Manche Versuche der Wissenschaft, die Welt in Zahlen zu pressen, sind gruselig, andere einfach unterhaltsam. Heute: vom Fehlverhalten im Straßenverkehr über einen kurzen Weg zur Ehrlichkeit.
Nicht alles im Leben ist meßbar. Das ist eigentlich gar nicht schlecht, bewahrt es doch einige Geheimnisse und macht die Forschung interessanter und herausfordernder. Einerseits ist es zwar befreiend, daß es dem Menschen noch immer nicht gelungen ist, alles in Zahlen zu verpacken – andererseits klaffen große Lücken im menschlichen Wissen gerade dort, wo die Zahlenwelt an ihre Grenzen stößt. Psychologische Mechanismen, historische Kausalitäten, die halbe Volkswirtschaftslehre (so sehr sie sich auch um Quantifzierung bemüht).
Was man nicht messen kann, kann man schlecht sortieren, ordnen, ranken, vergleichen, systematisieren und das macht Wissenschaft schwieriger. Das trifft unter anderem auch auf alle möglichen immateriellen Dinge und moralischen oder kulturellen Werte zu. Ehrlichkeit zum Beispiel ist schwierig zu messen – dafür allerdings hat sich inzwischen zumindest ansatzweise eine Lösung gefunden. Die Organisation “Transparency International” (TI) widmet sich seit 1995 der herkulischen Aufgabe, die Korruption auf der Welt zu erfassen, was ja von Ehrlichkeit in mancher Hinsicht nicht mehr sehr weit weg ist.
TI definiert Korruption als “den Mißbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen”, und hat verschiedene Maßzahlen entwickeln lassen, die regelmäßig erhoben werden. Die wohl bekannteste ist der Corruption Perception Index (CPI), der den gefühlten Umfang von Korruption in verschiedenen Ländern einzuordnen versucht und auf dieser Basis ein Ranking erstellt. Natürlich ist das keine mit der Präzision und Berechenbarkeit physikalischer oder mathematischer Größen vergleichbare Zahl. Unzählige Einwände lassen sich gegen die Methodik erheben: die Ergebnisse sind subjektiv, weil sie nur die wahrgenommene Korruption erfassen. Die Ergebnisse sind unterschiedlich tragbar, weil für manche Länder viele Informationen vorliegen, für andere hingegen nur wenige. Die Ergebnisse sind verzerrend, weil kleine, arme Entwicklungsländer systematisch schlechter beurteilt werden. Die Ergebnisse sind nicht vergleichbar, weil Korruption in jedem Land anders definiert wird und sich die Quellenlage über verschiedene Jahre ändert. Nicht zu reden von der krassen Simplizifierung, eine einzige Zahl für die Einordnung eines ganzen Landes zu nutzen, statt genauer nach Unterschieden, Verhaltensweisen und Mechanismen zu suchen.
Trotzdem war das Korruptions-Ranking von TI vor einigen Jahren ein Meilenstein, es ist aus der volkswirtschaftlichen Berichterstattung über Länder kaum mehr wegzudenken und befindet sich dabei in guter Gesellschaft mit vielen anderen, ähnlichen Rankings. Manche konzentrieren sich auf Korruption, andere auf bürokratische Qualität, Durchsetzung von Gesetzen oder alles zusammen. Vom direkten Informationsnutzen – egal wie kritisch man diesen sehen möchte – abgesehen, läßt sich mit derlei Indizes auch noch anderes anfangen. Wissenschaft betreiben, zum Beispiel.
Natürlich läßt sich Ehrlichkeit kaum direkt messen, und warum Menschen ehrlich sind, oder auch nicht, ist schwer zu sagen, sobald man sich vom Einzelfall entfernt. Wir in Europa denken ja auch gerne (und bekommen das regelmäßig von den Wirtschaftsbossen großer Exportfirmen bestätigt), daß in manchen Ländern Korruption quasi endemisch ist. Ohne Bakschisch keine Geschäfte – da liegt der Schluß nahe, daß die Menschen in solchen Ländern einfach anders ticken. Diese steile Hypothese zu testen braucht es schon eine smarte Idee. Die hatte in diesem Fall jemand.
Ray Fisman und Edward Miguel, zwei amerkanischen Universitätsprofessoren, ließen sich vom New Yorker Finanzamt Statistiken über das Parkverhalten von UN-Diplomaten geben und untersuchten dieses systematisch. Bis 2002 nämlich fielen Strafzettel für Falschparken in New York unter die diplomatische Immunität, so daß viele UN-Mitarbeiter parken konnten, wo und wie sie wollten. Tickets gab es wohl, zahlen mußten sie nicht, weil es ohnehin keine Konsequenzen hatte. 2002 erhielt die Stadt schließlich das Recht, bei wiederholtem Falschparken das Fahrzeugkennzeichen (Diplomat hin oder her) einzuziehen und hatte damit ein adäquates Druckmittel. In den vorangegangenen fünf Jahren hatten sich 150.000 Tickets im Wert mehrerer Millionen Dollar angesammelt. Diese Daten nutzen die Autoren, um einer entscheidenden Frage nachzugehen: wird korruptes Verhalten durch kulturelle Normen beeinflußt oder durch rechtliche Sanktionen? Oder beides? Die beiden Ursachen sind in der Forschung schwer zu trennen, weil in der Regel Länder, denen ein mäßiges moralisches Korruptionsbewußtsein unterstellt wird, auch schlechte Gesetze in diesem Bereich haben – und umgekehrt. Der Vergleich verschiedener Länder ist also wenig erhellend in dieser Hinsicht. Mit den New York-Daten hingegen konnte Licht in die Frage gebracht werden.
Im New Yorker-Umfeld nämlich wurden die beiden potentiellen Ursachen voneinander getrennt: Strafe gab es für niemanden, egal welcher Herkunft. Alle Diplomaten hatten ähnliche Berufsbilder, waren räumlich begrenzt und hatten daher dieselben Parkplatzsorgen. Die Autoren begutachten die Anzahl endgültig unbezahlter Falschparktickets pro Land, im Verhältnis zur Größe der jeweiligen Mission (sprich: Anzahl der Mitarbeiter). Vor 2002, so zeigen sie, besteht eine hohe Korrelation zwischen der Anzahl unbezahlter Tickets und dem Korruptionsgrad eines Landes, gemessen durch Indizes wie oben beschrieben. Auch die Gesetzesänderung nach 2002 zeigte Wirkung: danach sank das Fehlverhalten dramatisch ab. Diplomaten aus Kuwait und Nigeria fielen besonders negativ auf, während die Skandinavier sich weitgehend vorbildlich benahmen (wobei es sogar Anzeichen in den Daten gab, daß sich beide Gruppen mit zunehmender Verweildauer in den Staaten einander annäherten).
Mit allerlei ökonometrisch-technischen Spielereien basteln die Autoren ein durchaus schlüssiges Bild und argumentieren, daß sowohl angelernte, kulturelle Normen als auch Sanktionen das Wohlverhalten von Bürgern beeinflussen – keine kleine Erkenntnis.
Natürlich gab es auch hier Gegenstimmen. Andere Autoren verwendeten denselben Datensatz und dieselbe Methode, berücksichtigten aber auch das generelle Umfeld in den Heimatländern. Wozu das im Rahmen einer kausalen Argmentationskette gut sein soll, konnte ich nicht sehen, aber in einem Punkt haben sie durchaus Recht: ärmere Länder sind möglicherweise weniger organisiert und fähig, mit derartigen Regulierungen umzugehen. Es ist kein Zufall, daß Botschaften afrikanischer Länder zum Teil horrende Gebühren für ein Visum verlangen – dies ist die hauptsächliche Einkommensquelle, wenn der Heimatstaat kaum Steuereinnahmen hat, und es ist gut vorstellbar, daß bei begrenzten Kapazitäten die Bezahlung straffreier Parktickets nicht unbedingt auf der Prioritätenliste Vorrang haben. Dann wären nicht Norman, sondern administrative Qualität der entscheidende Unterschied. Andererseits berücksichtigte schon der ursprüngliche Aufsatz von Fisman und Miguel das jeweilige BIP (das ja auch etwas über die wirtschaftlichen Spielräume und Fähigkeiten von Botschaften aussagt) ohne auffällige Ergebnisse – so daß diese Argumentation nicht ganz überzeugend ist.
Am Ende steht wieder einmal – trotz aller Quantifizierung – keine glasklare, einwandfrei beweisbare Wahrheit, sondern bestenfalls ein Indizienbeweis. Das Zahlenwerk wäre ohne eine überzeugende und ansprechende Argumentation nicht viel wert – und bleibt dennoch angreifbar. Fast wäre man geneigt zu sagen, daß natürlich das Einhalten von Regeln auch ohne den Druck von Sanktionen angelerntes Verhalten ist – und angelernt kann man auch umlernen. Dieser Zusammenhang ist so offensichtlich und intuitiv, dafür hätte es eigentlich keine Regressionsanalyse gebraucht. Trotzdem eine kluge Idee.