Nachdenkliche, reflektierte und angemessen selbstkritische Forscher erinnern sich sporadisch daran, daß wir – der Westen – nicht der Nabel der Welt sind. Die USA sind dafür bekannt, diesem Irrglauben dauerhaft chronisch verfallen zu sein; wir auf der anderen Seite des Atlantik wähnen uns gerne aufgeklärter in solchen Fragen, ziehen dabei jedoch den Stachel aus dem Auge unseres Nächsten, ohne den eigenen Balken zu bemerken.
Besonders augenfällig ist dies, wenn es um Religion geht. Für viele aufgeklärte Europäer ist Religion ein Seitenthema, und die evangelikalen Bewegungen in den USA rufen bei Europäern oft Befremden hervor. In den Sozialwissenschaften (und besonders Wirtschaftswissenschaften) wiederum ist Religion als wesentlicher Bestimmungsfaktor menschlichen Handelns auch eher eine Nische, spätestens seit Säkularisierung und die Vorstellung vom laizistischen Staat mit dem Einfluß der Kirche aufgeräumt haben und die Zunft vor allem mit dem homo oeconomics ringt.
Zweifellos hat früher das Kirchenrecht den wirtschaftlichen Alltag vielseitig beeinflußt – man denke nur an Zünfte und Handwerk und Bankwesen – , aber das ist lange her. Umso überraschender, daß es tatsächlich bis heute Einkommensunteschiede zwischen Protestanten und Katholiken in Deutschland gibt. Zur Erklärung wird heute allerdings nicht mehr Max Webers Hypothese vom protestantischen Arbeitsethos bemüht, welche bereits in den 90er Jahren vielfach kritisiert wurde [Edit]. Zum Beispiel gingen entscheidende Innovationen – wie etwa im Bankwesen – der Reformation voraus, während es umgekehrt reichlich wesentliche Entwicklungs- und Industrialisierugsschübe in katholischen Regionen, wie zum Beispiel dem Rheinland gab.
Erst neuere Forschung in diesem Themengebiet hat gezeigt, daß es offenbar doch Unterschiede gibt, und Protestanten bis heute im Durchschnitt in Deutschland höhere Einkommen erzielen als Katholiken. Die Autoren der fraglichen Studie sehen die Ursache allerdings eher in der von Protestanten höher geschätzten Individualbildung. Da diese Wert darauf legten, die Bibel selber lesen zu können und jedem Individuum ohne Vermittlung von Priestern zugänglich zu machen, mußten guten Protestanten lesen lernen – und das eröffnete wiederum den Zugang zu vielen Arten von Bildung. Ob das tatsächlich die Ursache für die bestehenden Unterschiede ist, darüber kann man sich streiten, aber die Unterschiede sind nun einmal da – und offenbar persistent, bedenkt man, daß die Reformation mehr als 500 Jahre zurückliegt.
In anderen Ländern spielt die Kirche noch immer eine enorme Rolle, zum Beispiel in Südostasien, wo wesentliche Teile des Bankensektors darauf spezialisiert sind, Bankgeschäfte ohne die im Islam verbotenen Zinssätze zu entwickeln, während in den USA das “In God we Trust” bis heute den Alltag in vielen kleinen Dingen – und nicht nur pro Forma auf Geldscheinen – dominiert. Die USA verfügen über eine hervorragende Datenbasis und tatsächlich ist die Anzahl der Geistlichen pro Kopf um die Jahrtausendwende sogar über das Niveau von 1860 hin angestiegen, während die Ausgaben für kirchliche Belange – die in den USA freiwillig sind zugunsten der Kirche oder Kongregation, bei welcher man Mitglied ist – fast unverändert seit Jahrzehnten bei ungefähr 1 % des BNP liegen. Jenseits solcher Grundzusammenhänge fischen Forscher allerdings schnell in trüben Wassern: religiöse Menschen sind zum Beispiel seltener kriminell, aber kausale Zusammenhänge sind angesichts der Vielzahl möglicher sozio-ökonomischer Einflußfaktoren kaum klar zu beweisen. Ähnliches gilt für Effekte auf die Gesundheit jenseits von diätetischen Vorschriften: Wer nicht raucht, trinkt, und sich nicht der Völlerei hingibt, lebt logischerweise gesünder.
So gesehen ist es ermutigend, daß die Religion in der quantitativen sozialwissenschaftlichen Forschung aktuell wieder wichtiger, oder zumindest wieder öfter berücksichtigt wird. Nicht zuletzt ermöglichen weltweite „Value Surveys“ zum ersten Mal, religiöse Einstellungen jenseits von Mittelmeer und Ural systematisch zu untersuchen.
Darüber hinaus stehen heutige Sozialwissenschaftlicher nicht nur generell auf den Schultern von Riesen, sondern vor allem auch auf den Schultern von Geistlichen. Kirchliche Statistiken und die innerkirchlichen Diskurse waren der Ausgangspunkt jeder sozialwissenschaftlichen Statistik. Es waren Pfarrer wie Caspar Neumann und Johann Peter Süßmilch, die in ihren Gemeinden die ersten Bevölkerungsstatistiken erhoben und daraus systematisch Geburten- und Sterberaten ableiteten, und damit die moderne Demographie begründeten.
Zugegebenermaßen dienten ihre Arbeiten vor allem dem Zweck, Gottes planmäßiges Wirken in größerem Maßstab nachzuweisen und dadurch zur Theologie beizutragen. Diese Abeiten wären nicht denkbar gewesen in der vorreformatorischen Zeit. Es gibt Quellen, die das tridentinische Konzil von 1545 bis 1563 als zentralen Ausgangspunkt sehen, nach welchem auch theologische Diskurse sich in ihrer Qualität veränderten. Zum Beispiel scheint die Debatte darüber, ob und inwieweit der Mensch sündenfrei leben kann, tatsächlich entsprechende Ideen widerzuspiegeln. Die – offenbar im 17. Jahrhundert von Theologen vieldiskutierte – Idee, daß unter 1000 Menschen oder generell einer hineichend großen Anzahl immer einer sündigen würde, ist tatsächlich zutiefst probabilistisch und statistisch. Zwar wäre es theoretisch möglich, daß 1000 Menschen sündenfrei leben, so wie man auch 1000 Mal hintereinander eine sechs würfeln könnte – aber es ist doch reichlich unwahrscheinlich. Der Mensch war also durchaus dank freien Willens in der Lage, anständig zu leben – aber realiter, in großer Zahl, über lange Zeit, dann doch nicht – dank des Gesetz der großen Zahl und Durchschnittseffekten. Umso praktischer, daß man dennoch mit Beichte oder Gnade erlöst werden kann. Protestanten haben es da leichter .
Gleichzeitig wurde damit menschliches Handeln nicht mehr nur im Einzelfall und qualitativ-moralisch betrachtet, sondern das Element des Zufälligen stärker betont, ebenso wie das Konzept des rationalen, also interessengeleiteten Handelns, welches Verhaltensweisen vorhersehbar macht. Alles zusammen wiederum war Voraussetzung für die Arbeiten von Wissenschaftlern wie Adolphe Quételet, die von „social physics“ träumten, also einer Sozialwissenschaft, die ähnlich den Naturwissenschaften deterministische Gesetmäßigkeiten würde zeigen können. Quételet sammelte er in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts unzählige sozioökonomische und anthropometrische Daten, um einen „durchschnittlichen Menschen“ definieren zu können, und trug damit maßgeblich zur Weiterentwicklung der Wissenschaft bei. Die Idee von deterministischen Gesetmäßigkeiten im menschlichen Handeln war allerdings weniger erfolgreich und ist bis heute – mindestens, bestenfalls – umstritten.
Andererseits ist es gerade diese Tatsache, welche die Disziplin bis heute so spannend macht, daß ich seit drei Jahren immer wieder neue Themen finden kann, neue Aufsätze, und neue Phänomene. Wären Sozialwissenschaften tatsächlich deterministisch – wieviel langweiliger ginge es hier zu.
Für die Anregung, in diese Richtung zu recherchieren, Dank an Paul Bademeister!