Nutzerinnen und Nutzer dokumentieren psychische Leiden auch öffentlich in in sozialen Netzwerken. Die Plattformen müssen nun Wege finden, mit Fotos, die Selbstverletzung zeigen oder zur Magersucht anspornen sollen, sensibel umzugehen. Denn das Netz durch ihr Löschen von den Bildern zu bereinigen, hilft Betroffenen wenig.
Das Netz soll ein Ort der Freiheit sein, doch in der digitalen Welt erfahren Nutzerinnen und Nutzer immer wieder, dass ihre persönliche Freiheit beschnitten wird: durch Äußerungen anderer User und durch Inhalte, die im Internet miteinander geteilt werden. In Communitys gibt es verschiedene Ansätze dafür, das Dasein im Netz füreinander so zu gestalten, dass diese Orte den Anforderungen an einen selbst erwählten Freiraum gerecht werden. Denn auch das ist Motivation sich im Netz einer Gemeinschaft anzuschließen: ein hohes Maß an Selbstbestimmung über das Erleben des Onlinealltags aufgrund gezielter Kontakte, gewählter Filter und der Einwilligung in Regeln.
Darum, dass die Absprachen in Communitys eingehalten werden, kümmern sich auf größeren Plattformen oft Moderatoren – professionell oder freiwillig aus der Nutzerschaft hervorgegangen. Sie greifen in Debatten ein, löschen rechtswidrige Inhalte und schlichten in Diskussionen, die in garstige Beleidigungsschlachten ausarten oder wenn Nutzer gemobbt werden. Neben der Moderation arbeiten Onlineplattformen zudem mit Hinweisen, die ihren Besuchern ermöglichen zu entscheiden, ob sie die angebotenen Inhalte anschauen möchten oder nicht, da sie diese unangenehm berühren könnten. In sozialen Netzwerken sind auch Nutzerinnen und Nutzer dazu übergegangen, bei Verlinkungen darauf hinzuweisen, dass die Inhalte nicht bedenkenlos angeklickt werden sollten. Eine der ersten Formen dieser Hinweise war vermutlich das berühmte “nsfw” (not safe for work), dass verrät, dass ein Öffnen der Website am Arbeitsplatz nicht unbedingt ratsam wäre. Doch User tragen auch füreinander Sorge, wenn es um psychische Risiken geht. Mit so genannten Triggerwarnungen werden Links versehen, auf die Inhalte folgen, die Auslösereize für besonders heftige emotionale Reaktionen sein könnten. In Nutzergemeinschaften, die sehr sensible Themen behandeln, gehört es meist zum gemeinsamen Regelwerk, klar zu kennzeichnen, wenn verlinkte Texte, Bilder oder Videos traumatische Erlebnisse möglicherweise wieder aufleben lassen könnten und die Betroffenen erneut psychisch verletzen würden. Vergewaltigungen, Missbrauch und andere Gewalterfahrungen gehören beispielsweise zu den Themen, bei denen Nutzerinnen und Nutzer, die in Selbsthilfegruppen aktiv sind, über Warnungen vor Inhalten neuer Traumatisierung vorbeugen möchten.
Ein bemerkenswertes Selbsthilfeprojekt ist “Project Unbreakable – The beginning of healing through art”. Es ist ein Tumblr-Blog, das den Opfern von sexuellem Missbrauch die Möglichkeit gibt, ihre Erfahrungen mitzuteilen und, wie wie der Untertitel des Blogs besagt, die Beteiligung an dieser digitalen Kunstaktion zur Aufarbeitung des Geschehenen zu nutzen. Grace Brown, die Initiatorin des Projekts, begann Menschen zu fotografieren, die typische Aussagen der Personen, die ihnen Gewalt antaten, als Zitat auf einem Zettel in die Kamera zu halten. Sie könnten sich auf diesem Weg der Worte, die gegen sie verwendet wurden, wieder bemächtigen, so Brown. Sie öffnete das Selbsthilfeprojekt dann über das Blog zur Beteiligung: Nutzerinnen und Nutzer können eigene Fotos einreichen. Täglich kommen nun neue Fotos hinzu, über die Betroffene über das sprechen können, was ihnen angetan wurde.
Bei der Weitergabe einer solchen Website ist es angebracht, auf die mögliche Triggerwirkung der Fotos hinzuweisen. Denn dort sind Worte dokumentiert, die Gewalttäter nutzten um ihre Opfer einzuschüchtern. Worte, die mit traumatischen Erfahrungen und Schmerzen verbunden sind und in ähnlicher Form von vielen Tätern gebraucht werden. Diese Sätze zu lesen kann schon für Menschen ohne Missbrauchserfahrung emotional bewegend und schockierend sein. Für Missbrauchsopfer kann die Konfrontation mit den Erfahrungen anderer umso härter sein und psychische Krisen auslösen – trotz der Intention der Fotoreihe, Mut zu geben und Aufarbeitung zu stützen. Es empfiehlt sich vor dem Teilen von Links zu bedenken, dass eben auch einfühlsame Umgangsweisen mit belastenden Erfahrungen einen Triggerfaktor haben können und es nur schwer einzuschätzen ist, wann etwas jemand anderem zu nahe geht.
Doch es gibt nicht nur Onlinegemeinschaften, in denen Menschen achtsam miteinander umgehen und ihr Handeln danach ausrichten, den anderen nicht zu schaden. Neben Selbsthilfegruppen gibt es auch Communitys, die gemeinsam der Selbstschädigung frönen und sich gegenseitig dazu antreiben, psychischen und körperlichen Schmerz auszudehnen. Pro-Ana-Foren, in denen zumeist Mädchen und Frauen sich gegenseitig zum Abnehmen anspornen und ihre Magersucht dokumentieren, gibt es schon lange. Zu den Websites, auf denen die Anorexie zum Wettbewerb ausgerufen wird, Anleitungen zum Durchhalten, schnelleren Gewichtsverlust und Verschleierung der Krankheit verbreitet werden, gesellten sich auch die Pro-Mia-Websites, die Bulimiekranke zusammenbringen. Auf den Seiten wird diese Art der Essstörung ebenfalls als Lifestyle glorifiziert – oder als frei gewählt, notwendig, harmlos dargestellt. Die Nutzerinnen diskutieren dort, wie sie leichter erbrechen können, wie sich die Sucht vor Verwandten und Freunden verstecken lässt, aber auch, wie die ungewollten Nebenwirkungen und harschen gesundheitlichen Folgen abgemindert werden können.
Autoagressive Verhaltensweisen finden nicht nur im Verborgenen statt. Selbstverletzungen, die offen zur Schau getragen werden, erregen Aufmerksamkeit, können ein Ruf nach Hilfe sein oder stellen Kontakt zwischen ebenfalls Betroffenen her. Insbesondere Letzteres ist über das Dokumentieren der Gewalt gegen den eigenen Körper innerhalb sozialer Medien leichter geworden. Das so genannte “Ritzen”, das ähnlich der Essstörungen über Medienberichterstattung und prominente Bekenntnisse ein bekannter Begriff ist und dessen Schwere zu oft heruntergespielt wird, ist dabei nur eine Form der Selbstverletzung und Selbstgefährdung unter vielen. Doch nicht nur die Möglichkeiten der Vernetzung mit anderen Menschen, auch der Fortschritt technischer Möglichkeiten, das Selbst nicht nur in Text, sondern auch in Bild und Video ins Netz zu bringen, trägt zur Sichtbarkeit von Personen bei, die den eigenen Körper bewusst verletzen. Es ist verstörender – für Betroffene ist es der größere Trigger –nicht mehr nur darüber zu lesen, sondern die Fotos und Videos von anderen außerdem sehen zu können oder sie in Communities mit anderen zu teilen. Durch Feedback über Kommentare und Likes wird das Verhalten als richtiger Umgang mit den eigenen Problemen bestärkt.
Diese Bilder schwappen nun mehr und mehr von eigenständigen Websites und geschlossenen Foren hinüber in die sozialen Netzwerke des Masse. Besonders zu den Plattformen, die besonders auf visuelle Formate ausgerichtet sind oder von Nutzerinnen und Nutzern dafür benutzt werden: Fotosharing-Dienste, Tumblr, Pinterest. Aber auch zu Anwendungen, die dem Trend “Quantified Self” zu geordnet werden können. Für Essgestörte oder Sportsüchtige ist es mit neuen Technologien sehr viel leichter geworden, Ernährungspläne zu erstellen, verbrannte Kalorien zu zählen, Gewichtsverluste zu notieren und sich in einer Kontrollspirale zu verlieren. Auch die harmlose Selbstdokumentation anderer Menschen oder ihr Oversharing der Beschäftigung mit dem Körper können triggern. Süchtige und Gesunde treffen heute in sozialen Netzwerken häufiger auf diese Anlässe als vor ihrer Zeit: Postings über Essen, Sport und Körperfotos sind allgegenwärtig. Zusätzlich zu den Medienbildern von vermeintlich idealen Körpern und mageren Models.
In den Pro-Ana-Communitys wird nicht nur das eigene Hungern dokumentiert, das gegenseitige Triggern funktioniert vor allem über das Posten von Fotos von sehr dünnen Frauen, die Vorbild sein sollen, und Motiven wie herausstechende Hüftknochen, sich deutlich abzeichnende Rippenbögen, hervortretende Schlüsselbeine und andere fettbefreite Körperstellen, die anorektische Menschen als Trophäen wahrnehmen. Diese Anreizbilder werden als “Thinspiration” bezeichnet.
Pro-Ana-Seiten werden, seitdem Jugendschützer und Medien auf sie aufmerksam geworden sind, hart bekämpft. Viele Anbieter löschen sie nach Benachrichtigung mittlerweile direkt oder lassen ihre Angebote gezielt danach durchforsten. In Frankreich wurde sogar im Jahr 2008 ein Gesetzesvorschlag verabschiedet, der die „Anstiftung zur Magersucht“ unter Strafe stellt.
Plattformen wie Tumblr und Pinterest, auf denen einfach und hauptsächlich Fotos gepostet werden, haben mittlerweile mit einer Flut von Bildern, die ausgezehrte Körper oder Selbstverletzungen zeigen, zu kämpfen. Tumblr und Facebook haben in dieser Hinsicht mit der “National Eating Disorder Association” (NEDA) zusammengearbeitet, um ihre Nutzungsrichtlinien anzupassen und Wege zu finden, um Nutzer, die solche Inhalte teilen oder suchen, an Hilfsangebote weiterzuleiten. Tumblr plant, bei Suchbegriffen wie “Anorexie”, “Bulimie”, “proana” oder “Selbstverletzung” auf die Gefahr on Essstörungen und anderen psychischen Erkrankungen hinzuweisen und Beratungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Bei dem jungen Netzwerk Pinterest hingegen verbieten die Nutzungsrichtlinien zwar Inhalte, die Selbstverletzung zeigen und blocken Suchbegriffe wie “selfharm”, die Pinnwände zum Tag “thinspo”, die Nutzerinnen und Nutzer als Hunger-Inspiration betrachten, sind jedoch endlos.
Bei “Thinspiration” gestaltet sich ein Eingreifen zudem schwieriger, als bei Bildern von aufgeschnittenen Armen. Denn wo kann man die Grenze ziehen, ob das Bild eines ausgemergelten Models von jemandem gepostet wurde, der Anorexie triggern möchte, oder ob es um die auf dem Laufsteg präsentierte Mode geht? Wer entscheidet, ab wann der Körper eines Menschen dünn genug ist für die Zensur? Pro-Ana-Seiten sind Ausprägung einer Gesellschaft, die den Bezug zu gesunden Körperbildern verloren hat und Frauen für fragwürdige Ziele belohnt. Sie halten uns im Netz den Spiegel vor. Jedes durchschnittliche Modemagazin und nahezu jeder Hollywoodspielfilm ist pro-anorektisch, nur in gesellschaftlich akzeptierter Form. Ein netzspezifisches Problem ist der gemeinsame Wettberwerb um den niedrigsten Körperfettanteil nicht.
Die Seiten rigoros zu löschen und zu verurteilen, fügt sich ein in die Kultur des Wegsehens und der Problemverkennung. Wenn Esstörungen und selbstverletzende Verhaltensweisen Ausdruck davon sind, sich aus einer Welt zu hungern, zu kotzen und zu schneiden, in der man den richtigen Platz nicht findet und nicht existieren will, ist es ein ignoranter Ansatz den Betroffenen im Netz genau die Orte und den Platz zu nehmen, in denen sie sich eingerichtet haben. Denn oft verlassen Erkrankte hier zum ersten Mal ihre innere Isolation und fühlen sich verstanden. Sicher, die Communitys können weiter gehende Selbstschädigung provozieren und Krankheit manifestieren, doch nicht selten erwachsen aus Foren, in denen Nutzerinnen zunächst den Selbsthass zelebrieren, Selbsthilfegruppen, die Besserung verschaffen oder erste Anstöße, die Krankheit mit professioneller Hilfe zu therapieren. Viele Essgestörte und Depressive finden den Weg, sich helfen zu lassen, heute zunächst über anonyme Online-Beratung. Der Weg zur Heilung ist lang, ebenso lang ist jedoch der Weg zu dem Punkt, eine Heilung zu wollen. Patientinnen, die gegen ihren Willen behandelt werden, genesen seltener.
Es zählt zu den Mythen über Esstörungen, Kalorien und Normalgewicht würden sie kurieren, genau wie von Medien transportierte Körperideale für die Sucht, verschwinden zu wollen, verantwortlich gemacht werden können. Vom Löschen eines Pro-Ana-Blogs wird keine Hungerkünstlerin gesund. Es ist eine billige und naive Sichtweise auf komplexe Erkrankungen wie Magersucht, die Ursachen vorrangig in Fotos dünner oder zerbrechlich zurecht retuschierter Frauen zu suchen.
Die Sisyphusarbeit, Nutzerinhalte aus dem Netz zu entfernen, die psychische Leiden sichtbar machen, mag politisch korrekt erscheinen, sie hilft den Betroffenen jedoch wenig und wird Neuerkrankungen kaum verhindern können.
Denn es ist nicht das Netz, das krank ist und krank macht, es sind nicht die bloggenden Bulimiker und ritzende Teenager, die verrückt sind. Bilder, die zum Hungertod inspirieren sollen, geht eine Wirklichkeit voraus, die zum Kranksein und Kotzen inspiriert.