Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Der Fluch der Datenschätze bei ihrer Hebung

Mit dem Datenplündern und dem Nutzerausforschen zu Werbemilliarden und Börsengewinnen: So simpel ist die Gleichung, mit der momentan die Datenkrake Facebook verkauft werden soll. Dabei ist das Geschäft mit den Daten und dem Targeting der Nutzer beileibe nicht so einfach, wie man sich das in abgeschriebenen PR-Texten erträumen mag. Und die bessere Konkurrenz ist auch schon da.

Es gibt über mich jede Menge frei zugänglicher Daten im Internet. Wer sich die Mühe macht und das alles mit Suchmaschinen ausliest, bekommt ein recht gutes Bild von meinen Interessen, Neigungen, Wünschen und Zielen. Und er kann auch feststellen, wie ich mich in den letzten 9 Jahren verändert habe. Nur mal ein Beispiel: Es fällt durchaus auf, dass es zu einem gewissen Zeitpunkt, 2009 etwa, in meinem Haushalt viele Zukäufe von Silberkannen gab. Dann zogen die Silberpreise an, und die entsprechenden Beiträge in meinem Blog über das Ausplündern von krisengeschüttelten Briten verschwanden. Was nicht verschwand, was mich noch Monate danach verfolgte, war die Werbung für englisches Silber. Ebay wusste von meinen Sünden, Google wusste über Gmail von meiner Verschwendung, und monatelang bekam ich Bildchen, Texte und Mails zu einem Thema, das, hätte ich es fortgeführt, meine Eltern dazu gebracht hätte, mich zu enterben. Was man auch in meinem Blog hätte nachlesen können.

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Google, Amazon und Ebay sind vermutlich die besten Firmen dieser Welt, wenn es um die Erforschung von Kundenwünschen geht. Sie forschen an künstlicher Intelligenz und am menschlichen Verhalten, sie wollen Daten und versuchen, mit Verknüpfung alles über mich herauszufinden. Naja. Letzthin bekam ich eine Mail von meinem Zahnarzt zur Routineuntersuchung, und Google stellte sein Programm auf günstigen Zahnersatz in Ungarn um. Wenn man irgendetwas nicht hören will, dann ist es die Vorstellung, was da in Folge des Termins alles passieren könnte. Ich kaufte gebrauchte Felgen für meine Barchetta bei Ebay. Man sollte annehmen, dass man nicht gleich wieder Felgen braucht, aber stoisch erklärt mir Ebay, was für weitere tolle Felgen für mich und meine Barchetta – die auch nur vier Räder brauchen kann –  passen würden.

Und dann stellen sich manche hin und nennen das „Targeting”, das „Streuverluste reduziert”. Tatsächlich ist es so, dass diese Art der Werbung individuell den Nutzer tangieren kann, mithin also besser ist als klassische Bannerwerbung, oder wenigstens lustig, wenn unter Beiträgen zu Wulff Rabatte und Sonderkonditionen angeboten werden. So weit, dass sich ein Programm ernsthaft Gedanken über mich machen würde, sind wir noch nicht: Es müsste, um bei den Silberkannen zu bleiben, eine Variable für den Silberpreis bekommen, und sie mit meinem Auktionsverhalten und Preislimits abstimmen. Dann würde es verstehen, dass ich in den letzten Monaten schon xx Kannen gekauft habe, mein Kaufinteresse ab einem gewissen Schwellenwert gegen Null geht, und dieser Schwellenwert gegen die Preisentwicklung aufgrund voller Schränke gefallen ist: Dann könnte das Programm sagen: Gut, wenn sich die Preise in später wieder dem Schwellenwert annähern und er vielleicht die ein oder andere Kanne verschenkt hat, melde ich mich wieder.

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Knapp daneben ist auch vorbei, heisst es so schön, und wie sich das äussert, sieht man beim Targeting einer anderen Obsession von mir: Alte italienische Stahlrennräder der 70er und 80er Jahre. Der klassische Jugendtraum. Rennräder müssen passen, ich brauche eine bestimmte Grösse, die bei Ebay auch als Parameter angegeben ist. Ebay könnte also problemlos wissen, dass mich italienische Rennräder aus Stahl interessieren, die eine Rahmenhöhe zwischen 55 und 58 haben. Und weil das auch oft in der Kopfzeile der Beschreibung der Käufe steht, sollte Google das über meine Mail ebenfalls wissen. Ebay zeigt mir folgerichtig zumeist neue Plastikrennräder in allen möglichen Grössen, und Google Werbung für Geschäfte, die nur Dinge führen, mit denen ich nichts anfangen kann, weil sie zu teuer sind – auch das sollte Google eigentlich aus meinen Kaufsbestätigungen herauslesen können. Sie tun es aber nicht. Sie sind näher an mir dran. Und trotzdem daneben.

Experten oder Leute, die sich dafür halten, nennen dieses  Versagen am Kunden „die Hebung des Datenschatzes” (HdD). Die Hebung des Datenschatzes hat in der Internetwirtschaft in etwa die gleiche Funktion wie die Wiederkehr des Messias im Christentum oder das Ende aller Energiesorgen durch Kernfusion in 30 Jahren. Momentan ist die HdD wieder ein heiß debattiertes Thema, schliesslich steht der Börsengang von Facebook bevor, und manche glauben, die Firma wisse so viel wie keine andere über ihre Milliarde Nutzer. Und würde man das alles nur sauber herausarbeiten und gewichten und nach Kategorien ordnen, könnte die Werbung perfekt an den Nutzer gebracht werden. Man muss das nur irgendwie sauber machen, und dann kommt das grosse Geld, das jene irrwitzigen Kurse doch noch rechtfertigt, die diese „Experten” seit Monaten vorhersagen. Die Werbekunden solcher Firmen müssen sich jetzt schon damit abfinden, dass kontextsensitive Werbung näher, aber nicht voll dran am Kunden ist. Bislang ist diese Nähe zumeist nur der Versuch, aus vergangenen Ereignissen Interessen abzuleiten, die möglicherweise nach dem Ereignis so gar nicht mehr gegeben sind. All die Rad-, Zahn-, Felgen- und Silberkannenanbieter jedenfalls verschwenden ihr Geld an mich.

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Soziale Netzwerke sollen bei der HdD natürlich etwas besser sein. Die Theorie besagt, dass der Kaufanreiz vorhersehbar wird, wenn Freunde und Bekannte etwas erwerben. Steht also in einer Timeline einer Person, sie würde ein altes, hübsches Rad kaufen, kämen auch andere auf die Idee, dass sie so etwas brauchen. Solche Empfehlungseffekte gibt es fraglos, als Blogger erlebt man es oft genug, dass Bekannte – und beileibe nicht nur quietschende Teenager auf dem Gagatrip – fragen, wie englische Silberpunzen aussehen, ob jenes Rad etwas taugt und wie wintertauglich die Barchetta ist (Ideal! Für den Winter in Sizilien.). Demzufolge wäre das ein Weg, die Kaufentscheidung schon zu erahnen, bevor sich der Kunde entschieden hat. Man läuft ihm nicht mehr hinterher, man hält ihm das richtige hin, wenn er erst ahnt, dass er es brauchen könnte. Der ganze Abermilliardenwert von Facebook leitet sich allein aus dem Umstand ab, dass es noch näher als die anderen kommt. Der Datenschatz, den Facebook dieser Theorie zufolge besitzt, ist nicht nur das Wissen um Kaufkraft, Vorlieben und Verhaltensmuster der Nutzer, sondern durch die Netzwerke auch deren zukünftiges Verhalten. Was man da Tolles für jedes Profil errechnen könnte! Immer das beste Angebot für den richtigen Moment.

Das war es auch schon bei StudiVZ.
Und bei Myspace.
Und bei Wer-kennt-wen.
Und bei den Lokalisten.
Und bei Orkut.
Und bei Friendster.
Und bei Shoppero.
Und bei Cycosmos. Bei den beiden letzte, heute weitgehend vergessenen Beispielen war es vielleicht sogar noch besser, weil sich diese Projekte ausschliesslich um Wunschvorstellungen der Nutzer drehten, und es keinen Zwang gab, aus der unendlichen Masse an Bitchslappings, Anfragen, LOL-Kommentare und anderen Infobrocken die werberelevanten Daten heraus zu pfriemeln. Die obigen Beispiele haben allesamt nicht so wirklich funktioniert, um es höflich zu sagen. Zwar wollten alle die Datenschätze heben, und manche hatten sogar die notwendige Nutzerschar und riesige Datenmengen. Aber die HdD und der Verkauf der Daten an die Werbekunden hat nicht verhindert, dass sich diese Projekte nicht durchsetzen konnten. Echte „Vordenker” (das sind die Leute, die vorplappern, was Journalisten ein halbes Jahr später nachplappern) haben Facebook schon abgehakt. Das neueste Datenschatzreservat heisst Pinterest, wird weltweit gerade gnadenlos kopiert, hat mit mehrheitlich OMGsooosweeeet-quietschenden jungen Frauen die ideale Zielgruppe mit Kauflust. Es hat die gleichen Netzwerkeffekte wie Facebook und erlaubt es, auf einen Blick die Wünsche der sich gegenseitig Dinge zeigenden Nutzer abzulesen. Das ist der Datenschatz, den Facebook mit Codes und Berechnungen heben möchte, in fertig gehobener und sortierter Form.

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Während also Facebook so tun muss, als würde es die Menschen sozial zusammenbringen, um sie hinter ihrem Rücken zu missbrauchenn, mit Profilanalysen auszuforschen und Vermutungen über die Zukunft anzustellen, besorgen die Nutzer von Pinterest diese Drecksarbeit ohne Aufforderung selbst und zuverlässig. Übertragen auf meine Rennräder: Was Herr Zuckerberg besitzt, ist ein Grundstück, auf dem sich in Unmengen wertlosem Gestein auch die Materialien finden, aus denen man durch schweirige Prozesse Metalle gewinnt, die veredelt, in eine marktgerechte Form gebracht, verlötet, verschraubt und dann an den Einzelkunden vertrieben werden müssen. Pinterest hat das fertige Fahrrad. Facebook ist vielleicht in der Lage, ebenso nah an die Wünsche der Kunden heranzukommen, muss sie dafür aber in einer Art und Weise durchrechnen, analysieren und durchleuchten, dass es immer wieder Schwierigkeiten und schlechte Presse wegen des Datenmissbrauchs geben wird. Und ob dann die werbende Wirtschaft wirklich gerade in dem Moment buchen möchte, da Facebook glaubt, hier wäre ein Geschäft zu machen?

Bei der Schatzsuche kommt es am Ende immer darauf an, dass der Schatz zu einem vertretbaren Aufwand gefunden wird. Allein die Wortwahl sollte Investoren eigentlich kritisch werden lassen; Schatzsuche ist eigentlich kein besonders sicheres Geschäftsmodell, und selbst wenn er gefunden werden sollte, muss der Kundschaft noch bewiesen werden, dass es der Schatz ist, den sie wollen. Ob der Schatz von Facebook besser als der Schatz der gerade zu grosser Form auflaufenden Konkurrenz ist? Da hat Herr Zuckerberg noch viel Arbeit vor sich, beim Schatzheben. Soll man ihm dafür Geld geben? Oder soll ich lieber etwas über die Wertsteigerung meiner Silberkannen erzählen?