In Polen demonstrierten Zehntausende für die Freiheit des Internets. Die Bedeutung des Internets im Parlamentswahlkampf 2011 schätzen Forscher jedoch als eher gering ein. Ein Besuch in Warschau.
ACTA, das ist das Zauberwort, das an diesem Nachmittag in Warschau immer wieder fällt. Warum die polnische Bevölkerung in den vergangenen Winterwochen die Straßen stürmte und auch Abgeordnete im Parlament gegen die Unterzeichnung des internationalen Handelsabkommen protestierten, kann auch im „Instytut Spraw Publicznych“ noch niemand eindeutig erklären. „Die Menschen waren es gewohnt, Serien und Filme über Streamingdienste zu schauen, wenn sie am Abend von der Arbeit nach Hause kommen“, sagt ein polnischer Journalist. Die Abschaltung großer Videoportale habe sie wütend gemacht. Doch würden Menschen für ihr Recht auf die illegale Berieselung mit TV-Serien zu zehntausenden auf die Straße gehen? Das klingt unwahrscheinlich. Die polnische Regierung hat die Ratifizierung des Abkommens gegen Produktpiraterie, von dem Kritiker die Ermöglichung von Internetzensur in weitere Eingriffe in Bürgerrechte befürchten, nach den Massenprotesten ausgesetzt. Noch bevor die Diskussionsveranstaltung “Gefangen im Netz?”, zu der das Institut für Public Affairs und die Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau eingeladen haben, das Tagungsthema ausführt, bekommt die Forderung nach einer Folgeveranstaltung unter dem Titel „Die Welt nach ACTA“ Applaus. Heute hat man zur Vorstellung einer Studie eingeladen, die die Bedeutung von Onlinekommunikation im polnischen Parlamentswahlkampf 2011 untersucht. Ein Jahr später ist schon vor der Präsentation wissenschaftlicher Ergebnisse klar, dass „dieses Internet“ Bürgerinnen und Bürger nicht nur ein wenig umtreibt, sondern im Zweifel auch hinter ihren Bildschirmen hervorlockt und so lange marschieren lässt, bis nicht die nächste Website geladen hat, sondern politische Akteure ihre Entscheidungen überdacht haben.
Die Ergebnisse aus dem Wahlkampf, die die Forscher Jacek Kucharczyk, Marcin Nagrabe und Jan Zajac zunächst vorstellen und kritisieren, erinnern stark an die Vorgehensweisen, die sich auch in der politischen Kommunikation in Deutschland im letzten Wahlkampf beobachten ließen und bis heute das Bild dominieren. 92 Prozent der ausgewerteten Websites von Kandidierenden enthielten starre, kontrollierte Information in trockener Politmanier, ohne Interaktionsmöglichkeiten, ohne Überraschung. 47 Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten zur Parlamentswahl kommunizierten zusätzlich über eine Facebookseite, 19 Prozent über ein eigenes Blog und 12 Prozent nutzten Twitter zum Kontakt mit Wählerinnen und Wählern. Von etwa 1500 Frauen und Männern, die sich in Polen im vergangenen Jahr zur Wahl stellten, hatten nur 400 einen Account in einem der unterschiedlichen sozialen Netzwerke.
Es ist leicht, ein eher trauriges Bild von der Nutzung von Onlinemedien zu zeichnen, ist doch innerhalb der letzten zehn Jahre immer wieder, egal ob in Deutschland, europäischen Nachbarländern oder den Vereinigten Staaten immer wieder betont worden, diese Wahl werde nun aber wirklich im Internet gewonnen. Wenn die Zahlen dagegen sprechen, sucht man die Schuld schnell bei den Angeboten von Parteien, die den Wähler im Netz nicht für sich gewinnen konnten. Was dabei jedoch häufig vergessen wird: noch immer besitzen nicht alle deutschen Haushalte einen Internetanschluss. Etwa 75 Prozent sind es momentan. Aber viel wichtiger: wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Onlinekommunikation von Parteien bislang vor allem Menschen mobilisierte, die der jeweiligen Partei ohnehin schon nahe standen. Zudem lohnt sich zu fragen: wie viel Partizipationsbereitschaft an politischen Prozessen oder politischer Debatte ist unter Internetusern überhaupt vorhanden? Sind Nutzerinnen und Nutzer so aktiv, wie die Einträgeschwemme in sozialen Netzwerken vermuten lässt, oder sind sie eher passiv, wenn es zum Austausch über politische Themen kommt?
Im polnischen Wahlkampf war das Internet in den Augen von Wählerinnen und Wählern nach dem Fernsehen, nach Zeitungen und Wahlwerbung wie Fernsehspots und Plakaten das vierwichtigste Medium. 26 Prozent der Befragten gaben an, für sie seien Onlineangebote die wichtigsten Informationsquellen gewesen und ihre Wahlentscheidung sei aufgrund des dort erworbenen Wissens gefallen. Generelle Medienplattformen waren ihnen dabei am wichtigsten, danach die Auftritte von Politikern und Parteien in sozialen Netzwerken und an Platz drei die parteieigenen Internetplattformen. Unter den 18- bis 24-Jährigen sagen schon 65 Prozent, dass Angebote im Internet für sie die Informationsquellen mit der größten Bedeutung seien.
Vor allem gaben Menschen an im polnischen Wahlkampf das Internet zielgerichtet genutzt zu haben: immer dann, wenn sie in den Medien, die sie bislang vornehmlich genutzt hatten, nicht die gesuchten Informationen fanden. Was die Forscher, die für das „Instytut Spraw Publicznych“ das Internetnutzungsverhalten der polnischen Bevölkerung untersucht hatten, dazu aber noch herausfanden, war eine große Unzufriedenheit. Nicht nur wurde die Art und Weise der Informationsaufbereitung kritisiert, viele Bürgerinnen und Bürger fanden schlicht die gewünschten Informationen und Materialien nicht. Das beliebteste Internetangebot im Wahlkampf waren daher nicht die experimentellen, vermeintlich hochmodernen Kampagneninstrumente, die etwa auf Gamification setzten. Ein rein textliches Angebot, dass die Fragen von Bürgerinnen und Bürger über Facebook beantwortete, wird von den Forschern als das erfolgreichste eingestuft. Die neue Partei „Ruch Palikota“ erreichte bei den Wahlen 2011 aus dem Stand 10,2 Prozent als drittstärkste Kraft. Die Stimmen stammten zu großen Teilen aus einem jungen, gebildeten Millieu. Über ein Drittel der Wählerinnen und Wähler der linksliberalen „Ruch Palikota“ waren unter 29 Jahre alt.
Die Wichtigkeit, Fragen von Bürgerinnen und Bürgern zu beantworten, unterstreicht auch Róza Rzeplinska von der Nichtregierungsorganisation „Stowarzyszenie 61“. Die NGO betreibt eine Website, auf der sie nach Informationen zu allen Kandidierenden und Parteiten zusammenstellt, um eine bewusste Wahlentscheidung anhand sachlicher Kriterien zu unterstützen. Kurz vor der Wahl seien auf dem Portal über 300.000 Nutzerinnen und Nutzer angemeldet gewesen. Doch die Informationen, die das Team von „Stowarzyszenie 61“ zusammentragen konnte, sind unvollständig geblieben. Über ein Drittel der Kandidaten und Abgeordneten hätten ihre Fragen zu politischen Positionen trotz mehrfacher Frage niemals beantwortet, so Rzeplinska.
Das Portal läuft auch nach der Wahl weiter. Die Organisation gleicht die politischen Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, mit Wahlprogrammen und Versprechen aus dem Wahlkampf ab: “Wir wollen, dass die Wählerinnen und Wähler bei Wahlen klug entscheiden können.” Für bessere Onlinekommunikation wünscht sich Róza Rzeplinska eine „Software für das effektive Management von Abgeordnetenbüros, die Erreichbarkeit und Transparenz garantiert“. Janusz Piechociński, ein Abgeordneter der Bauernpartei, der als Gast der Diskussionsveranstaltung in einen halbstündigen Monolog verfiel, um seine Onlinekünste zu preisen, grinst verschämt und nickt kaum merklich. Er hat 675 Follower bei Twitter. Wie man die Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent in Polen steigern könnte, weiß er auch nicht. Er gibt aber zu: „Wir haben bislang noch kein Rezept gefunden, um den öffentlichen Raum nach Wahlen richtig zu organisieren.“