußerungen hochschaukeln, dann überrascht es mich nicht wirklich, dass irgendwann ein Verblendeter den Worten auch Taten folgen lässt. Da braucht man auch gar nicht wie der Unionspolitiker Uhl das Internet pauschal als Mittäter in Sippenhaft nehmen, wenn man die politischen Klimasünder auch genauer identifizieren und nennen könnte. Wie steht es denn mit dem Beitrag von Zeitgenossen wie Roland Koch, Thilo Sarrazin, Henryk M. Broder und Ralph Giordano und vielen anderen zu dem geistigen Klima, in dem der Hass auf den Islam und die muslimischen Mitbürger so gut gedeiht?

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Aber wie Enzensberger schon anno 2000 festgestellt hat: Sowohl die Heilsgläubigen als auch die Apokalyptiker erweisen sich im Netzdiskurs als immun gegen die Tatsachen: (…) Zugleich ist das Internet ein Dorado für Kriminelle, Intriganten, Hochstapler, Terroristen, Triebtäter, Neonazis und Verrückte. Hier finden alle Sekten und alle Kulte ihr gemütliches Auskommen. Endlich können sich Welterlöser und Satanisten zusammenschalten. Kein Wunder, dass in solchen über den ganzen Globus verteilten Gruppen die Paranoia nistet und dass die Verschwörungstheorien unter ihren zahllosen Adressen blühen und gedeihen. Da kein Zentrum vorhanden ist, kann sich jeder einbilden, er befinde sich, wie die Spinne in ihrem Netz, im Mittelpunkt der Welt. Kurzum, das interaktive Medium ist weder Fluch noch Segen; es bildet schlicht und einfach die Geistesverfassung seiner Teilnehmer ab.