Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Der Stau – ein schwer kalkulierbares Phänomen

Im Sommer sind besonders viele Autos unterwegs, und verursachen besonders viele Staus. Helfen können Modelle, Simulationen – und Daten, die wir alle täglich liefern.

Ich fahre so selten Auto, daß ich mittlerweile vor längeren Autofahrten geradezu aufgeregt bin – meistens ziehe ich es klar vor, mich von der Bahn chauffieren zu lassen. Dabei kann ich in Ruhe lesen oder arbeiten, sofern nicht gerade Damenreisegruppen oder enorm schlecht erzogene Kinder im Abteil sitzen. Ich kann mir etwas zu essen zu holen, ohne anzuhalten, und oftmals bekomme ich sogar noch spaßige Unterhaltung geboten. Sollte ich aber müde und der Unterhaltung überdrüssig sein, lehne ich einfach den Kopf zurück, stöpsele Musik in meine Ohren und mache ein Nickerchen. Am tollsten jedoch ist: ganz gleich, was passiert, wie früh oder spät der Zug ankommt – es liegt nicht in meiner Hand, ich mache das Beste aus den Umständen und komme in der Regel einigermaßen entspannt an.

Auf der Autobahn hingegen muß ich mich konzentrieren, die Zeit ist komplett vertan, man wird dabei müde, muß für jedes Bedürfnis (Hungermüdepipidurst, Mama!) anhalten, und fragt sich permanent, ob man nicht lieber hier abfahren sollte, um Staus zu entgehen, oder sonst irgendwas unternehmen, damit es endlich wieder vorwärts geht. Man flucht über den drängelnden Vordermann, obwohl der vielleicht gerade auf dem Weg ins Krankenhaus zu seiner schwerkranken Mutter ist, schimpft über den lahmen Opa, während man selbst in zehn Jahren genauso bedächtig fahren wird, rast irgendwann übermäßig, um die verlorene Zeit aufzuholen, und kommt völlig entnervt am Ziel an. Kürzlich hatte ich endlich mal wieder das Vergnügen, längere Strecken mit dem Auto zu fahren, und verstehe immer noch nicht, was andere Menschen daran finden.

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Mir schien, der deutsche Durchschnittsbürger hat das Reißverschlußsystem mittlerweile verstanden, denn das funktionierte besser als in meiner Erinnerung, aber ansonsten: Es ist mühsam. Der Stau, in dem ich mich wiederfand, war leicht erkennbar einem liegengebliebenen LKW geschuldet – darüber hinaus jedoch ist die Stauforschung eine Wissenschaft für sich.

Staus sind logisch, wenn ein Hindernis im Weg ist. Aber auch ohne Hindernis braucht Verkehr Platz – zuviele Autos auf zu engem Raum verursachen Stau, so daß schon eine Steigung, oder einfach nur sehr viel Verkehr und eine Bremsung zum totalen Stillstand führen können. Der Fehler liegt dabei in der menschlichen Reaktion: bremst einer, muß der nachfolgende Fahrer ebenfalls bremsen, und das umso heftiger, je geringer der Abstand ist. Dieser kleine “Verkehrsschock” pflanzt sich durch die nachfolgenden Autos fort, und wird dabei immer heftiger, bis irgendwann keiner mehr fahren kann – denn auch die Gegenreaktion, vorne, wenn die Bahn wieder frei ist, erfolgt mit Verzögerung. Viele Staus ließen sich vermeiden, wenn die Fahrer nur alle mit mehr Abstand fahren würden, weil damit mehr Zeit für ruhige Reaktionen bliebe und gar nicht erst die kritische Dichte an Autos erreicht würde – aber es gibt ja bekantlich immer drängelnde Idioten, insofern wird das wohl Utopie bleiben.

Verkehr zu modellieren bringt besondere Schwierigkeiten mit sich. Während zum Beispiel in der Volkswirtschaft die meisten Modelle aus Gleichungssystemen bestehen, funktioniert das möglicherweise bekannteste Modell zur Verkehrssimulation ganz anders, nämlich wie ein sogenannter Zellularautomat.

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Dabei wird die Straße in Felder, bzw. Zellen eingeteilt, in welchen sich Autos befinden, oder eben auch nicht. Jedes Fahrzeug hat eine Ausgangsgeschwindigkeit und reagiert auf sein Umfeld in Abhängigkeit von den Umständen. Bei freier Fahrt beschleunigen Fahrer bis zu einer festgelegten Höchstgeschwindigkeit, bei Anblick des Vordermanns wird irgendwann gebremst, und manchmal trödelt ein Fahrer auch einfach gedankenlos vor sich hin. Nach diesen Regeln werden alle Fahrzeuge in Runden vorwärtsbewegt zu den nächsten Zellen, fast wie in einem Brettspiel. Bildet man die verschiedenen Geschwindigkeiten und die Dichte der Fahrzeuge auf einer Autobahn ab, ergeben sich hübsche und sehr informative Bilder.

Vor allem zeigt das Modell: wenn einer trödelt und andere auffahren, entsteht eine Bremswelle, die sich nach hinten fortsetzt – und zum Stau werden kann. Dem entgegenzuwirken ist sagenhaft schwierig, eben weil menschliches Verhalten so unberechenbar ist. Mit zunehmender Rechnerkapazität wird aber sogar das Unmögliche möglich: einer der Erfinder des oben genannten Modells arbeitet inzwischen an Verkehrprogrammen, die Staus vorhersagen können, und zwar sogar unter Berücksichtigung menschlichen Verhaltens. Dafür braucht es erstens komplizierte Algorithmen- und zweitens Daten.

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Radiosender haben Stauhelikopter, die ihnen Meldungen einreichen – aber moderne Navigationsgeräte geben Warnungen nahezu in Echtzeit aus und sind natürlich keine Glaskugel – sie arbeiten mit den selbstgenerierten Informationen. Wer den Staudienst nutzen möchte, willigt automatisch in die Weitergabe seiner eigenen Positionsdaten ein, und mit der Verbreitung von Navigationsgeräten (mittlerweile sind mehr als 30 % der Autos damit ausgestattet) sind Daten in einzigartiger Fülle verfügbar geworden – dasselbe gilt natürlich für als Navi genutzte Smartphones.

Das allein löst aber noch keine Probleme: Im Stau vertrauen viele auf ihr Navigationssystem, folgen den Umleitungen, die aber gar nicht für das dabei entstehende Verkehrsaufkommen gebaut wurden, und daher ebenfalls schnell dicht sind. Könnte man rechtzeitig gerade die richtige Menge an Verkehr umleiten, würde die staugefährdete Autobahn entlastet, ohne die Umleitung zu überlasten. Entsprechende Programme sind in Vorbereitung, unter anderem in Nordrhein-Westfalen, aber die daraus entstandenen Dienst müssen natürlich erst einmal Verbreitung finden und von einer kritischen Menge an Fahrern genutzt werden. Man darf aber gespannt sein, ob das Ruhrgebiet vielleicht in fünf Jahren staufrei wird.

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Viele Erkenntnis dieses Forschungsgebiets lassen sich auch auf Menschenmassen übertragen, die zu Fuß Engpässe passieren müssen. Bisher wurden diese meistens ähnlich wie strömende Flüssigkeiten modelliert, was allerdings die spezifischen Verhaltensweisen einzelner Teilchen nicht abbilden kann. Auch dort gibt es Fortschritte, mit deren Hilfe gezeigt werden kann, wie Panik und Herdentrieb dazu führen, daß sich Situationen verschärfen.

Auch wenn keiner der Ansätze die perfekte Lösung bereithält, sind die Erkenntnisse hilfreich: Streckenführung und die Anlage von Ausgängen bei Großveranstaltung können so geplant werden, daß der Verkehr vorher schon abgebremst wird, so daß das typische Stauverhalten auch bei Fußgängern gemindert und die Dichte von Individuen gesenkt wird. Autofahrern wiederum kann man in der Fahrschule beibringen, wie man sich optimal verhält – und je mehr Fahrer sich optimal verhalten, desto besser fließt der Verkehr.

Mich allerdings werden Sie eher nicht auf der Autobahn treffen, ich fahre weiter Bahn und genieße die Zeit, die ich dadurch für andere Tätigkeiten gewinne – und entziehe mich nebenbei dieser weiteren Dimension des Überwachungswahns, ganz egal, wie nützlich das sein mag. In einigen Jahrzehnten wird sich das Problem durch den demographischen Wandel ohnehin lösen, wenn es weniger Autos auf deutschen Straßen gibt – oder wir alle zu Fuß laufen, weil das Öl alle ist.