Eine der ersten Lektionen, die ein angehender Sozialwissenschaftler lernt, ist: Korrelation ist keine Kausalität. Das kam hier schon öfter vor, ist eigentlich simpel, und dann doch wieder so leicht zu übersehen. Natürlich nicht, wenn man sorgfältig darüber nachdenkt oder sich hauptberuflich mit diesem feinen Unterschied befasst – wohl aber im Alltag, oder im entspannten Gespräch.
Perfiderweise nämlich sind manche Zusammenhänge intuitiv so eingängig, oder vielleicht auch so wünschenswert, daß man den Unterschied gerne übersieht oder gar bewußt vergißt. Andere Korrelationen wiederum widersprechen so offensichtlich dem gesunden Menschenverstand, daß niemand sie ernst nehmen würde. Die Sache mit den Störchen und den Kindern zum Beispiel.
Man wäre versucht, das Thema als völlig irrelevant abzutun, dabei ist es eigentlich gar nicht uninteressant. Der Ursprung ist offenbar in skandinavischen Kulturen und Zeiten zu suchen, als man noch an Tümpel und Seengebiete als Aufenthaltsort von Seelen glaubte – eben dort, wo auch Störche gerne nisten. Dies, und die romantische Tatsache, daß Störche tatsächlich lebenslang einem Partner treu bleiben, gepaart mit dem Bedürfnis des prüden 19. Jahrhunderts nach einer unverfänglichen, kindertauglichen Erklärung für Empfängnis aufzukommen, dürften die Verbreitung der Legende bis heute erklären.
Das alles – und der unabweisbare statistische Zusammenhang. Den gibt es nämlich offenbar tatsächlich. Diverse Forscher haben sich mehr oder weniger ernsthaft dieser bedeutsamen Frage gewidmet und kommen zu dem Ergebnis, daß es einen klaren statistischen Zusammenhang gibt: so bewegen sich zum Beispiel in Berlin und Umland wie auch in Niedersachen Geburtenrate und Storchenpopulation durchaus annähernd parallel. Ähnliches scheint auch im länderübergreifenden Vergleich zu gelten, je mehr Störche desto höher die Geburtenrate, bestätigen Daten für 17 europäische Länder. Letzteres ist zugegebenermaßen keine sehr große Stichprobe, aber die Beständigkeit des Zusammehangs in diversen Kontexten ist doch verblüffend.
Das größte Problem des kausal denkenden Statistikers ist es, möglichst alle in Frage kommenden “intervenierenden Variablen” zu berücksichtigen, welche die beiden hauptsächlich untersuchten Variablen gleichermaßen beeinflussen könnten – und damit die Korrelation begründen, auch ohne daß Kausalität dahintersteht. Bei der Lösung dieses Problems hilft auch die größte Rechnerkapazität nicht weiter, es erfordert eine gute Idee, oder wenigstens umfangreiche Daten. Bezüglich der Störche im Ländervergleich ist eine solche intervenierende Variable schnell gefunden: die Industrialisierung ist schuld! Industrialisierung nämlich schränkt den Lebensraum des Storchs ein – und verändert das Fortpflanzungsverhalten der Menschen. Bezieht man ein Maß für den Industrialisierungsgrad in die Analyse mit ein, verschwindet der Zusammenhang zwischen Störchen und Kindern.
Die innerdeutsche Korrelation hingegen ist schon schwieriger zu erklären – allerdings wurden dabei die Kinder der Stadt Berlin mit den Störchen im Brandenburger Umland unsachgemäß in einen Topf geworfen, so daß man diesen bahnbrechenden Aufsatz notfalls auch ignorieren kann.
Beim Kindersegen gibt es überhaupt allerhand empirische Regelmäßigkeiten, mit deren Erklärung sich die Forschung immer noch schwer tut – sogar solche, wo ein echtes Erkenntnisinteresse gegeben ist. Das Verhältnis von Mädchen und Jungen bei Empfängnis und Geburt, zum Beispiel. Abseits der unzähligen Foren zukünftiger Mütter, die sich der Frage mit einem ganz unwissenschaftlichen Interesse, dafür aber unendlicher Hingabe widmen, gibt es dazu tatsächlich ernsthafte Forschung.
Überall auf der Welt werden geringfügig mehr Jungen als Mädchen geboren – der Unterschied ist klein, auf 100 Mädchen kommen etwa 105 Jungen, aber so beständig vorhanden, daß es kein Zufall sein kann. Zwei wesentliche Einflußfaktoren sind offenbar der Zeitpunkt der Empfängnis und der Zustand der Mutter. Möglicherweise sind die kleineren und leichteren Y-Chromosen potentieller Jungs im Vorteil, wenn die Eltern vor dem Eisprung aktiv werden – weil sie schneller sind auf dem Weg zur Eizelle. Andererseits sind die armen Jungs etwas sensibler, halten nicht so lange durch – so daß später im Zyklus, nach dem Eisprung, die weiblichen Chromosomen eine größere Erfolgschance haben.
Sämtliche Empfehlungen zur Ernährung hingegen gehören vermutlich ins Reich der Gerüchte – mit Ausnahme der Tatsache, daß kräftigere und gesündere Mütter tendenziell eher Jungen bekommen, während zarte oder zierliche Frauen zu Mädchen tendieren. Das gilt für guternährte Frauen in Industrieländern, aber auch für hungernde Frauen in Entwicklungsländern, und bestätigt sich ebenso in Krisenzeiten. Ob das allerdings ebenfalls darauf zurückzuführen ist, daß zukünftige Männer bereits in diesem frühen Stadium weniger widerstandsfähig sind als zukünftige Mädchen, ist unklar.
Hinzu kommen unzählige genetische Faktoren, familiäre Veranlagung, weitere äußere Einflüsse, und auch Soziologen haben eine Meinung zum Thema. In vielen Kulturen waren Söhne historisch komplizierter zum Erfolg zu führen als Töchter – Mädchen wurden im heiratsfähigen Alter einfach verheiratet, und die Familie erhielt in Kulturen mit Brautpreistradition sogar noch einen Ausgleich für ihre Mühen. Söhne hingegen mussten möglichst erfolgreich sein, um eine gute Partnerin heiraten zu können, was weniger berechenbar war. Salopp gesagt: Mädchen lassen sich in der sozialen Hierarchie sehr viel leichter nach oben bewegen als Jungs, so daß die Chance auf den Fortbestand der Familie für weniger privilegierte Familien eher durch Töchter als durch Söhne zu sichern war. Solche Hypothesen würden allerdings eine Interaktion zwischen subjektiver Wahrnehmung und biologischen Faktoren voraussetzen – ganz abgesehen davon, daß die zugrundliegenden Vorstellungen reichlich archaisch sind.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: in der Ausgangssituation, beim Mann, sind die Chancen für männliche und weibliche Kinder noch nahezu identisch, aber irgendwo in den nächsten 9 Monaten verschieben unzählige Einflußfaktoren die Wahrscheinlichkeit in verschiedene Richtungen – welches Geschlecht am Ende in der Wiege liegt, scheint fast schon wieder zufällig. Alles dazwischen ist hinsichtlich der Wirkungsmechanismen noch immer eine „black box“.
Ist das Kind dann da, kann man immerhin etwas dafür tun, daß es später Erfolg auf dem Heiratsmarkt hat – und ihm den richtigen Namen geben. Eine amerikanische Forscherin hat vor einigen Jahren Fotos von Bekannten mit wechselnden Namen auf der Internetseite „hot or not“ veröffentlicht – und festgestellt, daß bestimmte phonetische Merkmale des Namens die Wahrscheinlichkeit, daß Frauen und Männer als „hot“ or „not so hot“ bewertet wurden, tatsächlich verändert. Vereinfacht gesagt machten Namen mit kurzen, hellen Vokalen (e,i) denselben Mann attraktiver für die Bewertenden – während Frauen attraktiver wurden durch Namen mit tiefen, runden Vokalen (u). Allerdings handelte es sich dabei fast ausschließlich um amerikanischen Namen, und vermutlich vorwiegend um englischsprachige Teilnehmer – ob sich die Ergebnisse wirklich auf Dietlinde und Helmut übertragen lassen, ist unklar. Von dem zugrundeliegenden Mechanismus gar nicht zu reden; der ist nämlich eine weitere Black Box, welche die Forschung noch nicht öffnen konnte.