(…)Daher werden die Leute immer feindseliger und „paranoider“ gegenüber ihrem Staat, und die Regierung, die das merkt, wird immer nervöser wegen irgendwelcher „Militanten“ oder „Kulten“ oder „Hippies“ oder „Extremisten“ oder sonstigen staatsfeindlichen Minderheiten, die sich überall aufhalten und alles mögliche aushecken könnten. Daher stellt die Regierung mehr Lauscher und Abhörer ein, legt mehr Wanzen und spioniert das Volk mit immer größerem Eifer aus. Diese seltsame Schleife wird schnell zum Teufelskreis, da sich die staatliche Paranoia in Sachen Volk und die des Volkes in Sachen Staat gegenseitig aufschaukeln. (Robert Anton Wilson im Vorwort zum „Lexikon der Verschwörungstheorien“)
Es ist fast auf den Tag genau ein Jahr her, da hatte ich als Themenanregung für dieses Blog einen Beitrag in meine Bookmarks gespeichert, der sich mit dem Bau des gigantischen Datencenters der NSA in Utah befasste und einen angeblichen Insider zu Wort kommen ließ, der eine ziemlich düstere Ansage machte, was da wohl so alles gespeichert werden würde – auch und gerade über US-Bürger. Ich konnte die Seriosität der Quelle nicht so recht einschätzen, es kam da zunächst auch nicht viel nach zum Thema. Haften blieb das Gefühl von „man müsste doch mal was dazu machen“, aber irgendwie kam jedes Mal etwas anderes dazwischen, das Thema verstaubte monatelang in der virtuellen Mappe – und dann blies plötzlich der NSA-Insider Edward Snowden in die Alarmtröte. Die staunende Weltöffentlichkeit registrierte mit heruntergeklappter Kinnlade, welch gigantischen Schnüffelaufwand die US-Behörde rund um den Globus und längs und quer durch alle Kanäle treibt. Und ich? Gestehe ich‘s offen, in dem ganzen kakophonen Crescendo von immer neuen Berichten und Enthüllungen hatte ich plötzlich Schwierigkeiten, mit eigener Stimme in das große Konzert der Jammerarien und Entrüstungs-Koloraturen einzusteigen. Denn so eine große Überraschung waren die Enthüllungen eigentlich nicht. Und doch hatte die Bestätigung, dass es wohl tatsächlich so schlimm ist wie schon länger vermutet, auch etwas Niederschmetterndes. Vorher blieb einem als einigermaßen sensibilisiertem Zeitgenossen zumindest noch das mentale Schlupfloch, man könnte mit der Vorstellung einer weitgehenden Überwachung aller digitalen Lebenszeichen ja auch einer Verschwörungstheorie aufgesessen sein.
Doch in diese Komfortzone gibt es kein Zurück. Wir erleben derzeit, „wie nach und nach alle schönen Verschwörungstheorien, für die Leute über Jahrzehnte als paranoide Spinner verunglimpft wurden, sich als wahr herausstellen“, schreibt Felix von Leitner alias fefe, ein anerkannter Experte auf diesem Gebiet und Posterboy aller Berufsparanoiker. Die Existenz der NSA war jahrelang eine Verschwörungstheorie, dann Echelon, dann dass auch US-Bürger abgehört werden. Das Nato-Stay-Behind-Netzwerk und vieles andere, was heute als gesichertes Wissen gilt, war lange Verschwörungstheorie. „So langsam werden die Theorien knapp, die sich noch nicht als wahr herausgestellt haben. Was kommt als nächstes? Queen Elizabeth ist wirklich ein außerirdisches Reptil?“, fragt sich fefe.
Nun, daran, dass alle untereinander versippten Blaublütler dieses Planeten einer reptiloiden Rasse von Formwandlern angehören und uns Normalmenschen seit Menschengedenken versklavt halten, bleiben auch weiterhin Zweifel erlaubt. Zudem erklärt diese originelle Hypothese, mit welcher der einstige BBC-Sportreporter David Icke Bücher, Websites und Vortragssäle füllt, so gut wie nichts, was man nicht auch mit bodenständigeren Annahmen erklären könnte. Für viele, denen dieses konspirationstheoretische Parkett zu fremd und schlüpfrig ist, stellen sich ohnehin eher ganz praktische Fragen: Muss ich mein Kommunikationsverhalten wegen der permanenten Überwachung aller Kanäle anpassen, verschlüssle ich künftig meine Mails, hoste ich meinen Mailserver selbst – oder wenn nein, warum nicht?
Ich whistleblowe an dieser Stelle mal ganz weltexklusiv, dass ich diesen Aufwand nach wie vor scheue: Ich sende und empfange unverschlüsselt, auch wenn dieses Bekenntnis technikaffinen Topcheckern unter den Internetcommunitybenutzern womöglich die Fußnägel hochrollt. Da ist natürlich Bequemlichkeit im Spiel, ganz klar, und zum anderen spielt auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel hinein. Vor über zehn Jahren glaubte ich beispielsweise noch, dem großen Lauschangriff mit einem nicht auf mich registrierten Handy ein Schnippchen schlagen zu müssen, heute belächle ich diese Marotte, und ich lege das Handy zuhause oder zu Besuch auch nicht in den Kühlschrank, um es gegen unerwünschte Aktivierungen abzuschirmen. Sicher, man könnte enormen konspirativen Aufwand treiben, aber wozu? „Wer lackiert sein Auto regelmäßig um, obwohl er keine Banken damit überfällt?“ fragt Friedemann Karig in seinem lesenswerten Beitrag unter der Überschrift „Verschlüsselkinder“ auf carta.info.
Nun argumentieren die Befürworter der Kryptographie, dass man ja auch in Briefumschläge stecke, was man offen lesbaren Postkarten nicht anvertrauen möchte. Oder wenn schon mitgelesen wird, dann bauen wir wenigstens den Zaun, über den die Schnüffler steigen müssen, so dicht und hoch wie möglich. Ja, kann man natürlich so sehen. Aber was mich an dieser Auffassung (abgesehen von der Verhältnismäßigkeitsfrage und dem beträchtlichen Aufwand, den das für den technischen Laien mit sich brächte) stört ist folgendes: Ein gewaltiges gesellschaftspolitisches Problem (nämlich das der nahezu lückenlosen und verdachtsunabhängigen Überwachung aller Kommunikationskanäle und Verbindungen) wird abgewälzt auf das Individuum – aber nicht wirksam politisch bekämpft.
Zudem braucht es keine Prophetengabe, um vorherzusehen, dass signifikant steigende Verschlüsselungsraten im Datenverkehr die Dienste auf den Plan rufen würden, Mittel für noch leistungsfähigere Codebrechern mit noch viel mehr Rechenpower zu fordern, um dieser potenziellen Bedrohung der allgemeinen Sicherheit Herr zu werden. Oder wie es Friedemann Karig auf carta.info ausdrückt: „Individuelle Verschlüsselung setzt eine Negativ-Spirale in Gang. Individuell wie politisch. Denn jeder bauernschlaue Geheimdienst wird, seiner Logik gemäß, folgern: Wer verschlüsselt, hat etwas zu verbergen.“
Und zu guter Letzt: Wenn sich schon der amtierende Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich nicht entblödet, Sicherheit als „Supergrundrecht“ zu deklarieren, das vor allen anderen Grundrechten Vorrang genieße, sollte es den fortgeschrittenen Konspirologen doch stutzig machen, wenn der CSU-Mann den Bürgern im gleichen Atemzug ans Herz legt, selber für den Datenschutz zu sorgen und der Verschlüsselungstechnik mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn das in der Form, wie es für normalsterbliche Nichtnerds praktizierbar ist, einen wirksamer Schutz gegen die Neugier der in- und ausländischen Überwacher böte, würde der Innenminister das bestimmt nicht empfehlen, oder? Das Schlusswort überlasse ich dem verstorbenen Altmeister R.A. Wilson: „All diese Zyklen verwickeln sich zu einem Knäuel von seltsamen Schleifen und Teufelskreisen, aus denen es gegenwärtig keinen Ausweg zu geben scheint. Und jede Stimme, die versucht oder vorgibt, in dieser schizoiden Situation die Wahrheit zu sagen, gerät sofort unter Verdacht, ein weiterer Verführer oder Manipulator zu sein.“