Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Upload der Angst

Unser Verständnis von Privatsphäre unterliegt keiner starren Definition, sie ergibt sich aus dem Kontext. Das Einlassen auf den Kontrollverlust über unsere Daten im Netz schließt die grobe Form der Verletzung, die der "Staatstrojaner" verursacht, nicht ein. Der Vertrauensverlust in den Rechtsstaat wiegt daher schwer.

„Dann haben wir Sex. Mit Geräten. Mit Komplexen. Mit Angst, Angst, Angst.
Wir suchen Partner, finden keinen. Werden schwanger. Oder nicht.
Haben Angst, weil wir nicht schwanger werden oder doch, und kann kommt das Kind,
wir kennen es nicht, wir pflanzen es in einen Blumentopf.“

Sibylle Berg: Der Mann schläft

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In der Samstagnacht trudelten die Meldungen unruhig und zögerlich an den Sprossen der sozialen Netzwerke entlang. Ich träumte nicht von ihm, aber neben den kitzelnden Kirchenglocken hatte sich der Trojaner fett am Bettende zusammengerollt und servierte die Morgenübelkeit zu Kaffee und Sonntagszeitung. Aufgewacht im Überwachungsstaat. Ein ganz normaler Morgen also. Denn sie lesen ja eh bei mir mit, die Leute, mit ihren kleinen, spitzen Urteilen. Und ich bei ihnen. Doch diese graue Masse habe ich immer in den Fingerspitzen und im Kopf, wenn ich mit gekräuseltem Bewusstsein etwas in ein Textfeld tippe, um es kurz davor per Klick in die Wildbahn zu entlassen. Es sei denn, ich brodele und niemand hält meine Hände so lange, bis ich sie wieder in den Schoß legen kann ohne etwas geschrieben und verbreitet zu haben.

An diesem Sonntag, an dem der so genannte Bundestrojaner vom Chaos Computer Club auf nacktem Zeitungspapier seziert wurde, stemmt man sein Laptop im Kettenhemd auseinander, immer in Angst, dass die Software aus dem Display heraus springt, beißt, reißt und mit der Beute wieder hinab taucht. Am Handgelenk keine Zahnabdrücke des Ungetiers, nur leicht elektrisierte Härchen am Unterarm, die in Richtung der Decke toben.

Wenn man Menschen fragt, wie sie Privatheit umschreiben würden und welchen Wert sie ihrer Privatsphäre und der von anderen beimessen, erhält man viele unterschiedliche Anworten. Doch auch wenn hier eine klare Definition und ein übergreifendes Verständnis vom Beginn dessen, was privat sein darf, muss und sollte, fehlt, so ist ein Grundbedürfnis nach eigenem Raum – nach “my space” – der selbst gewählt, bestimmt und bespielt wird, vorhanden. Dieses Bedürfnis weitet sich aus, wenn eigentlich Privates von anderen annektiert wird. Der Wunsch nach eigenen Bereichen entsteht primär dann, wenn andere Personen sich Zutritt zu unserem Leben verschaffen, Informationen sammeln und dem Beobachteten eine unangenehme Menge Aufmerksamkeit um die Schultern legen. Solch ein erstes Gefühl der Grenzüberschreitung spürt man vielleicht in der Erinnerung an das Erwachsenwerden auf. Im Kindesalter und in der Jugend prallen die unterschiedlichen sozialen Normen von Eltern und Sprösslingen hingehend dessen, was die Älteren über die Jüngeren wissen sollen und was die Kinder bereit sind zu teilen, heftig gegeneinander und kratzen an der Vertrauensbasis von Beziehungen.

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Adoleszente Überlegungen möchten hinaus aus dem Kopf, denn sie kratzen. Doch der familiäre Frühstücksaustausch bietet nur selten ein neues Dach über den Gedanken. Gespräche mit Freundinnen und Mitschülern, schwere Tagebücher, pinke Haftnotizen, Schulhefte und digitale Niederschriften werden ihr neues Zuhause. Der Unterschlupf im Privaten, die Aufzeichnung und Reflektion von Erlebtem bestimmt schlussendlich einen Teil von unserer Erinnerung. Tagebücher schleifen diese Rückblenden im Sinne des Verfassers, geben ihnen Autonomie gegenüber einer möglichen anderen Version und sichern sie ab vor Missfallen und moralischer Korrektur. Diese Chroniken, ob handgeschrieben oder mit links getippt, wahren intime Details aus dem Leben und Empfinden der Schreibenden, sie sind ein Stück Leben. Ein heimlicher Aufbruch ihres Schlosses schlägt tiefe Wunden.

Wer die eigene Mutter mit den ungeschminkten Aufzeichnungen des Heranwachsens in der Hand erwischt hat, fühlt den stechenden Vertrauensbruch eines Betruges in der Partnerschaft. Ein Schmerz, wie ihn Thomas Melle etwa in seinem Roman “Sickster” den Leser erleiden lässt:

“Dann hatte sie, hysterisch, die “Gesendeten Objekte” betrachtet und gelesen. Dann war ihre Brust explodiert. (…) Sie würgte, hyperventilierte und knirschte mit den Zähnen, alles gleichzeitig. Vor ihren Augen wurde es schwarz. Es brannte in ihrer Brust. Die Hände krallten sich um den Handtuchhalter. Sie schmeckte den trockenen Geschmack von Alkohol und Gährung auf der Zunge. Die Welt schien zweidimensional zu werden, alles war nur lose aufeinander geklebt, übereinander geschoben. Die Parfümflaschen sanken in die Kacheln ein, wurden zu Intarsien. Die Waschmaschine und die Badewanne: eine Fläche.”

Wissen kann weh tun. Sowohl neu erlangtes Wissen als auch die Erfahrung, dass andere Menschen gewaltsam Wissen aus dem Leben eines anderen gerissen haben. Das Einlassen auf den Kontrollverlust über unsere Daten im Netz schließt diese Form der Verletzung nicht ein – vor allem dann nicht, wenn sie auf einer Festplatte ruhen, und nicht in der Wolke. Der Vertrauensbruch, der über das Bekanntwerden des “Staatstrojaners” und seiner Funktionen, die massiv in die Intimsphäre der Betroffenen eingreifen können, ist nun vor allem aus dem Grund so schwerwiegend, als dass die Vertrauensperson erst mit dem Hintergehen in Erscheinung getreten ist, und Verantwortlichkeiten noch nicht abschließend geklärt sind. Dass dem Rechtsstaat und seinen Verwaltern überhaupt Vertrauen entgegengebracht werden muss, Privates nicht zu berühren, wird erst nach der Analyse des CCC umfassend klar. Die diffusen Verantwortlichkeiten und Verweigerung der Verantwortungsübernahme schüren die Glut von Wut und Angst weiter. Die Gelegenheit zum Abklang versteckt sich noch.

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Häufige Doppelbotschaften können bei Heranwachsenden schwere psychische Störungen auslösen, sie lösen Unsicherheit aus, stören Beziehungen. Solch ein Double-Bind ist zum Beispiel das Verhalten von Erziehungsberechtigten, sich über den Umgang von Jugendlichen mit der eigenen Privatsphäre in sozialen Netzwerken zu beschweren, auf der anderen Seite jedoch das Recht auf Privatsphäre der jungen Menschen im physischen Raum oder bei Onlineaktivitäten zu verletzen.

Die Analogie zum Verhalten von Politikern, die Facebook und den Umgang der Nutzerinnen und Nutzer mit eigenen Daten im Internet kritisieren, arrogant urteilen und Post-Privacy als jugendlichen Unsinn abtun, im Gegenzug jedoch Datenvorräte anhäufen, lagern und auswerten möchten und zudem dabei erwischt werden, in die privaten und intimen Sphären von Bürgerinnen und Bürgern rechtswidrig einzudringen, ist ein winziger Gedankensprung. Solch ein Verhalten, ob nur in Kommunikation oder in der tatsächlichen Tat, treibt weitere Bruchstellen in das Verhältnis von Bürger und Staat.

Die Kritik am bewussten Teilen von Informationen, persönlichen Geschichten, Fotos und Gedanken in sozialen Netzwerken, die argumentiert, hier träten Menschen ihr Recht auf Privatsphäre willentlich ab, missachtet, welche Botschaft die offene Kommunikation im Netz senden will: Sharing ist Vertrauen.

Denn über verschlossene Türen gewinnt man keine neuen Freunde. Über Mitteilungen in sozialen Netzwerken können Beziehungen gestärkt werden und neue Bindungen gesponnen werden. Die Bestätigung einer Kontaktanfrage in einem geschlossenen sozialen Netzwerk muss nicht verstanden werden als Erweiterung des eigenen Publikums für den Seelenmüll, sondern als Vertrauensbeweis und Einladung zum Austausch. Die Entscheidung über den Grad des Vertrauens treffen viele User dabei sehr viel bewusster, als angenommen wird. Schon Jugendliche, die scheinbar sehr viel von sich preisgeben, wählen sehr bewusst aus, welche Inhalte sie teilen, und mit wem.

Und nun sollen sie Angst haben. Angst vor jedem Fehler – als seien diese ein neues Phänomen, das über das Netz inmitten der pubertären Krisen fiel. Angst vor jedem Status-Update und Foto, weil sie die zarten und mühsam gemeißelten Lebensläufe in Rauch auflösen könnten – noch mehr, als ein paar Jahre Magersucht oder ein Alkoholikervater. Angst vor dem Datenhunger von Internetunternehmen, die mit jedem Klick ein Stück Seele auffressen. Angst vor Triebtätern, die in der Hecke des Chats lauern. Angst vor Terroristen, deren Taten im Netz geboren werden und auch nur dort abzutreiben sind.

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Als Dessert serviert der Trojaner nun die Angst, dass die Tagebucheinträge über diese Ängste von nun besser geritzt in Baumrinde oder den Unterarm aufgehoben sind, als auf dem Computer. Geheimnisse, wer braucht die schon? Habt ihr etwas zu verbergen? Lasst die Geheimnisse, lasst Gefühle und Gedanken am besten im Kopf, bis er platzt; vergesst sie gleich wieder und hört auf, euch Gedanken zu machen. Denn dann sorgt ihr euch nicht mehr um Bürgerrechte und Rechtsstaat. Und um die Freiheit des Netzes, das Lebenswelt und Zukunft ist.

Die Zukunft, der Schelm, zerrinnt in dieser Logik in jeder Hand, denn sie macht selbst aus sich ein großes Geheimnis. Und Geheimnisse, wer braucht die schon?