Meine Großmutter war, was politisches Engagement angeht, pragmatisch veranlagt. Sie wuchs in der Nähe von Auschwitz auf. Da war viel Natur und noch mehr Bauernhöfe. Teile der Familie gingen daher lieber mit Waffen in den Wald als zu den Deutschen. Das hatte Folgen. Später gab sie mir Ratschläge mit auf den Weg wie: „Kind, pass auf, dass sie dich nicht an die Wand stellen.“ Meine Großtante sah das viel entspannter: „Manche Dinge sind es eben wert, dafür zu sterben.“ Unter dem Vichy-Regime galt allein schon als Landesverrat, die falschen Bücher zu lesen. „Das ist alles heute harmlos”, beschwichtigten meine Eltern: “Bei Besetzungen stand damals bei uns die Armee mit Maschinengewehren vor der Tür.“ Zu solchen Diskussionen gab es immer Tee und Kuchen. Früher war alles eben, sagen wir mal … anders. So etwas wie Pressefreiheit hatte meine Verwandtschaft nur in kurzen geschichtlichen Zeitfenstern erlebt. Der Spiegel – das kann man sich hier und heute gar nicht vorstellen – wurde im Osten wie eine Kostbarkeit in der Familie herumgereicht.
Man kann Pressefreiheit gar nicht hoch genug aufhängen. Weil wir immer wieder vergessen, durch welchen schmerzhaften Lernprozess diese Errungenschaft der zivilisierten Welt entstanden ist. Das einzige Verbrechen von Netzpolitik war, dass sie sich anmaßten, als vierte Gewalt Exekutive, Legislative und Judikative im Auge behalten zu wollten. Skandal: Die haben als Journalisten anscheinend ihren Job gemacht. Damit konnte nun wirklich keiner rechnen.
Fakt ist: Die Veröffentlichung hat dazu geführt, dass der Inlandsgeheimdienst aufgrund von Protesten plötzlich um die Finanzierung für sein neuestes Überwachungsspielzeug bangen musste. Groß muss das Gejaule beim Verfassungsschutz gewesen sein. In intakten Demokratien ist es üblich, über Dinge zu reden, bevor man sie abnickt. Nur hatte damit beim Verfassungsschutz keiner gerechnet. Dort fühlt man sich der Debattenkultur der Demokratie nicht verpflichtet.
Es ist nicht nachvollziehbar wie ein Gutachten von Generalbundesanwalt Range zu dem Ergebnis kommen konnte, bei den veröffentlichten Dokumente handele es sich um ein Staatsgeheimnis. Kritische Artikel über den Geheimdienst wurden nicht geschrieben, „um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, [was] die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt“. Die Anzeige von Verfassungsschutz-Chef Maaßen ist lächerlich. Das Bundesverfassungsgericht hat beim letzten Versuch, Journalisten mit Spionage-Pragraphen mundtot zu machen, wie folgt Stellung bezogen: “Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.” Hört, hört – da kann Generalbundesanwalt Range noch viel lernen.
Auf George Orwell geht angeblich folgendes Zitat zurück: „Journalismus heißt, etwas zu drucken, von dem jemand will, dass es nicht gedruckt wird. Alles andere ist Public Relations.” Hätte Netzpolitik die Dokumente nicht veröffentlicht, das Überwachungs-Paket wäre lautlos durch den Haushalt gegangen. Die haben nur ihren Job als Journalisten gemacht. Geheimdienstchef Maaßens Anzeige gegen Netzpolitik sollte offensichtlich verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Klassische Einschüchterungstaktik. Und wenn dann der erste deutsche Snowden auspackt, wundern wir uns alle darüber, dass wir die ganzen rechtswidrigen Überwachungsprojekte auch noch mit Steuergeld bezahlt haben. Fazit: Mit der Geheimhaltungs-Doktrin von Verfassungsschutz und BND wird das Kind eher in den Brunnen geschubst, als das es fällt. Und der Generalbundesanwalt steht dabei Schmiere.
Wie demonstriert man gegen etwas, das geheim ist? Die Antwort ist trivial: gar nicht. Dieses Prinzip hat sich auch international glänzend bewährt. Bei TTIP gab die Geheimhaltungs-Doktrin Noch-SPD-Chef Sigmar Gabriel neue Munition, um Kritiker abzubügeln: „470.000 Menschen haben gegen etwas unterschrieben, was es noch gar nicht gibt.“ Wie praktisch für dich, will man da fast meinen. Dieses Spiel kennt man schon von den Protesten gegen ACTA: Politiker werfen Demonstranten vor, gar nicht zu wissen, wogegen sie da eigentlich demonstrieren. Und weigern sich trotzdem, die Dokumente herauszugeben. Schließlich gefährde das die Verhandlungsposition Deutschlands gegenüber Länder wie China oder Russland. Bei Geheimdienst-Affären werden ebenfalls Schatten bedrohlicher fremder Mächte an die Wand gemalt. Denen möchte man doch nicht etwa in die Finger spielen, oder?!
Praktisch für Gabriel und Co., dass brisante Dokumente, wenn überhaupt, nur dann veröffentlicht werden, wenn Parlamente das Ergebnis nur noch abnicken, aber nichts ändern können. Wenn überhaupt. Dass „Landesverrat“ durch Leaks alternativlos wird, ist eine direkte Folge der fortschreitenden Postdemokratie. Wenn politische Entscheidungen von öffentlichen in nichtöffentliche Gremien und Hinterzimmer abwandern, werden Whistleblower zum einzigen verlässlichen Informationsdienst für die Bevölkerung. Was für den Demokraten alter Schule eine moralische Verpflichtung ist, wird in der Postdemokratie zum Landesverrat erklärt. Wer bei Netzpolitik Landesverrat wittert, wird ihn auch an anderer Stelle entdecken. Egal ob TTIP, NSA oder Cross-Border-Leasing-Deals der Kommunen: Journalisten und Hinweisgeber, die uns darüber aufklären, was da geschieht, verdienen unsere Hochachtung und keine Haftstrafen.
Anstehende Rücktritte stimmen nostalgisch: Unvergessen bleibt Generalbundesanwalt Ranges Pressekonferenz, in der er verkündete, es gäbe keine Hinweise dafür, dass die US- Raumfahrtbehörde „NASA“ uns systematisch überwache. Und wie er brav die Akten schloss, als die US-Dienste ihm schrieben, sie können ihm leider bei den Ermittlungen nicht behilflich sein. Geradezu skurril mutet daher Ranges neueste Pressemitteilung an, in der er Eingriffe in das Verfahren gegen die Journalisten von Netzpolitik beklagt: „Auf Ermittlungen Einfluss zu nehmen, weil deren moegliches Ergebnis politisch nicht opportun erscheint, ist ein unertraeglicher Eingriff in die Unabhaengigkeit der Justiz.“ Ich gehe nicht davon aus, das Generalbundesanwalt Range dazu kommen wird, die staubigen 3000 Anzeigen wegen Geheimdienst-Überwachung auf seinem Schreibtisch abzuarbeiten. Es wird Zeit, sich nach Geschenken zum anstehenden Ruhestand von Generalbundesanwalt Range umzusehen. Die Vorschläge auf Twitter reichen von „Die Spiegel-Ausgaben von 10/62 bis 03/63. Im Schuber“ (Mit Bauchbinde „Geheimsache“) über ein „Landesfahrrad“ hin zum Klassiker “gebundene Ausgabe Grundgesetz”. So wird er also in die Geschichte eingehen: Range, der Geheimdienstfreund.
Justizminister Heiko Maas hat in den letzten Monaten eine schwache Figur abgegeben. Erst winkt er gegen seine Überzeugung auf Druck des Innenministeriums die Vorratsdatenspeicherung durch. Jetzt wirft Range seinem Dienstherren Maas vor, in die Unabhängigkeit der Justiz einzugreifen, als dieser ihn bei Ermittlungen gegen Journalisten zurückpfeift. Ein Generalbundesanwalt, der die Hände in den Schoß legt, wenn eigene und fremde Geheimdienste Staatsgeheimnisse abgreifen, und stattdessen mit Feuereifer ermittelt, wenn die Presse Geheimdienst-Skandale ausgräbt, der sollte einfach gehen. Es findet sich sicher eine gute Anschlussverwendung in der freien Wirtschaft.
Doch Range hatte in einer Sache gar nicht so unrecht. Diese Landesverrats-Sache hat Potential. Kommunikationsdaten wurden durch den deutschen Geheimdienst an die NSA weiter gereicht. Darunter deutsche Unternehmen, Bürger, Würdenträger – das volle Programm. Bei den Geheimdiensten gibt es so einigen Wildwuchs, den man aus Sicht des “Landesverrates” angehen könnte, wenn man denn wollte. Laut Rechtsauffassung des BND ist der Weltall rechtsfreier Raum: Da Satellitenüberwachung nicht auf deutschem Boden stattfinde, gelten Grundgesetz und andere lästige Formalitäten aus Sicht des BND nicht. Funfact am Rande: BND-Chef Schindler ist auch noch selbst Jurist.
Wir bräuchten eine Landesverratsdatenspeicherung an den richtigen Stellen: Den Geheimdiensten. Auf schweren Landesverrat stehen fünf Jahre bis lebenslänglich. Meine Meinung: Die Verantwortlichen bei Verfassungsschutz und BND haben ganz klar ihre „verantwortliche Stellung mißbraucht, die ihn zur Wahrung von Staatsgeheimnissen besonders verpflichtet.“ Von einer wirklich unabhängigen Justiz würde man erwarten, dass sie diesen Hinweisen nachgeht – damit es nicht beim Bauernopfer Range bleibt. Denn während die Welt über Range und Maas diskutiert, kommen die größten Vertuscher in Sachen Geheimdienstskandal davon: Verfassungsschutz-Chef Maaßen, BND-Chef Schindler und Innenminister Thomas de Maizière.
Und Netzpolitik.org? „Mehr Landesverräter braucht das Land“, hätte meine Großtante gesagt und den Jungs einen Schnaps gereicht. Denn hier und heute sollte niemand mehr zum Bloggen über Staatsverfehlungen in den Wald gehen müssen. Das ist eine der Errungenschaften, die wirklich auf schmerzhaften Erfahrungen beruhen, die wir nicht leichtfertig aufgeben dürfen. Pressefreiheit ist kein Landesverrat. Und von der Sorte Journalisten, die ihren Job machen, wären mehr tatsächlich besser als weniger. Ein neuer Generalbundesanwalt der seinen Job macht wäre eine fabelhafte Ergänzung. Dann bekommt man das mit der organisierten Kriminalität bei den Geheimdiensten auch besser in den Griff. Neuer Generalbundesanwalt, übernehmen Sie.
Katharina Nocun leitet bei Campact die Kampagnen gegen Vorratsdatenspeicherung und für Asyl für den Whistleblower Edward Snowden in Deutschland. Von Mai bis November 2013 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei.