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Noch einmal Kalorien – für alle

Viele Menschen zählen Kalorien für sich selbst. Andere zählen, ob die Kalorien für alle reichen, und wer vielleicht zuviel davon hat. Reicht die Nahrung für alle in der Welt?

Viele Menschen zählen Kalorien für sich selbst. Andere zählen, ob die Kalorien für alle reichen, und wer vielleicht zuviel davon hat. Reicht die Nahrung für alle in der Welt?

Obwohl in westlichen Ländern fast jedes Lebensmittel mittlerweile mit Kalorien beschriftet ist, obwohl wesentliche Teile der Bevölkerung fleissig Kalorien zählen, bei der Aufnahme wie bei der Verbrennung, obwohl für manche Gruppen die Frage der richtigen Ernährung geradezu religiösen Charakter hat, werden wir im Durchschnitt immer dicker. Gemessen an einem Body Mass Index von 25 oder mehr, sind inzwischen 66 % der US-Amerikaner übergewichtig.

Bei differenzierter Betrachtung sind darunter sicher viele Personen mit nur leichtem Übergewicht, das man vermutlich genausogut als Normalbereich klassifizieren könnte, aber dennoch: 66 % sind eine beeindruckende Zahl, und in ihrem Kielwasser segeln beeindruckende Folgen, auch für die Gesundheitssysteme. Krankheiten wie Typ 2-Diabetes, Bluthochdruck bis hin zu Krebserkrankungen sind mehr oder weniger deutlich mit Ernährungsgewohnheiten und dem Gewicht korreliert und schon für die Gesundheitssysteme westlicher Länder eine Herausforderung. Viel gravierender sind die Folge in Schwellenländern – wie zum Beispiel in China.

Entgegen dem landläufigen Bild (Asiaten seien klein und zierlich) sind mittlerweile 26 % der Chinesen übergewichtig – im Vergleich zu weniger als 7 % in 1989. Ursachen dafür gibt es viele, die natürlich auch etwas darüber sagen, warum wir – im Durchschnitt – seit der Industrialisierung so zugelegt haben.

Studien zeigen, daß die Anzahl an verfügbaren Kalorien dramatisch gestiegen ist, ebenso wie die Dichte der aufgenommenen Ernährung (also mehr Fette). Gleichzeitig erfordern moderne Tätigkeiten häufig weniger Bewegung, zum Preisvergleich muß niemand mehr in den Supermarkt gehen, sondern nur noch ins Internet, auch Einkäufe und Sozialleben kann man erledigen, ohne auch nur die eigenen vier Wände zu verlassen und wo wir uns vor die Tür begeben, ist der Alltag motorisiert. Während unsere Eltern noch jeden Morgen 10 km mit dem Fahhrad zur Schule fuhren, sitzen die Kinder von heute im Bus. Und während die Bauern in China ihre Produkte zu Fuß zum Markt brachten, gibt es heute Autoscooter (deren Besitz korreliert übrigens auch mit Übergewicht).

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Das alles ist nicht schön, ganz besonders nicht für Chinesen und Mexikaner, deren Gesellschaften diesen Trend viel schneller nachvollziehen als unsere Gesellschaften, aber schockierend ist es nicht. Schockierend ist jedoch die Tatsache, daß es auf der Welt inzwischen mehr übergewichtige als hungernde Personen gibt – dabei sind die hungerneden Personen schon keine kleine Zahl. Eine Milliarde Menschen sind Schätzungen zufolge inzwischen übergewichtig – aber weniger als eine Milliarde (etwa 850 Millionen, oft auch “the bottom billion” genannt) sind unterernährt. Mehr als doppelt soviele erleben regelmäßig Hungerperioden, sind aber wenigstens nicht chronisch unterernährt. Und noch eine Zahl: 17.000 Kinder sterben täglich (!) an Hunger und dessen Folgen – weil sie mit verlangsamter Entwicklung, geschwächten Immunsystemen und ihren mageren Körper n selbst gängigen Krankheiten weniger Widerstandskraft entgegenzusetzen haben.

Angesichts dieses Verhältnisses hört es sich sonderbar an, wenn der Vorstandsvorsitzende des Chemiekonzerns Syngenta erklärt, ohne Chemiekalien und genmanipulierte Nahrungsmittelsorten ließe sich die Weltbevölkerung auf Dauer nicht ernähren. Wenn es mehr übergewichtige als hungernde Personen gibt, scheint es vielleicht doch eher ein Verteilungsproblem zu sein? In der Tat gibt es genug Fachleute und Forscher, die genau das für zutreffend halten. Für komplexe Fragen und Probleme kann es keine einfachen Antworten geben und die Wissenschaft bietet auch keine eindeutigen Beweise für bestimmte Hypothesen, aber die ein oder andere Tatsache spricht doch für sich.

Es ist nicht bekannt, wieviel Lebensmittel wir genau täglich, monatlich oder järhlich verschwenden. Gemäß einer Studie der Food and Agricultural Organiation (FAO) werfen allein die die Konsumenten in Industrieländern zwischen 95-115 kg pro Jahr und Kopf weg – in Afrika und Asien sind es weniger als 15 kg. Vor allem jedoch werden weitere 150 kg (oder mehr) bei der Produktion in Industrieländern verschwendet. Das beinhaltet zu krumme Gurken, zu gerade Bananen, zu kleine Kartoffeln und durchgebrochene Möhren, die bereits vom Bauern aussortiert werden.

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Aber auch altes Brot, Milchprodukte nahe Verfallsdatum und andere Artikel, die Supermärkte zuliebe des Konsumenten permanent in außerordentlicher Vielfalt, Menge und Frische vorrätig haben, wandern abends in den Müll. Die Supermärkte schweigen sich darüber aus, wieviel exakt sie einfach wegschmeissen, an Tafeln spenden, und an Biogasverbrennungskraftwerke verkaufen – aber die Mengen dürften nicht unerheblich sein.

In Entwicklungsländern wiederum verkommen regelmäßig Teile der Ernte durch unsachgemäße Lagerung, falsche Erntezeitpunkte, und schlampigen Transport. Heiß diskutiert wird auch die Frage, inwieweit der steigende Konsum tierischer Produkte die Systeme belastet, weil Tierhaltung oftmals ressourcenintensiver ist als Ackerbau, zumal wenn sie intensiv betrieben wird.

Insgesamt jedoch bleibt weltweit möglicherweise fast ein Drittel der Nahrungsmittelproduktion ungegessen – der Großteil davon in Industrieländern. Könnte man diese Lebensmittel in Echtzeit in die Hugerregionen dieser Welt beamen, wäre das Problem sterbender Kinder bereits gelöst. Beamen aber können wir noch nicht, obwohl wir computergesteuerte Hochregallager haben, algorithmengetriebene Just-in-time-Produktion haben, obwohl wir für die europäischen Konsumenten das ganze Jahr Flugananas herbeischaffen können, und der exaptriiert arbeitende Franzose in Kamerun seinen Dan*ne Joghurt bekommen kann. All das gelingt uns, aber rechtzeitig genug Reis und Getreide ans Horn von Afrika zu bekommen (oder noch besser: rechtzeitig präventive Maßnahmen zu starten) gelingt uns nicht. Mit all unseren Computern, Frachtern, Zeitplänen, Logistik-Experten und durchdachten Lieferketten bekommen scheitern wir an diesen Aufgaben. Und in Wirklichkeit ist das Problem natürlich auch gar nicht durch Logistik zu lösen, denn die damit verbundenen Verteilungswirkungen sind viel komplexer.

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Mit unserer Nachfrage nach Produkten, die wir dann wegwerfen, treiben wir generell Preise in die Höhe. Mit unsere Nachfrage nach Fleisch, treiben wir Preise für Tierfutter in die Höhe, das wiederum andernorts als menschliches Nahrungsmittel gelten würde. Mit unseren Agrarsubventionen und manchmal auch der gutgemeinten Hilfe kegeln wir lokale Produzenten in Entwicklungsländern aus dem Markt. Und mit dem “Geiz-ist-Geil”-Wahn treiben wir die Märkte zu immer mehr Effizienz und Wettbewerb, ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit und Qualität – und benachteiligen dabei Kleinbauern und zukünftige Generationen. Diese Stellschrauben jedoch sind nicht einfach zu drehen, trotz all unserer Weisheit über die Funktionsmechanismen von Märkten und Optimierung von Lieferketten. Das nämlich – ist Politik.