Natürlich kann man über Dinge sprechen, von denen unklar ist, ob sie überhaupt existieren. Seit 1800 Jahren etwa müht sich die Theologie mit der Apokatastasis ab: Ob es möglich ist, sich als Individuum ganz von der göttlichen Person zu trennen, und umgekehrt. An dieser Frage hängt im Christentum die Heilslehre, denn es geht davon aus, dass das Heil nur in der Kirche erreicht werden kann. Das praktische Problem ist, dass solche Theorien zwar in sich logisch sind, und möglicherweise im Jenseits auch so gehandhabt werden. Nur hier bei uns erlebt man es nicht. Es kommt kein göttliches Wesen aus meinem Wasserkocher, stellt sich als Urmutter vor und verwirft mich, weil ich mal nachgezählt habe, wie wenige Aktivistinnen im Diesseits Aussicht auf gute Stellen in der Wirtschaft haben.
Es ist unbestreitbar, dass es zu diesem Thema Bücher und Texte gibt, es gibt bildliche Darstellungen, wie man sich so eine Verstossung durch den Schöpfer vorstellen sollte, und viele Leute, die mit der Angst vor so einer Trennung Geschäfte machten. Viele der heute lebenden Menschen sind inzwischen zum Schluss gekommen, dass sie ihr irdisches Leben so gestalten wollen, wie es ihnen gerade passt, weil sie an die Konsequenzen der Verdammnis nicht mehr glauben, weshalb auch nicht mehr so wie früher Seelenmessen gebucht werden. Einer früher allgemein vertretenen Überzeugung steht heute eine Mischung aus Unglauben und Desinteresse gegenüber.
Was aber nicht bedeutet, dass es heute keine Heilsversprechen für ein besseres Dasein gäbe, die mit der gleichen kritiklosen Inbrunst gepredigt werden, wie dereinst das Tragen eines Rosenkranzes und die Unverzichtbarkeit der heiligen Sakramente. Das läuft heute ein wenig wie beim frühen Christentum: Ein Grüppchen bärtiger Aussenseiter tut sich zusammen, entwickelt eigene Vorstellungen vom Dasein, wird dafür aber nicht mehr verfolgt, sondern von findigen Journalisten hoch geschrieben und als neuer Standard oder neue Zukunft verkauft, bis eine Vielzahl von Beiträgen, Medien und Spezialmagazinen von quasireligiöser Erweckung durch den Trend berichten. Und das, obwohl man es im Kern nur mit einer Gruppe bärtiger und schlecht gepflegter Typen mit gestörter Wahrnehmung der Realität zu tun hat. In der Realität, in der man auch auf die Erscheinung eines strafenden Gottes vergeblich wartete, wundert man sich, wo die eigentlich sein sollen. Weil man sie abseits ihrer Gruppen, ihrer Internetforen und der Berichte eigentlich nie sieht. Es sind netzbasierte Phantomthemen.
1. Drohnenpiloten
Ich lebe in einer Region, in der es von Drohnen wimmeln müsste, und betreibe die Tätigkeiten, für die Drohnen laut Medien besonders grandios sind. Ich habe in den letzten drei Jahren genau 4 Drohnen im Einsatz gesehen: Ein professionelles Gerät während der Mille Miglia in Siena, dessen Pilot Ärger mit der Polizei bekam. Eine kleine, nervige Drohne ebenfalls bei einer Mille Miglia, und eine weitere im Startbereich der L’Eroica. Die letzte Drohne sah ich auf dem Weg zum Pfitscher Joch ganz hinten im Zillertal bei einer Sportveranstaltung, die jungen Managern das Teambuilding beim Klettern und beim Rafting bebringt. Dort ließen die Organisatoren über sichtbar überforderten und gestressten Büromenschen an einem Kletterfelsen eine Drohne fliegen. Das ist eigentlich das Letzte, was man am Berg tun sollte: Menschen, die ohnehin schon in Todesangst sind und nicht wissen, was sie tun, so ein Nervgerät vor das Gesichtsfeld setzen, das sie filmt und vom Überleben ablenkt. Ansonsten ist das Gebirge, egal wo ich bin, drohnenfreie Zone. Mir wird von Experimenten berichtet, wie Drohnen Radlern auf dem Tempelhofer Feld folgen: Da kann man das machen. Es mag auch ernsthafte Anwendungen für ernsthafte Drohnen geben. Aber bei uns in der Realität gibt es die Einsicht, dass diese in den Medien gelobten Flugkameras am Berg, auf der Strasse und im Gelände nichts verloren haben, und eine massive Gefährdung sein können. Also praktisch überall außer auf dem Tempelhofer Feld.
2. Cyborgs
Von Neuromancer bis Matrix ist die Vorstellung einer Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine weit verbreitet, und mit schöner Regelmässigkeit erscheinen Beiträge, wie toll es doch ist, wenn dem Körper Chips, Module und Interfaceanschlüsse eingesetzt werden können. Das alles krankt momentan noch am Umstand, dass die einzig wirklich gut funktionierenden Schnittstellen zwischen Hirn und Rechner bis heute Tastatur, Hände, Augen und Bildschirm sind. Gross angekündigte Schritte in die Cyborgrichtung wie Google Glass sind schon wieder verschwunden, was natürlich manche nicht davon abhält, sich Technikfragmente unter die Haut einsetzen zu lassen, wo es dann vor sich hin schimmelt. Das letzte, was man von so einem mittelbekannten deutschen Cyborg lesen konnte, waren seine höchst irdischen Probleme mit renitenten Untermietern.
3. Polyamorie
Den Älteren unter uns wahlweise als gschlamperte Verhältnisse oder offene Zweiterbeziehung bekannt – zu Letzterer gibt es übrigens auch ein Theaterstück von Dario Fo. Es gibt diesbezüglich einige Foren, in denen sich Leute über die Fragen alternativer Partnerschaftsmodelle austauschen, und es gibt Vorschläge aus Kreisen der Grünen, Elternschaft auf bis zu 4 Personen auszudehnen. Das mag in gewissen Einzelfällen vorteilhaft erscheinen, wenn etwa bei Polyamorie eine Familie zerbricht und dann verschiedene Patchworkkonstellationen entstehen. Polyamorie ist weniger Sex als vielmehr eine theoretisch-politische Hinterfragung gängiger Normen wie der Cyborg beim menschlichen Körper und das Bedingungslose Grundeinkommen beim Lebensunterhalt. Im Kontrast dazu stehen aber in der Realität all die klassischen Familiengründungen mit teuren Hochzeiten und den enormen Problemen, überhaupt noch einen Termin am Traualter der Kirchen zu bekommen – worüber aber nur selten geschrieben wird.
4. Internethaustechnik
Ich war auf zwei Hausbesitzerversammlungen mit exakt der Zielgruppe, von der jeder Internethaustechnikanbieter träumen musste. Eine dieser Versammlungen war gerade betroffen vom Einbau brandneuer Stromverbrauchsmessgeräte, die mir 80 Euro Rückzahlung wegen falscher Werte einbrachten. In beiden Anlagen hat die deutsche Telekom in Sachen Internet mit ihren VoIP-Versuchen, wie man so schön sagt, das Kraut ausgeschüttet. Es ist kein Problem, bei solchen Versammlungen sichere Schliessanlagen, Videoüberwachung und einbruchsichere Fenster anzusprechen. Die Besitzer, von denen keiner arm ist, haben aber kein gutes Gefühl, wenn das Haus und seine Funktionen der Sicherheit auf dem Handy überlassen werden. Das erklärt vielleicht, warum ich nur genau 1 Neubau kenne, der vor 8 Jahren von einem leitenden technischen Mitarbeiter eines Weltmarktführers in dieser Hinsicht mit allen Optionen ausgestattet wurde – und genau dieses Haus mit der immens teuren und heute längst veralteten Technik ungewöhnlich spät und nur zu einem recht niedrigen Preis wieder verkauft werden konnte. Tresorriegel in der Tür sind in meiner Welt offensichtlich wichtiger als die Fernsteuerung des Hauses via Internet.
5. Mäzenatentum
Auch hier finden sich immer wieder Berichte darüber, wie schön das Leben doch ist, wenn Nutzer etwas, das andere im Netz tun, honorieren. Man setzte grosse Hoffnungen auf Flattr oder kachingle oder yourcent, man hatte Erwartungen bei Krautreporter, bis die sich zu einem Magazin umwandelten, letzthin versuchte man es mit dann mit dem US-Anbieter Patreon oder der französischen Konkurrenz Tipeee. Die Wortmeldungen von denen, die in Deutschland darauf hoffen, ihr Leben ganz oder teilweise über solche Plattformen zu finanzieren, wurden in den letzten Jahren erheblich düsterer als die immer noch euphorischen Berichte, in denen ab und an über einzelne erfolgreiche Ausnahmen berichtet wird. Man wird bei dem ein oder anderen Protagonisten der Szene auch den Eindruck nicht los, dass PR-Nebenaufträge oder wenigstens kostenlose Reisen, Kleidung und Bücher doch stärker als der Glaube an das gern zahlende Netzwerk der eigenen Follower sind. Es gibt eine Ausnahme: Wenn Gerichte und Abmahner mutige Blogger bedrohen, wird gern gespendet. Aber das kann auch nicht das gute Leben echter Menschen sein.
6. Transkinder
Also Minderjährige, die keinem eindeutigen Geschlecht zuzuordnen sind, und oft feministische Mütter haben, die im Netz berichten, dass ihre Söhne gern Röcke, rosa Kleider und sonstige eher mit Mädchen verbundene Attribute tragen. Mädchen aus solchen progressiven Verhältnissen fühlen sich, so lese ich im Internet, ganz besonders zum frühzeitigen Durchbrechen von Rollenerwartungen befähigt. Es gibt da einen Zusammenhang, je aufgeschlossener Familien, Familientrümmer und Journalisten für die Transfragen sind, desto öfters kommt es vor, dass Kinder tatsächlich binäre Geschlechtlichkeiten auflösen. Was die Eltern dann mit Stolz erfüllt. Mein Eindruck ist, dass Transkinder so eine Art Hochbegabung in Geschlechterrollen sind, und ähnlich oft vorkommen wie echte Hochbegabung. Also, in Wirklichkeit eher nur sehr selten. Aber man kann nachhelfen: Wenn eine Handvoll junger Leute eine Onlinepetition macht, die für einen Zeichentrickfilm ein lesbisches Happy End fordert, kann das mit einer globalen Medienkampagne zu einer empowernden Netzbewegung ausgewalzt werden, an der möglichst viele mitwirken sollen.
7. Onlinepetitionen
So eine Art Vater Unser 2.0, Dein Wille geschehe, aber tu gefälligst etwas für die Rettung der Wale, das Verbot von Meinung, die mir nicht gefällt und wenn es bis morgen Mittag keinen Weltfrieden gibt, esse ich meinen Pudding nicht, und das nackte Mädchen auf Seite 3 muss auch weg. Kleinkarierte und geistig begrenzte Menschen finden sich natürlich auch jenseits des Netzes, aber da gibt ihnen klugerweise niemand so ein Instrument in die Hand, und stellt auch keine Kamera vor sie hin. Wollen sie dort ein Bürgerbegehren machen, müssen sie sich vorher überlegen, wie sie es ausgestalten, damit es nicht nur ein paar andere beschränkte Leute mit Partikularinteressen anklicken, sondern zumindest eine Mehrheit erreicht. Es gibt gute Gründe, warum es im echten Leben Hürden bei solchen Bemühungen gibt – im Netz fallen sie weg, und dann braucht es nur noch ein paar befreundete Journalisten, um das Begehren klickstark zu machen. Zieht man erfundene Namen ab, wird es dann von weniger als 0,01% der Bevölkerung unterschrieben, woraus dann noch ein “Schon 7.000 Menschen fordern”-Beitrag entsteht.
Das alles findet man im Netz. Gleichzeitig können türkische Hacker 300 bekannte Accounts bei Twitter übernehmen, es gibt mit Vault7 einen neuen CIA-Skandal, intimste Daten aus Sexnetzwerken werden gestohlen und veröffentlicht, und das Thema IT-Sicherheit ist seitens der deutschen Politik etwas unterentwickelt. Ungeachtet dessen plant der Bundesjustizminister gerade den Aufbau einer Kontrollinfrastruktur für Meinung jenseits der staatlichen Gewaltenteilung, während das Renate Künast nicht weit genug geht, und andere werden ihre eigenen Zensurwünsche sicher auch noch einbringen.
Deshalb wird gerade so viel über wirklich wichtige Themen berichtet – wie den BBC Dad und all die nachgestellten Versionen, die endlich einmal die Brücke zwischen den Sphären des Internets und der Realität herstellen.