Deus ex Machina

Deus ex Machina

Über Gott und die WWWelt

Rasterfahndung nach Rucksackträgern

Bei der fieberhaften Suche nach den Bombenlegern von Boston haben sich übereifrige Netzbewohner nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Aber auch die etablierten Medienbetriebe haben ihre Lektion aus dem Fall zu lernen.

Wie genau es zuging, dass der Student Sunil Tripathi im Internet fälschlicherweise als einer der beiden Hauptverdächtigen des Bostoner Bombenanschlags gehandelt wurde, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei nachvollziehen. Ohrenzeugen wollten den Namen (und auch einen weiteren, Mike Mulugeta) im Polizeifunk des Boston Police Departments gehört haben. Andere Nutzer meinten, im Bild des seit Wochen vermissten Tripathi eine frappierende Ähnlichkeit mit einer der Personen auf den Fahndungsfotos des FBI zu erkennen. Kurz darauf machten die Namen auf Twitter und Reddit die Runde und verbreiteten sich in Windeseile um die Welt. Ein Tweet vom offiziellen Anonymous-Account („Police on scanner identify the names of #BostonMarathon suspects in gunfight, Suspect 1: Mike Mulugeta. Suspect 2: Sunil Tripathi.“) wurde tausendfach retweetet.

© FAZ 

Für ein paar Stunden sah es tatsächlich so aus, als hätte die Netzöffentlichkeit mit ihren crowdgesourcten Anstrengungen, die mannigfaltigen Bilder von Überwachungskameras und Smartphones mit den richtigen Namen der mutmaßlichen Täter zusammenzubringen, tatsächlich die Nase vorn gehabt im Rennen gegen die etablierten Medienbetriebe. Ein Nutzer namens Greg Hughes, der sich auf Twitter an den Spekulationen über die Mittäterschaft von Tripathi und Mulugeta beteiligt hatte, schrieb: „Sollte Tripathi tatsächlich für den Bombenanschlag von Boston verantwortlich sein, hat der Internetdienst Reddit einen Sieg erzielt, der die Spielregeln dauerhaft ändern wird“. Und kurze Zeit später legte Hughes nochmal nach: „Journalistik-Studenten aufgepasst: Heute haben die Zuschauer die beste Berichterstattung abgeliefert, digital und crowdgesourct“.

Einziges Problem an dieser Erfolgsgeschichte: Sie war falsch. Nur wenige Stunden später benannten die Polizeibehörden ein aus Tschetschenien stammendes Brüderpaar als Hauptverdächtige. Damit war klar, dass sich viele Hobby-Ermittler vor ihren heimischen Monitoren an völlig falsche Fährten geheftet hatten. Das betraf nicht nur Sunil Tripathi (oder besser gesagt dessen gesamte Familie) sowie den nicht verifizierbaren Mike Mulugeta, zeitweise galten auch ein sportbegeisterter Schüler aus Marokko und ein arabischer Student, der bei der Bombenexplosion verletzt wurde, den Mausklick-Privatschnüfflern als verdächtig. Was freilich nicht heißt, dass sich Vertreter der traditionellen vierten Gewalt die Mitwirkung an der Onlinehatz komplett verkniffen hätten: Das Boulevardblatt „New York Post“ (das zu Rupert Murdochs News Corporation gehört) ging mit einem Foto von angeblich verdächtigen Rucksackträgern hausieren, die mit dem Anschlag nicht das Geringste zu tun hatten. Im Unterschied zu den Verantwortlichen von Murdochs Revolverblättchen haben sich die Verantwortlichen von Reddit aber ausführlich bei den falsch Verdächtigten und ihren Familien entschuldigt: Es sei zwar mit guten Absichten geschehen, aber einige der Aktivitäten auf der Plattform hätten sich „zu gefährlichen Spekulationen und zu Online-Hexenjagden aufgeschaukelt“, die für Unbeteiligte sehr negative Folgen gehabt hätten, schreibt Reddit-Manager Erik Martin im Unternehmensblog.

© FAZ 

Viele der einschlägigen Threads, Tweets und Retweets dieses Fehlinformations-Desasters sind mittlerweile gelöscht, aber wichtige Fragen bleiben offen. Etwa, ob den einzelnen Mitwirkenden in solchen schwarmintelligenten Zusammenrottungen die potenziellen Folgen ihres Handelns immer so klar sind. Unstrittig ist, dass die Polizei auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen ist und in Boston auch explizit um sachdienliche Hinweise gebeten hat. Aber das war keine Aufforderung, irgendwelche Mitmenschen auf Bildern zu markieren und der Netzöffentlichkeit als Verdächtige zu präsentieren. Laut Spiegel Online hat selbst der Nutzer, der tatsächlich einen der beiden Bombenattentäter zufällig auf einem Foto mit abgelichtet hatte, das Bild auf Facebook gepostet, weil er eine andere Person auf dem Bild als vermeintlichen Verdächtigen ausgemacht hatte. Früher™, bevor das Netz auch bei Norbert Normalnerd den Reporter-Ehrgeiz anstachelte, hat man halt im Aufnahmestudio der Sendung „Aktenzeichen XY“ oder bei einer anderen Polizeidienststelle angerufen, wenn man der Meinung war, etwas Sachdienliches beisteuern zu können – aber man setzte nicht unbedingt alle Welt über seine Beobachtungen in Kenntnis.

Doch die partizipative Macht des Netzes ändert das alles und macht das klassisch-eindimensionale Sender-Empfänger-Modell obsolet. Überspitzt gesagt beobachten wir heute, dass vernetzte Onliner am heimischen Computer oder mit dem Smartphone unterwegs CNN, Reuters & Co. zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Wie schrieb der Nutzer CPDeathblade in seinem Ticker auf Reddit: „CNN zeigt nackten Mann. DER WIRD NICHT MEHR VERDÄCHTIGT. CNN ist total hintendran.“ Ganz gleich, ob wir Medienarbeiter das gut finden oder nicht: Die althergebrachten Medien-Institutionen müssen ihre Deutungshoheit immer mehr teilen mit dem Schwarm von Twitterern, Foristen und anderen, die sich ebenfalls Zugang zu Quellen wie dem Polizeifunk verschaffen und in sozialen Netzwerken herumrecherchieren können.  Das bietet einerseits jede Menge Chancen, denn es kursieren im Netz ja beileibe nicht nur falsche Anschuldigungen, sondern durchaus auch Informationen, die Berichterstattern helfen können, sich ein Bild von der aktuellen Lage zu machen. Andererseits kommt uns das Privileg mehr und mehr abhanden, selber entscheiden zu können, welche Informationen und Quellen wir dem Publikum lieber vorenthalten. Im Zweifelsfall müssen wir davon ausgehen, es mit Lesern, Hörern und Zuschauern zu tun zu haben, die alles gesehen haben, was wir gesehen haben – und vielleicht sogar noch mehr.

© FAZ 

Der nicht im Medienbetrieb sozialisierte Nutzer macht keinen Unterschied zwischen verifizieren und berichten; er glaubt, mit der Weitergabe einer Information der Öffentlichkeit womöglich schon einen Dienst geleistet zu haben. Und was bleibt da für den Journalismus zu tun? Der muss, so der Journalismus-Professor und Web-Evangelist Jeff Jarvis, dem unablässigen Strom der Informationen einen Mehrwert hinzufügen: „Fakten verifizieren, Zeugen prüfen, Gerüchte auseinandernehmen, Kontext und Erklärungen beisteuern – und mehr als alles andere auch die Fragen stellen und beantworten, die grad nicht im Strom obenauf schwimmen.“ Berichten hieße heute weniger denn je, allwissend erscheinen zu wollen, die journalistische Kardinaltugend liege heutzutage vielmehr darin, „klar zu sagen, was wir nicht wissen, Vorbehalte anzubringen und die Öffentlichkeit zu ermuntern, uns mitzuteilen, was sie weiß.“ Aber wo künftig der Anreiz für das Publikum herkommen soll, die Reporter mit Infos zu füttern, anstatt die eigenen Erkenntnisse exklusiv auf Reddit, Facebook oder sonstwo in die Welt zu tragen, das hätte man von dem vielgelobten Vordenker der Informationsgesellschaft 2.0 doch ganz gerne mal gehört. Denn mit einem Anruf oder einer Mail in die Redaktion sind die sprichwörtlichen 15 Minuten Ruhm nun mal nicht zu gewinnen.

Bildnachweis: Screenshots von Business Insider, New York Post und 21stcenturywire.com