Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

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Das Fernsehen ist tot, so künden es die Netz-Evangelisten. Aber das nächste große Ding, welches das Lagerfeuer des 20 Jahrhunderts ersetzen könnte, zeigt sich derzeit nur schemenhaft von ferne.

Das Fernsehen ist tot, so künden es die Netz-Evangelisten. Aber das nächste große Ding, welches das Lagerfeuer des 20 Jahrhunderts ersetzen könnte, zeigt sich derzeit nur schemenhaft von ferne.

Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der unablässig sein Smartphone schwenkte, auf den Medienkongress lief und schrie: „Wohin ist TV?” rief er, „ich will es euch sagen! TV ist tot. Wir haben es getötet, Ihr und ich! Das mächtigste Medium, das die Welt besaß, ist unter unseren Messern verblutet. Wer wischt dieses Blut von uns ab? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Inhaltelieferanten werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?”

So oder ähnlich könnte es sich lesen, müsste sich der Philosoph Friedrich Nietzsche heute Gedanken um das Fernsehen machen. Im Unterschied zu zukunftszugewandten Zeitgenossen, die heute auf Kongressen und Branchenveranstaltungen den Tod des Fernsehens ausrufen, wäre sich Nietzsches toller Mensch aber dessen bewusst, dass die Zeit für seine Erkenntnis erst noch reifen muss: “Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden.”

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Eine andere Lesart wäre: Der tolle Mensch hat das Totenglöcklein für das gute, alte Fernsehen vielleicht nur zu voreilig geläutet. Von den Vitaldaten her gesehen steht das Medium eigentlich noch gut im Saft: Wie der RTL-Werbevermarkter IP Deutschland in seinen „European Key Facts” darlegt, ist 2011 in der EU mehr ferngesehen worden denn je: „Mit 230 täglichen Fernsehminuten konnte der Rekordwert des Jahres 2010 um zwei Minuten übertroffen werden.” Die ARD meldete im Juni Rekordquoten für die Übertragungen von der Fußball-Europameisterschaft. Business as usual, soweit das Auge reicht. Weder in den Zuschauerzahlen noch in den Werbeerlösen der Sender sind derzeit Einbrüche zu verzeichnen. Doch Henry Blodget, zu Zeiten des Dotcom-Hypes Analyst bei Investmentfirmen und heute CEO und redaktionell Verantwortlicher des US-Infodienstes „Business Insider” warnt die TV-Industrie davor, sich in falscher Sicherheit zu wiegen wie zuvor die Zeitungsbranche: „Das Leserverhalten hat sich geändert, während die Vertriebserlöse und Anzeigenumsätze der Verlage noch stiegen. Als die Entwicklung aufs Geschäft durchschlug, wurde es heftig – so heftig, dass viele Blätter dichtmachten oder hart an der Pleite vorbeischrammten.” Eine ähnliche Entwicklung stehe auch dem TV-Markt bevor. Die Veränderungen im Zuschauerverhalten träten in Blodgets eigenen Haushalt bereits klar zutage: Statt zur regulären Sendezeit würden TV-Formate fast nur noch „on demand” gesehen – und zwar ohne Werbung. Das Programm flimmert nicht unbedingt über den TV-Bildschirm, sondern alternativ auch auf dem iPad, Laptop oder Smartphone. Nachrichten sucht man sich Internet zusammen, Artikel für Artikel, Videoclip für Videoclip. „So wie bei uns läuft das inzwischen in vielen Haushalten”, so Blodget. Und es ist daher für den früheren Merill-Lynch-Analysten nur eine Frage der Zeit, bis die Schockwellen dieser Entwicklung die TV-Branche erschüttern.

Nun gut, man könnte entgegnen, in Europa gehen die Uhren etwas anders, und Blodgets Analysten-Karriere endete durchaus nicht rühmlich. Aber reicht das, um sich als Senderverantwortlicher zurückzulehnen – oder darauf zu hoffen, dass sogenanntes Social TV (die Einbindung von Formaten in Facebook-Präsenzen und programmbezogenes Twittern) das Publikum dauerhaft bei der Stange hält? Markus Hündgen, Videojournalist und netzbekannt unter dem Pseudonym „Videopunk”, schmettert der TV-Branche jedenfalls ein düsteres „No Future”-Ständchen: Das junge Publikum wird nicht erreicht, die TV-Industrie habe zudem enorme Schwierigkeiten, sich dem neuen Zeitgeist des demokratisierten Kommunikationsmittels “Video” anzupassen. Und in Social-TV sieht Hündgen nur lebensverlängernde Maßnahmen, die nichts daran ändern können, „dass das Medium seine besten Jahre hinter sich hat.”

Mit seiner Beobachtung, dass eine wachsende Anzahl Menschen sich vom TV abwendet, liegt Videopunk Hündgen sicher nicht falsch. Ich selber bin seit ziemlich genau zehn Jahren von regelmäßigem Fernsehkonsum weg. Damals rauchte das Gerät kurz vor der Fußball-WM ab, und ich wollte mal austesten, wie lange ich es aushalte ohne. Die Monate und Jahre gingen ins Land, und nicht mal das irgendwann von meiner Frau in den gemeinsamen Haushalt eingebrachte Gerät holte mich zurück vor den Schirm. Aber was beweist das? Ich kenne auch etliche Leute, die kein UKW-Radio mehr hören, sondern allenfalls exotische Audiostreams aus dem Web oder was das iTunes-Konto halt so hergibt. Aber daran ist der werbe- und gebührenfinanzierte Hörfunk auch nicht gestorben. Bislang zumindest.

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Sicher scheint so viel: Auf den Fernsehgeräten der neueren Generation konkurriert das lineare Programm der TV-Sender zunehmend mit allerlei Web-Inhalten oder auch den eigenen Urlaubsfotos. Hinzu kommt: Was auf dem großen Bildschirm flimmert, muss sich die Aufmerksamkeit im Wohnzimmer zunehmend mit einem zweiten Bildschirm teilen, dem Smartphone, Tablet oder Notebook. Laut einer Studie von Bitkom/Goldmedia nutzen bereits 77 Prozent der Deutschen parallel zum TV das Internet. Für das Programm ist das einerseits eine Bedrohung, aber auch die Chance, das Publikum auf dem Parallelkanal zusätzlich einzubinden. Aber auch dabei stecken die Sender „zwischen Pest und Cholera”, wie es Claus Sattler von Goldmedia ausdrückt: Werden ihre Programme zum Hintergrundrauschen für die Social-Media-Chats ihrer Zuschauer oder können sie die zum Teil gewaltige Fanbasis für ihre Formate erfolgreich nutzen und künftig auch kapitalisieren?

Wo die Entwicklung tatsächlich hingeht, ist derzeit nicht so klar. Begriffe wie IPTV, Google TV, Apple TV, Hybrid-TV stecken einen Möglichkeitsraum ab, in dem diverse neue Mitspieler versuchen, ein Stück vom traditionellen TV-Kuchen abzubekommen – und die vermeintlichen Strukturprobleme des Fernsehens in ihrem Sinne zu lösen. Dabei sollte nicht völlig in Vergessenheit geraten, was das Fernsehen einst so groß gemacht hat: das unschlagbar einfache User Interface, Anschalten und vielleicht noch umschalten, das war‘s schon. Mit dem Anstöpseln von smartcard-bewehrten Kabel- oder Satellitenboxen und dem Programmieren von Videorecordern wurde es schon komplizierter – und mit Festplattenrekordern, IPTV, Netflix, Hulu, Bit Torrent, Google TV und Apps wie Couchfunk steuert das Medium vor lauter Digitalisierung geradewegs in die Komplexitätsfalle. So ist der vielzitierte „Krieg um die Augäpfel” zwischen TV- und Computerindustrie, den der damalige Intel-Chef Andy Grove in den späten 90ern heraufziehen sah, jedenfalls nicht zu gewinnen. Oder anders ausgedrückt: Kann schon sein, dass das Fernsehen tot ist, aber wo lebt denn sein Nachfolger?