Buchstaben kann man abschreiben, Zahlen kann man fälschen und Wissenschaftsbetrug kommt in den besten Familien vor.
In diesen Tagen wird die Dissertationsplagiatsdebatte in Deutschland zwei Jahre alt, und pünktlich zum Jubiläum fordert sie ein weiteres Opfer. So wenig Verständnis ich für wissenschaftlich fragwürdiges Verhalten habe, kommt mir die Diskussion zunehmend selbstreferentiell vor. Viele finden, daß man dem gesellschaftlichen Promotionswahn Grenzen setzen sollte, indem der Titel nicht mehr Bestandteil des Namens ist, viele finden, daß man das Dissertationswesen reformieren sollte – aber passiert ist bisher nicht viel. So dringend scheint der Wunsch nach Veränderung dann doch nicht zu sein.
Im Ausland werden wir mit unserem Wahn belächelt. Als letzte Verteidigung für unsere sonderbaren Maßstäbe können allenfalls die Österreicher herangezogen werden, die sogar ihren Bachelortitel ins Telefonbuch drucken lassen. Der Rest der Welt hingegen trennt zwischen forschungsnahen Berufen, wo der Titel notwendig ist – und dem Alltag, wo er keine Bedeutung hat.
Dabei ist es bezeichnend, daß die Plagiatsdebatte bislang fast ausschließlich um sozialwissenschaftliche, qualitative Promotionen kreist. Das Internet macht es möglich, daß jeder Trottel sich eine Doktorarbeit zusammenkopieren kann – gleichermaßen kann sich jeder Trottel theoretisch mit Google auf die Suche machen. Textstellen zu vergleichen ist ja nicht besonders schwierig. Den wissenschaftlichen Appendix, die Datenreihe oder den experimentellen Aufbau einer quantitativen oder naturwissenschaftlichen Promotion hingegen hat sich meines Wissens noch niemand vorgenommen, denn ohne vertiefte Fach- und Methodenkenntnis kommt man da nicht weit.
Dabei fahren die Sozialwissenschaften seit einigen Jahren zunehmend zweigleisig, wie ja im Kölner Methodenstreit sehr schön deutlich wurde. Auf der einen Seite die Verfechter wortbasierter Analyse, auf der andere diejenigen formalisierter Mathematik als Hilfsmittel. Letzteres dient in manchen Kreisen geradezu als Distinktionsmerkmal, und ein Philosophiedoktorand hätte vermutlich in solcher Gesellschaft einen schweren Stand – wobei man mit Pauschalisierungen fast immer zu kurz greift. Wer nämlich Wittgenstein oder Russell begreifen kann, würde bei entsprechendem Bemühen vermutlich auch Differentialgleichungen verstehen.
Niemand mit ein wenig gesundem Menschenverstand würde behaupten, daß sich soziale Phänomene unbeschränkt in mathematische Rahmenwerke pressen lassen – aber die Mathematisierung hat Vorteile, nicht zuletzt, weil der Betrug in solchen Fächern deutlich schwieriger ist.
Mathematik ist eine einheitliche Sprache, die auch über Länder- und Kulturgrenzen hinweg Verständnis zwischen Forscher ermöglicht. Wenn die wesentlichen Ideen oder Argumente in Texten vorgetragen werden, gibt es immer ein subjektives Element. Bestimmte Worte haben ihre eigene Konnotation, je nachdem ob jemand Muttersprachler ist oder nicht, manche Worte lassen sich gar nicht übersetzen, manche Phänomene ebensowenig, und was für den einen eine zwingend logische Argumentation ist, hat für jemand anderen analytische Lücken, oder völlig andere Voraussetzungen. Am Ende ergeben sich unter Umständen endlose Debatten über unterschiedliche Sichtweisen, die sich kaum auflösen lassen, weil sie nunmal zwangsläufig subjektiv sind.
Anders bei formelhaften Modellen. Mathematik ist universell und international, mit all ihren Implikationen. Die strukturierte Vorgehensweise dieser Forschungsansätze hat außerdem den Vorteil, daß die Voraussetzungen, Grundannahmen, Implikationen und Schlußfolgerungen schneller deutlich werden. Darüber hinaus hilft es, daß mathematische Grundwahrheiten weitgehend unbestreitbar sind – und die mit ihrer Hilfe erreichten Ergebnisse damit auch leichter nachvollziehbar werden. Ein Beweis ist ein Beweis, und statistisch signifikant ist statistisch signifikant.
Insoweit zum Beispiel volkwirtschaftliche Forschung vor allem in Fachaufsätzen und Zeitschriften stattfindet, greift schon bei ambitionierten kumulativen Dissertationen die Kontrolle durch “peer reviews” und “referees”. Zwar werden dabei nicht notwendigerweise die Originaldaten eingehend geprüft, aber spätestens die Publikation erfordert meistens einen Datenappendix online, und dann kann jeder die Ergebnisse nachrechnen. In manchen Doktorandenkursen in den USA ist es sogar Kursbestandteil, berühmter Forscher Aufsätze zu replizieren. Grundsätzlich kann man ja nicht einfach das Bruttosozialprodukt eines Landes hochdrehen, oder eine Region als demokratisch klassifizieren, wenn sie es nicht ist. Häufig werden auch Datensätze nach der ersten Veröffentlichung von Kollegen für weiterführende Arbeiten verwendet, und so fallen Fehler und Manipulationen früher oder später auf.
Natürlich existieren Spielräume und die Grenze zwischen zulässiger, und massiver Datenmanipulation ist fließend. Offiziell werden Werte logarithmiert oder standardisiert, weil das mathematisch sinnvoller ist – de facto allerdings genauso oft, weil die Ergebnisse damit erfreulicher oder konstruktiver ausfallen. Immerhin, gerade bei aktuellen Themen werden Datenqualität und angemessene Verwendung lebthaft diskutiert – und je größer der Interpretationsspielraum, desto leidenschaftlicher die Debatte.
Auch in den Naturwissenschaften plagiiert es sich nur mühsam – wenn überhaupt, werden eher Daten gefälscht. Auch da allerdings greifen zumindest begrenzt Kontrollmechanismen. In Forschungsgruppen wird gegenseitig kontrolliert, bereits existierende Ergebnisse setzen der Phantasie ebenfalls Grenzen und wichtige Experimente werden auch hier repliziert – wenn dann etwas völlig anderes rauskommt, ist das verdächtig und kann auch durchaus Forscherkarrieren beenden.
Zugegebenermaßen – es ist wesentlich schwieriger als bei Plagiaten, wissenschaftliches Fehlverhalten dieser Art aufzudecken, zumal es häufig keine eindeutige Strafe gibt (manchmal nicht mal einen eindeutigen Beweise für Datenmanipulation, wenn statistisches Rauschen ins Spiel kommt, das als alternative Erklärung dienen kann). Dennoch gab es im Laufe der Zeit natürlich eine Reihe von Skandalen, die gelegentlich auch höhere Wellen schlugen – man denke nur an den koreanischen Stammzellforscher mit seinen Totalfälschungen, oder die Debatte um einen deutschen Professor, der seine eigenen Publikationen zurückzog, weil ihm statistische Fehler unterlaufen waren.
Andererseits gibt es auch Gelegenheiten, wo zwei Wissenschaftler unabhängig voneinander in ihrer Forschung nahezu das Gleiche erfunden haben – schlecht für denjenigen, der als zweites publiziert, aber beide eine Zierde für ihren Stand. Immerhin den Nobelpreis kann man sich in solchen Fällen teilen – wie zum Beispiel Felix Bloch und Edward Mills Purcell 1952 für die Entdeckung der Kernspinresonanz.
Am Ende jedoch, wie bei den meisten verbotenen Dingen, kann man über das Ausmaß von Schande und Schaden nur mutmaßen – ganz sicher gibt es viele anständige Forscher, und ganz sicher auch noch viel Arbeit für Betrugsjäger.