Als ich nach dem Abitur nach Amerika reiste, hatte ich mich gut vorbereitet: Ich hatte Kassetten mit Musik der Beach Boys und Jan and Dean bespielt, und einen Reiseführer zur Mentalität der aufgesuchten Eingeborenen gelesen. Der Reiseführer heisst “Tod in Hollywood” und stammt aus der Feder des britischen Schriftstellers Evelyn Waugh, der seine kurze und erfolglose Karriere als Drehbuchautor in Los Angeles in diesem ebenso scharfen wie ironischen Roman verarbeitete. Es geht, grosso modo, um die Unvereinbarkeit des american way of life mit allem, was auch nur ansatzweise als europäische Nonkonformität, Exzentrik und moralische Flexibilität gelten kann. Die Tugenden der Neuen Welt, so das Fazit, sind im tödlichen Gegensatz zu den gehobenen Sitten des Alten Europa, und genau so war das auch bei meiner Reise. Ich habe viel gesehen, aber das reicht mir auch und wer die USA meidet, weil Trump dort herrscht, kann einfach Waughs Buch kaufen. Es lohnt sich.
Waugh selbst war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Er war ethnisch sehr diverser Abstammung und kam aus dem reichen Bürgertum, hatte in seiner Jugend etliche homosexuelle Affairen, und lange Zeit Schwierigkeiten, einen angemessenen Platz im Leben zu finden. Er war geistreich, aber flatterhaft und unangepasst, moralisch eher fragwürdig und getrieben von Geltungs- und Vergnügungssucht. Überliefert wird, dass er andere gern schikanierte, und eine Stellung verlor, weil er im betrunkenem Zustanden eine sexuelle Annäherung versuchte. Ausserdem konvertierte er zum Katholizismus, was auf beiden protestantischen Seiten des Atlantiks bei den lutheranischen und sonstigen Ketzern als Zeichen ethischer Fragwürdigkeit galt, und wohl auch immer noch gilt, wenn man die Debatten um den britisch-jüdisch-katholisch-homosexuellen Provokateur und jüngst zurückgetretenen Breitbart-Autor Milo Yiannopoulos anschaut. Generell ist die Figur von Milo leicht verständlich, wenn man Waugh, seine Biographie, sein Werk und besonders die Figur des Anthony Blanche in Waughs Klassiker “Brideshead revisited” kennt.
Amerikanern ist diese Parallele völlig entgangen, denn es gibt Waugh nicht als Serie bei Netflix, und obendrein sind sie in ihren moralischen Werten immer noch eine Gesellschaft, die mit britischer Exzentrik und Lust an Provokation nur begrenzt umgehen kann. Anders ist der Fall und Niedergang des Milo Yiannopoulos nicht zu erklären, dem letztlich ein lang bekanntes Video zum Verhängnis wurde, in dem er über die Frage der Zustimmung von Minderjährigen zu sexuellen Handlungen unter anderem an seinem eigenen Beispiel spekulierte. Das Thema ist schwierig und komplex, wäre aber im europäischen, gebildeten Kontext rund um die Frage des sexuellen Erwachens junger Menschen nicht ungewöhnlich – nicht umsonst erscheinen Beiträge über den Pornovideokonsum und das Sexualverhalten von Minderjährigen. Milo erzählt erkennbar sarkastisch von Sex mit einem Priester, und am eigenen Beispiel, dass er sich durchaus in der Lage fühlte, selbstbestimmt in sexuelle Handlungen einzuwilligen. Ausserdem diskutiert er die – in der Debatte durchaus sinnvollen – Unterschiede zwischen Pädophilie und sexueller Attraktion im fortgeschrittenen Jugendalter.
Das Material stammt aus den Jahren 2015 und 2016, und aufgebracht hat es ein scheinbar traditionell-konservatives Internetmedium mit dem Namen Reagan Battalion, das sich offensichtlich schon länger mit dem britischen Exzentriker und Alt-right beschäftigt hatte. Als bekannt wurde, dass Milo bei der konservativen CPAC Konferenz sprechen würde, gab es von Seiten des traditionellen Establishments Kritik: Milos Auftreten mit seiner Vorliebe für schwarze Männer beim Sex und Frauen beim Trinken, seine Perlenketten, sein völliges Fehlen von Respekt auch gegenüber traditionellen Werten erschien dieser alles andere als kleinen Gruppe innerhalb der Republikaner als vollkommen unangemessen. Einen Anlass zur Distanzierung gab ausgerechnet die Twitterei des CNN-Talkshowmoderators Jake Tepper, der während des Wahlkampfs aufgeflogen war, als sein Team die Demokraten um Hilfe bei der Diskreditierung der Republikaner bat. Offensichtlich hatte sich Milo mit seiner Popularität auch innerhalb des rechten Lagers viele Feinde gemacht, denn ausgerechnet rechte Medien verdammten ihn ohne jede Differenzierung für seine Aussagen. Auch bei Breitbart, das Milo von einer stramm rechten Seite zu einer Plattform nicht ohne bösen Witz und Charme weiterentwickelt hatte, forderten manche Kollegen seine Entlassung, der er mit seiner Kündigung und einer Erklärung der Videosequenzen zuvor kam. Sein Verlag Simon & Schuster kündigte den Buchvertrag – für ein Werk über Political Correctness, das allein wegen der Vorbestellungen auf Platz 1 der Amazon Beststellerliste stand.
Für den gebildeten Stand liest sich der kometenhafte Aufstieg und Fall bis hierher schon wie ein Roman von Evelyn Waugh im 21. Jahrhundert über die Sitten und Gebräuche einer neuen Welt, die zwar auf der einen Seite kurzfristig den mokanten Charme des Alten Europas braucht, aber auf der anderen Seite dessen Vielschichtigkeit und die tiefer liegende Aversion gegen Bigotterie und Spiessermoral nicht erträgt. Milo hat sich offensichtlich zu viele Feinde gemacht, egal ob bei den klassischen Reaktionären oder bei deren Spiegelbild, den politisch korrekten Berufsbetroffenen von Feminismus und sozialer Gerechtigkeit.
Letztere kommen nicht nur mit Milo nicht zurecht, sondern auch mit einer anderen auffallenden Vertreterin der – jenseits ihres eigenen Verhaltens – zivilisierten Welt: Mit der Radikalfeministin Laurie Penny aus England, die wie Milo auf eine lange und exzentrische Geschichte im Aufmerksamkeitsgeschäft zurückschauen kann. Auch Penny hat katholische und jüdische Vorfahren, eine Vergangenheit mit Magersucht und burlesken Tänzen, und wurde bekannt mit männerhassenden Ansichten, die zum geflügelten Wort von Milo passen, Feminismus sei eine Krebserkrankung. Ungeachtet dessen kennen sich die beiden wohl schon länger, und Penny schrieb einen weithin beachteten und auch in deutschen Medien verbreiteten Beitrag über Milos Auftritt und Party beim Nominierungskongress der Republikaner. Dieser Beitrag triefte noch von der gewünschten Empörung über Alt-right, aber Penny war mit Milo und seinem Team erneut unterwegs, als eine Veranstaltung an der Universität in Berkeley in Gewalt umschlug. Hier äußerte sich Penny gegen das Vorgehen der Demonstranten, und der neue Beitrag aus dem rollenden Hauptquartier der Alt-right Bewegung beschrieb die Anhänger als “lost boys”. Man könnte sagen, dass Penny einen für ihre sonstigen Verhältnisse ungewöhnlich hellsichtigen und differenzierten Beitrag geschrieben hat, der zu ergründen versucht, was junge, charmante Männer dazu bringt, gegen den liberalen und konservativen Mainstream zu rebellieren.
Penny ist weiss, wird in den Medien als authentische Vordenkerin des Feminismus herumgereicht, hat gut dotierte Buchverträge und ist das, was man gemeinhin in diesen Kreisen als privilegiert bezeichnet. Und wie bei Milo hat sich auch in ihrem eigenen Lager wohl einiges an unterdrückter Wut aufgestaut, denn es gibt einer Antwort auf ihr Schaffen von einer, sagen wir mal bekannten lateinamerikanischen Aktivistin, und die hat es in sich. Einerseits wird Penny vorgeworfen, sie würde Milo nicht nur verharmlosen, sondern auch zu viel Verständnis aufbringen. Andererseits sei sie selbst eine Vertreterin der weissen Sichtweise und habe nichts für den Standpunkt echter Diskriminierter übrig, die sie verschweigen und unsichtbar machen würde. “White Supremacy” lautete der böse Vorwurf. Andere Feministinnen suchten und fanden Hinweise auf frühere Verbindungen zwischen Milo und Penny, und es ist wohl nicht ganz falsch davon auszugehen, dass sie sich besser verstehen, als die gegensätzlichen Standpunkte vermuten lassen. Penny erlebte das, was Tim Hunt auch schon passierte: Ein Shitstorm, während sie offline und kaum in der Lage war, sich gegen die Anschuldigungen zu wehren. Danach tweetete sie reichlich kleinlaut auch einige Worte zur Lage afroamerikanischer und anderer benachteiligter Gruppen, ohne dass sie damit eine Mässigung bei ihren Anklägerinnen erreicht hätte.
Also ich finde ja, Milo und Penny sind ein kinky Paar, sie sollten heiraten, ein pompöses Landhaus kaufen, Orgien organisieren und zusammen einen Sexratgeber schrei
Milo und Penny haben den amerikanischen Wahlkampf um eine exzentrisch-europäische Note bereichert, als eine Art popkulturelle Plünderer links und rechts des Mainstreams ihrer jeweiligen Lager. Beide sind Aussenseiter, sie gehören nicht dazu und wurden akzeptiert, weil sie nützlich waren. Ihr eigenes Establishment liefert sie ans Messer, nur wenige melden sich hilfreich zu ihrer Unterstützung, und es sieht auch nicht so aus, als würde man gegenüber Julian Assange in London für seine Rolle beim Wahlkampf Gnade walten lassen. Feministinnen konnten die weissen Frauen nicht für Clinton überzeugen, aber Gamer Gate und Alt-right und die Angst vor einem feministischen Linksruck haben viele junge, gut ausgebildete Männer auf Trumps Seite gebracht. Die neuen Konflikte der Trumpadministration um langweilige Themen wie Gesundheit, Militär und Steuern brauchen keine Paradiesvögel mit sexuellen Ausschweifungen und demonstrativer Verachtung für die linken und rechten Traditionen der USA. Insofern ist es nur folgerichtig, dass man sie mit kurzen, brutalen Schlägen diskreditiert und in die Wüste vor der amerikanischen Kulturmojave geschickt hat. Man hätte es wissen können, wenn man Waugh gelesen hätte. Und man darf gespannt sein, wie sich Milo und Penny nach ihren Ausflügen nun neu erfinden, denn ihre Vertreibung macht ihre orthodoxen Verfolger, die keine Perlenketten tragen und nicht an Stangen tanzen, noch lange nicht sexy, aufregend und medial vorzeigbar.
Das sind ganz schreckliche Leute, ghastly, denen möchte man nicht vorgestellt werden.