Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Die Sucht geht nicht vom Bildschirm aus

Eine halbe Million Menschen sollen laut einer Studie des Gesundheitsministeriums mehr surfen, als ihnen gut tut. Doch es sind andere Faktoren als eine hohe Internetnutzung, die das Risiko einer Sucht erhöhen.

Eine halbe Million Menschen sollen laut einer Studie des Gesundheitsministeriums mehr surfen, als ihnen gut tut. Doch es sind andere Faktoren als eine hohe Internetnutzung, die das Risiko einer Sucht erhöhen.

Es ist ein Tweet, der Sachlichkeit suggerieren soll. Die Bundesregierung nehme die „Suchtgefahr durch Internet ernst“, twittert der Regierungssprecher Steffen Seibert am Montagnachmittag. Eine Studie, in Auftrag gegeben von der Bundesregierung, habe nachgewiesen, dass der Internetkonsum von über 500.000 Menschen in Deutschland krankhafte Züge aufweise. Seiberts Tweet linkt auf ein Video, in dem die Drogenbeauftragte Mechthild Dyckmans zur Frage „Wann wird aus Spaß Ernst?“ Stellung nimmt. Die kulturellen Vorbehalte gegenüber der digitalen Welt werden in den Antworten der 62-jährigen Politikerin und dem Begleittext des Videos schnell klar: „Vor allem Jugendliche verwechseln zu oft die virtuelle mit der realen Welt“, heißt es dort, Dyckmans spricht erneut von „Gefahren“. Das Thema Internetsucht, an anderer Stelle auch exzessive Mediennutzung genannt, ist Schwerpunktthema der Drogenbeauftragten in diesem Jahr.

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Die virtuelle Welt ist in diesem kulturellen Verständnis also nicht echt, vielleicht eine Art Unterwelt, eine Flucht in den Tagtraum, ein netter Zeitvertreib. Der Ernst des Lebens, der findet woanders statt. Dort ist es sicher. Die Gefahren lauern in der neuen Drogenwelt, in der Christiane F. nicht mehr heroinabhängig ist, sondern chatsüchtig – mit dem Log-in in der Armbeuge.

Doch Jugendliche verwechseln nicht das Offline-Leben mit dem Online-Leben; sie unterscheiden zwischen diesen Sphären in der Regel nicht mehr. Die Teenager von heute haben den Zugang zum Internet nicht als Öffnung einer magischen Tür in eine neue Welt erlebt sondern als Selbstverständlichkeit. Wenn die Vermittlung möglicher Abhängigkeitspotenziale gelingen soll, muss das von den besorgten Erwachsenen verstanden werden. Die Nutzung des Netzes wird völlig anders erschlossen als der Konsum von Alkohol, Drogen und anderen Genussmitteln und Verhaltensweisen, die körperliche oder psychische Abhängigkeiten erzeugen. Aufgrund der Verschmelzung der Welten können Zeit oder Häufigkeit der Nutzung des Internets auch nur als schwache Indikatoren für ein möglicherweise krankhaftes Verhältnis zum Medium betrachtet werden. Eine verantwortungsbewusste Kommunikation, die auf einen konstruktiven Dialog zwischen den Generationen uns insbesondere das Verhältnis von Kindern und Erziehungsberechtigten setzt, sollte dies beachten. Die Regulierung der Zeit, die Kinder und Jugendliche im Netz verbringen, ist keine geeignete Prävention. Sie könnte sogar ins Gegenteil umschlagen, wenn sie soziale Kontakte abschneidet, Explorationen verhindert und den Zugang zu Wissen verhindert. Doch was bedingt, dass Kinder und Jugendliche überhaupt große Teile ihrer Freizeit „im Netz“ verbringen? Ist es das Suchtpotenzial, was ein Computer oder ein Smartphone durch seine bloße Anwesenheit entfaltet, oder ein Mangel an alternativen Angeboten und Ansprechpartnern, die dazu ermutigen oder helfen, Freizeit anders zu gestalten?

Die Forschungslage zum pathologischen Internetgebrauch in Deutschland ist dünn, die öffentliche Diskussion wird über die Stränge Kompetenzerwerb und Verbote geführt. Doch wichtige Fragen, die man der Einschätzung zur Gefahr des Netzes voranstellen sollte, sind: Was wissen wir über das Leben von Kindern und Jugendlichen und ihre soziale Situation? Was wissen wir über ihre Kommunikation? Was wissen wir über Lernverhalten in der digitalen Gesellschaft? Wie setzen wir die Zeitspanne der Pubertät in ein Verhältnis zur Lebenssituation von Erwachsenen? Wie lange dürfen Kinder spielen – und warum blicken wir argwöhnisch oder herablassend auf Jugendliche und Erwachsene, die ihren Spieltrieb nicht verlieren oder unterdrücken?

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Das Internet – vielleicht, weil es für jeden von uns etwas anderes bedeutet und die Entwicklung seiner Möglichkeiten niemals still steht – erfährt selten sachliche Behandlung. So sehr wie es gefürchtet wird, so sehr wird es gehypt, obgleich wir sehr genau wissen, dass es weder den Weltfrieden, die Vollbeschäftigung, noch das ewige Leben ermöglichen wird.

Tagelang in Legolandschaften verweilt, nächtelang mit der Tachenlampe unter der Decke Bücher gelesen, stundenlang mit der besten Freundin telefoniert, den ganzen Sommer in der Fantasiewelt um das Baumhaus herum verbracht. Viele Kindheiten weisen Episoden auf, in denen sich die Heranwachsenden äußerst einseitig, vielleicht auch eigenbrödlerisch mit Dingen beschäftigen und sehr viel weniger schlafen, als Eltern es vermuten oder für gut befinden. Doch bereitet das Bauen einer Website weniger auf das später Leben vor, als das Zusammenzimmern eines Baumhauses? Kinder und Jugendliche zu verstehen mag für ältere Menschen im Anbetracht des Medienwandels komplexer werden, denn was diese in den Weiten des Netzes tun, können wir nur wissen, wenn wir sie fragen. Ob das, was sie dort tun, sinnvoll ist und für ihre Zukunft sein wird, lässt sich auch dann, wenn die Nutzungsformen bekannt sind, kaum sagen. Die gleiche Unsicherheit besteht bei der derzeitigen Schulbildung.

Suchterkrankungen sind immer komplex und entwickeln sich aufgrund von mehr als einem Auslöser. Auch das sollte in der Kommunikation zur problematischen Internetnutzung nicht vergessen werden. Die für die Studie „Beratungs- und Behandlungsangebote zum pathologischen Internetgebrauch“ befragten behandelnden Ärzte und Therapeuten „stimmen darin überein, dass ihre Klientinnen und Klienten neben dem pathologischen Internetgebrauch sehr häufig zusätzliche psychiatrische Auffälligkeiten“ zeigten: Depressivität und soziale Ängste, defizitäre soziale Kompetenzen bei gleichzeitig hohem Anlehnungs- und Mitteilungsbedürfnis, Ambivalenz hinsichtlich Nähe und Distanz zu Anderen sowie Selbstwertprobleme, die aus der Prägung durch negative Beziehungserfahrungen und dem Leben in schwierigen Familiensituationen resultierten. Das zweite Forschungsprojekt „Exzessive Mediennutzung von Patienten in der Rehabilitation Suchtkranker“, das auf der Internetpräsenz der Drogenbeauftragten prominent verlinkt ist, untersucht die „Medienproblematik“ nur als Nebendiagnose zu einer Hauptdiagnose aus der Substanzabhängigkeit. In der internationalen Forschung scheint sich die Auffassung durchzusetzen, den pathologischen Internetgebrauch als Suchtstörung in Analogie zu substanzbezogener Abhängigkeit zu verstehen. Doch genau wie beim Drogenmissbrauch kann die Feststellung dazu, dass er geschieht, nur der erste Schritt sein. Die wichtige Frage ist das ‘Warum?’. 

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Der Risikofaktor, der einen exzessiven Internetgebrauch begünstigt und zu einer schädlichen Vernachlässigung anderer Dinge führen kann, ist jedoch nicht die fortschreitende Digitalisierung der Welt. Die Studie des Bundesgesundheitsministeriums führt hier soziale Ängstlichkeit, soziale Isolation, geringes Selbstwertgefühl sowie Schüchternheit an. Zudem erhöhten „auch familiäre Faktoren wie beispielsweise familiäre Entfremdung und der Alkoholkonsum von Angehörigen die Wahrscheinlichkeit, pathologischen Internetgebrauch zu entwickeln“. Die Jugendlichen erkranken also vor allen Dingen aufgrund ihrer sozialen Situation, ihr Unwohlsein äußert sich lediglich häufiger über eine Symptomatik, die neu scheint. Die Betroffenen sind laut Studie vorrangig Onlinerollenspieler, die wesentlich kleineren identifizierten Gruppen sind süchtig nach Onlinesex, nach Chats und nach Shopping. Von “Internetsucht” zu sprechen ist daher vor allem sprachlich ungenau.

Das Internet an dieser Stelle zu verteufeln wird Betroffenen oder Gefährdeten nicht helfen, ähnlich wenig wie die Medienkompetenz, die gern als geeignete Prävention verkauft wird. Denn ein bewusster Umgang mit der Internetnutzung schützt nicht vor familiärer Belastung und anderen Umweltbedingungen, die Persönlichkeitsstörungen begünstigen. Das Wissen um die Gesundheitsgefährdung durch Drogen schützt selten vor dem Ausprobieren und noch weniger vor Abhängigkeit.

Das Beispiel „Onlinesucht“ zeigt wieder einmal, wie wichtig sensible Wissenschaftskommunikation ist, die Erkenntnisse differenziert aufbereitet, anstatt auf leicht zu verkaufende Schlagworte zu setzen, die dem Zeitgeist des Internetskeptizismus entsprechen. Die Flucht ins Internet sollte uns nicht vor der digitalisierten Gesellschaft warnen, sondern vor einer entfremdeten, in der die eigentliche Gefahr für die Zukunft von Kindern und Jugendlichen nicht der Zugang zum Netz ist, sondern Armut, Chancenungleichheit und die soziale Situation ihrer Familien.

Wer die These hinnimmt, Onlinesucht sei ein wachsendes gesellschaftliches Problem, verursacht durch den Reiz des Internets, macht die gleichen Fehler, wie die Vorwürfe gegenüber der mediatisierten Welt oftmals lauten: oberflächlich werden Zahlen und Beobachtungen interpretiert, für einen tieferen Blick in die Ursachen fehlt die Zeit – oder der Wille.