Deus ex Machina

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Pseudomobilität – sind wir mit dem Auto wirklich schneller?

Der Theologe und Philosoph Ivan Illich befand 1973, man sei mit dem Auto kaum schneller als mit dem Fahrrad - bei korrekter Berechnung. Aber ob das im 21. Jahrhundert noch stimmt?

Der Theologe und Philosoph Ivan Illich befand 1973, man sei mit dem Auto kaum schneller als mit dem Fahrrad – bei korrekter Berechnung. Aber ob das im 21. Jahrhundert noch stimmt?

Ich habe kein besonders großes Vertrauen in Propheten. In der Finanzkrise wurde vielen Volkswirten vorgeworfen, sie hätten das Unheil nicht vorhergesehen. Die wenigen hingegen, die schon vor Jahren auf Risiken hingewiesen haben, sind auf diesem Wege zu erheblichem Ruhm gelangt. Nicht zuletzt jedoch, weil sich kaum jemand Vorhersagen über einen längeren Zeithorizont anschaut. Es ist nicht besonders schwer, irgendwann recht zu behalten, wenn man alle zwei Jahre eine Krise vorhersagt – die falschen Vorhersagen versinken in den tiefen der bedeutungslosen Geschichte, die eine richtige hingegen bleibt in Erinnerung. Da ich schon einmal hier ein Forum mit gewisser Reichweite habe, sollte ich vielleicht auch dazu übergehen, einmal jährlich eine Krise zu prophezeien – irgendwann behalte ich sicherlich Recht und bekomme dann eine Professur in Harvard. Oder so.

Noch bemerkenswerter ist jedoch, daß die wahren Hellseher meist kaum zur Kenntnis genommen werden. Ivan Illich, zum Beispiel. Am bekanntesten ist der österreichisch-amerikanische Theologe heute für seine Schätzung, daß der Mensch in den 1970er Jahren mit dem Auto nach Einbezug wirklich aller Kosten – auch der indirekten – kaum schneller mit dem Auto vorankam als zu Fuß oder mit Fahrrad. Im Internet geistert das Ergebnis seiner Berechnungen durch allerlei Beiträge und Artikel, wobei die errechnete Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen 2,5 Meilen/h und 10 km/h schwankt – einen nachvollziehbaren Rechenweg hingegen habe ich nicht gefunden. Unter Zuhilfenahme der Grundrechenarten sollte sich jedoch herausfinden lassen, ob das Ergebnis unter den Voraussetzungen des 21. Jahrhunderts immer noch stimmt. Da ich kein Auto besitze, habe ich mich bei motorisierten Freunden erkundigt. Bedauerlicherweise kenne ich nicht alle Annahmen, die Illich 1973 getroffen hat – also treffe ich meine eigenen, die zugegebenermaßen subjektiv geprägt sind.

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Gemäß Leasing-Tabellen fährt der durchschnittliche Deutsche etwa 15-18.000 km /Jahr – aber ich orientiere mich an meinen persönlich erhobenen Daten (die mobile Generation Golf) und komme auf 1800 km / Monat. Ich mag runde Zahlen und rechne mit 40.000 Euro Jahresgehalt – das führt zu halbwegs realistischen Haushaltseinkommen -, und unterstelle einen neuen Kleinwagen, mit Anschaffungskosten von etwa 15.000 Euro, den man durchaus 10 Jahre fahren kann.

Die jährlichen Unterhaltskosten setzen sich wie folgt zusammen: 500 Euro für die Versicherung, 300 Euro für Reparaturen, Reifen, etc. 50 Euro für Verkehrsdelikte (die unvermeidlichen Knöllchen und Fotos), 50 Euro für Parkgebühren, 50 Euro für Steuern. Die 1800 km verursachen an der Tankstelle außerdem Kosten von 170 Euro im Monat (Verbrauch 6,5l / 100 km, Benzinpreis von 1,50 Euro / l). Macht, alles zusammen, knapp 3.000 Euro im Jahr, oder etwa 250 Euro im Monat. Zuzüglich der anteiligen Anschaffungskosten von 15.000 Euro über 10 Jahre, also 1.250 pro Jahr, also 105 Euro pro Monat. Insgesamt erfordert ein Auto mit all seinen dazugehörigen Folgekosten also Ausgaben von 350 Euro pro Monat. Um – wir erinnern uns – 1800 km zurücklegen zu können. Zeit ist Geld, weiß jeder, und Geldverdienen erfordert Zeit.

Zurück also zum Jahresgehalt. 40.000 Euro / Jahre entsprechen 3.300 Euro im Monat, oder 160 Euro / Tag bei durchschnittlich 21 Arbeitstagen im Monat. Brutto, wohlgemerkt. Bei einem Stundenlohn von etwa 17 Euro arbeitet man also 20 Stunden im Monat nur für sein Auto.

Netto gerechnet hingegen (und das Auto wird ja de facto aus den Nettoeinkünften finanziert) verbleibt etwa ein Gehalt von 2.000 Euro, das tatsächlich auf dem Konto landet – also nur noch 95 Euro pro Tag, oder 10, 50 Euro / Stunde – so gesehen arbeitet man eher 33 Stunden für die Fortbewegung.

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Für die zurückgelegten 1800 km im Monat darf man eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 km/h annehmen, man verbringt also ohnehin schon 36 h pro Monat im Auto. Illich rechnet dem -völlig zu recht – die Kosten drauf, die Anschaffung und Unterhalt des Autos erfordern. Und jetzt wird es spannend:

Brutto: 1800 km / (36h + 20 h )= 1800 km /56 h = 32 km /h

Netto: 1800 km / (36h + 33 h ) = 1.800 km / 69 h = 26 km /h.

Das ist nicht so katastrophal langsam, wie Illich seinerzeit ausgerechnet hat – aber wir haben auch mit einem bescheidenen Auto gerechnet, langer Abschreibunsgszeit, günstiger Versicherung, sowie relativ wenigen Langstreckenfahrten auf Autobahnen (daher wenig Staus) – und ohne Folgekosten im Gesundheitssystem nach Unfällen. Hätte das Auto 25.000 Euro in der Anschaffung gekostet und wäre nur 8 Jahre gefahren worden (immerhin eine Laufleistung von 170000 km) – die Kosten wären sprunghaft angestiegen und die effektive Geschwindigkeit wäre auf 21 km /h gefallen. Das wiederum kann wirklich auch mit einem Fahrrad schaffen – im Radwandertempo, wohlgemerkt. Andere kommen übrigens zu ähnlichen Ergebnissen.

Illich hat seine Rechnung damals – wenn ich es richtig verstanden habe – auf aggregiertem Niveau betrieben und auch noch Einsatz und Kosten des Ölsektors einberechnet – das hingegen kann man ja aber nach der modernen Logik des Wirtschaftswachstums als produktiven Sektor betrachten, der seine eigene Berechtigung auch ohne Autos hätte. Das eigentlich interessante ist jedoch gar nicht die oben skizzierte Milchmädchenrechnung – sondern das gedankliche Rahmenwerk drumherum.

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Illich war der Meinung, daß „power” korrumpiert – und zwar elektrische „power” ebenso wie politische „power”. Mit zunehmendem Elektrizitätskonsum, so Illich, begeben sich die Industrieländer zunehmend in Abhängigkeit, bei gleichzeitig steigender Ungleichheit. Angesichts der Ölkrise 1973 wurde deutlich, daß Maschinenkraft nicht unendlich verfügbar sein würde, sondern ein begrenztes Gut – das folglich bei steigendem Bedarf aufgeteilt werden müsse. Aufteilungsfragen sind jedoch untrennbar mit Machtfragen verbunden, und so sah Illich eine Welt voraus, in der eine kleine Elite sich sämtlichen Nutzen der schönen neuen Technikwelt aneignen könne (z.B. weite Flugreisen), während die große Mehrheit zum Sklaven der Technik würde, und verzweifelt im Hamsterrad strampele, um mithalten zu können.

Denkt man darüber nach, sind gerade die kleinen Implikationen erstaunlich: zu Fuß sind tatsächlich fast alle Menschen zwischen 15 und 65 annähernd gleich – auf Fahrrädern ergeben sich erste Unterschiede zwischen einer Rostlaube und einem rassigen Colnago, aber erst bei Autos geht die Schere wirklich auseinander – ein VW Fox ist schließlich nicht mit einer S-Klasse zu vergleichen. In keiner Hinsicht. Technisierung macht irgendwie tatsächlich ungleich. Gleichzeitig passen sich Politik und Infrastruktur an die neuen Gegebenheiten an: mehr Strassen, geradere Strassen, schnellere ICE-Trassen, keine ineffizienten Kopfbahnhöfe mehr – sogar Fahrradwege werden ja im Dienste der schnellen Fortbewegung eingeführt.

Die Lösung des Problems sah Illich darin, daß Gesellschaften sich freiwillig auf einen moderaten Energieverbrauch relativ zum Bruttoinlandsprodukt einigen sollten. Industrieländer sollten seiner Meinung nach einen Schritt zurück tun, und Entwicklungsländer sich den energiehungrigen Maschinen und Technologien von vorneherein widersetzen, um ihre Unabhängigkeit und Gleichheit zu wahren. Beides allerdings bleibt bis heute ein frommer Wunsch.