Meine Tätigkeit bei der FAZ umfasst auch das Redigieren -und im Zweifelsfall das Nichtfreischalten – von Kommentaren. Ich mag Debatten und verabscheue das Löschen, und oft genug sind in Beiträgen weiterführende Links, bei denen ich der Meinung bin, dass sie weder zu meinen Intentionen noch zu meinem Thema passen. Manchmal greife ich dann so ein, dass ich Links als Zeichen der Missbilligung inaktiv mache, wie etwa bei der Bild, epochtimes oder der taz. Oder ich wende mich an den Verfasser und bitte um thematisch passende Links. Wenn es gar zu viel wird, wenn bewusst gewisse Thesen und Richtungen dauernd kommen, lösche ich auch schon mal Kommentare. Das heisst aber nicht, dass ich nicht vorher lese, was da verlinkt wurde.
Das hat mit einer Erfahrung in meinem Studium zu tun – in einer Epoche, als Information seltenst frei, verbunden und allgemein verfügbar war. Es ging da einmal konkret um die Frage, ob es außerhalb christlicher Quellen greifbare Beweise einer christlichen Überzeugung von Konstantin dem Grossen in der Archäologie gibt. Für das gesamte Christentum ist die Frage absolut entscheidend, denn angeblich hat Konstantin der Kirche Rom überlassen, und sich nach Konstantinopel zurück gezogen. Diese sog. ”konstantinische Schenkung” wird von den meisten echten Archäologen ebenso abgelehnt, wie sie von christlichen Archäologen als bewiesen angesehen wird, und seit Jahrzehnten tobt in der Wissenschaft der Streit um die Frage, welche Hinterlassenschaften Konstantins man passend interpretieren kann. Ich sage das ganz offen, nach meiner Meinung sind die Argumente christlicher Forscher nicht stichhaltig und allein dem Umstand geschuldet, dass sonst das römische Papsttum historisch nicht mehr haltbar ist – neben all den schönen Legenden vom heiligen Kreuz.
Aber dafür muss man sich erst mit den Argumenten beider Seiten, ob man sie schätzt oder nicht, auseinandersetzen. Es gibt bei diesem Streit das Herbeirufen von Interdisziplinarität, die es erlaubt, der anderen Seite zu sagen, sie sollte sich doch erst mal bilden, wenn sie diskutieren will. Und so landet man in einem Seitenraum des archäologischen Instituts und liest ausgerechnet jene Kirchenväter, die das antike Erbe, das man studiert, mit aller Macht bekämpften und zerstörten. Man liest das, was von der wichtigen, heidnischen Schrift “Gegen die Christen” von Porphyrios aus der Zeit der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert noch erhalten ist. Wir haben diese wichtige Sicht eines Fremden auf die später dominierende Religion, weil Christen vor der Einführung ihres Glaubens als Staatsreligion gegen den Autor argumentierten, und dabei weite Teile seines Werks zitierten. 325, beim Konzil von Nicäa, war die Macht des Christentums dann schon so gefestigt, dass man nicht mehr diskutierte, sondern die Schrift des Porphyrios mitsamt ihrer störenden Quellenkritik am Christentum verbrannte.
Man sitzt da also in einem Nebenraum, vergleicht den Heiden und seine christlichen Gegner, die erst redeten und dann verbrannten, so weit es ihnen halt möglich war. Porphyrius wurde unwillentlich von Kirchenvätern gerettet, anderen erging es schlechter, Wir wissen aus einseitigen Quellen, dass es in Nordafrika einen erbitterten Donatistenstreit um die Frage gab, ob man vom Christentum Abgefallene wieder aufnehmen sollte: Der Kirchenvater Augustinus wollte erst darüber öffentlich diskutieren und, als er damit keinen durchschlagenden Erfolg hatte, die Donatisten vertilgen, was zu regelrechten Donatistenkriegen führte. Man kennt das vom Pelagianismus, der die strikte Erbsündenlehre wie wohl die meisten Menschen der christlichen Gegenwart ablehnte, und 431 vom Konzil in Ephesos erst verboten und dann radikal verfolgt wurde. Man kennt es von Jan Hus, der erst zu einer Diskussion seiner Thesen nach Konstanz eingeladen und dann verbrannt wurde. Man kennt es von Luther, der wegen einer Bedrohung des Ketzertodes aus Augsburg fliehen musste, und von Luther gleich noch einmal: Er dachte, er könnte die Juden in Diskussionen überzeugen, und als es ihm nicht gelang, forderte er neben Synagogenverbrennungen auch die Beschlagnahme aller jüdischer Schriften.
Das rabbinische Judentum ist da theoretisch anders – es gibt dort eine Pflicht, eine Gegenmeinung zu achten, weil die jüdische Gesetzesauslegung vor allem auf Abwägen und Debatten zwischen Gelehrten basiert, zwischen denen es formal keine besondere Hierarchie gibt. Das hat allerdings französische Juden nicht davon abgehalten, 1232 den Führer der Unschlüssigen, das heute hochgelobte Hauptwerk von Maimonides, ebenfalls verbrennen zu lassen. In abgemilderter Form wurde vom Rabbiner Salomo Adret geurteilt, nur Männer über 25 Jahren mit einer gewissen Erfahrung sollten das Buch lesen, was es möglicherweise für Jüngere erst recht begehrenswert machte. Maimonides behauptet – in vermutlich nicht ganz ernster Selbstbescheidung – dass sich sein Buch gar nicht an die Massen, sondern an erfahrene und gebildete Personen richtete. Es wurde und ist bis heute dennoch ein Bestseller der jüdischen Literatur. Und man kann davon ausgehen, dass allein der dreiste Titel, der benauptet, es gäbe im Glauben Unschlüssige über die allgemein akzeptierte Dogmen, ein Grund für den sensationellen Erfolg ist. Nichts facht den Verkaufserfolg mehr an, als ein gerissener und gewitzter Härethiker, dessen Bücher öffentlich verbrannt werden, und dessen Anhänger man gleichzeitig nicht wie die Donatisten ausrotten kann.
Das alles lernt man bei der Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte. Manchmal gelingt es den Oberen, die Flammen und Brandbomben der Andersdenkenden zu löschen, manchmal gelingt es nicht, und am Ende entsteht daraus wieder eine EKD mit ihren Käßmanns und Göring-Eckardts, gegen die wieder neue Häresien ins Leben gerufen werden. Man liest die vergangenen Streitereien und denkt sich, dass Heiden, Juden und Christen zwar recht seltsame Leute waren, aber sicher nicht dumm oder unfähig, die anderen zu verstehen. Aber irgendwann kippt das, es wird dogmatisch mit Verboten für Lehre, Sprechen und Denken, und iam Ende schreibt dann ein Ambrosius von Mailand an den Imperator, dass es völlig in Ordnung ist, Synagogen niederzubrennen. Dieses System der durchaus scharf geführten Debatte unvereinbarer Positionen, bei der jedes Lager aus seinem Gedankenmodell hervorzieht, was ihm argumentativ passt, schlägt angesichts von Macht- und Mehrheitsverhältnissen um in Verbote, etwas gar nicht mehr zu debattieren, zur Kenntnis zu nehmen, und jene auszugrenzen, die gerne weiter debattiert hätten.
Als ich gestern Nachmittag begann, mir Gedanken über diesen Beitrag zu machen, war mein Blog voll mit Links zur Debatte um Rolf Peter Sieferle und eine Liste von NDR und SZ, von der ich bis dahin gar nicht wusste, dass es sie gibt. Ich muss davon ausgehen, dass die Links dem Wunsch nach einer Debatte entsprechen. Sieferles Buch, verlegt vom neurechten Aktivisten Götz Kubitschek, stand da gerade noch auf Platz 9 der Amazon Bestsellerliste, jetzt ist es auf Platz 1. Der Spiegelautor, der das Buch auf Platz 9 der Liste gehoben hat, wird öffentlich von seinem Chefredakteur bei Spiegel Online vorgeführt, um die Ehre der Jury durch die Unterwerfung – werft den Purchen zu Poden! – wiederherzustellen (https://www.spiegel.de/kultur/literatur/finis-germania-spiegel-redakteur-johannes-saltzwedel-tritt-aus-sachbuch-jury-zurueck-a-1151810.html). Als Historiker fühlt man sich da an die grausamen Demütigungsrituale vor Päpsten und Königen des Mittelalters in der Öffentlichkeit zur Wiederherstellung ihrer “honor” oder ihres Gottesstellvertretertums erinnert. Als schlachtenverbeulte Schildwache vor dem Diskussionssaal meines Blogs, der ich gestern haufenweise Kommentare freigeschaltet habe, die sich kaum für Sieferle, sehr wohl aber für das Lesen von Sieferle ausgesprochen haben, habe ich da zwangsweise auch eine Meinung.
Das, was Donatisten und Pelagianer vertraten, und wofür man sie verdammte, ist heute weitgehend Konsens der Laienkirche. Die grosse Mehrheit in diesem Land würde heute Porphyrios in seiner Bibelkritik sicher zustimmen, wie sogar viele Theologen, die anerkennen, dass er sich ernsthaft mit den Quellen beschäftigte. Man dachte, man verbrennt Jan Hus, und bekam später dafür einen Luther und Glaubenskriege, die ganz Europa verheerten, und noch im letzten Jahrhundert war es deshalb schwer, wenn Protestanten und Katholiken heiraten wollten. Die Kirche verbrannte Savonarola, und trotzdem gibt es heute eine grüne Verbotspartei. Und warum? Weil ein paar Eliten dachten, sie könnten bestimmen, was andere denken sollten, und was nicht. Weil diese Eliten dachten, sie könnten entscheiden, welche Debatte erlaubt ist, und welche Debatte zu führen unter ihrer Würde sei. Jedes Schisma, jeder Glaubenskrieg, jeder Totalitarismus beginnt mit der Beendigung der öffentlichen Debatte. Man hat sich in Mitteleuropa nach den schlechten Erfahrungen und enormen Opfern dazu entschieden, das radikale Prinzip der Meinungsfreiheit dagegen zu setzen. Meinungsfreiheit ist unbequem und in sich radikal, aber sie verhindert Dogmen. Meinungsfreiheit bedeutet nun mal, dass ich nicht nur eine Meinung vertreten darf, sondern auch das Recht habe, mich über alle Meinungen zu informieren und zu empfehlen, das zu tun. Das ist der entscheidende Unterschied zur Gedankenfreiheit. Solange Bücher und Webseiten nicht aus triftigen Gründen von einem rechtsstaatlichen Gericht verboten sind, sind sie erlaubt. Und solange sie erlaubt sind, sollte es auch erlaubt sein, sie direkt zu empfehlen, und nicht nur indirekt und unbeabsichtigt, indem man warnt, dass um Himmels Willen niemand das empfehlen darf.
Das andere Buch von Sieferle über die Migrationskrise stürmt übrigens auch gerade die Verkaufscharts. Natürlich – und solche Rufe werden im Internet gerade auch schon laut – gibt es jetzt die Option, Amazon unter Druck zu setzen, die Bücher nicht mehr zu verkaufen. Es gibt jenseits des Rechtsstaates durchaus Mittel, mit denen man die Verbreitung solcher Werke bekämpfen kann. Teilnehmer der Jury bekunden öffentlich, dass sie nicht für die Entscheidung verantwortlich waren, was mögliche Abweichler moralisch unter Druck setzt. Nun sollen als Folge des Vorgangs generell Bücher gewissermaßen vorzensiert werden, die aufgrund abweichender Einstellungen nicht die Empfehlungsliste dürfen: Irgendwer wird also einen Index librorum prohibitorum erstellen und über Neuerscheinungen wachen müssen, damit die Schäfchen da draußen keine Kunde von Häretikern bekommen, während bei Kubitschek die Rotationsmaschinen weiterhin heisslaufen. Was kommt als nächstes? Verbot von Druckermaschinen, Entzug der ISBN-Nummern, Exporte deutscher Debattenverbote, noch so ein Versuch wie der Boykott gegen einen Buchhändler, der die “falschen” Bücher prominent platziert? Oder ein Schritt weiter wie die Antifa, die expressis verbis im Internet dazu aufruft, mir die Wohnung zu verwüsten, weil ich die STASI-Vergangenheit von Andrej Holm thematisiert habe? Und weil das Bezeichnen als “rechtsradikal” nach all dem Missbrauch gegen jede nicht linke Sichtweise heute nicht mehr ausreicht, um Gegner zu verdammen?
Dass dieses probate Mittel offensichtlich niemanden mehr abhält, das Buch des extrem formulierden Autors zu kaufen, ist eine der Lehren der letzten 24 Stunden – und es sieht so aus, als müsste ich nun auch gegen meinen Willen zu Kubitscheks Kunde werden, um fundiert mitreden zu können. Das besondere Problem bei diesem Fall ist, dass Sieferle aus dem Leben geschieden ist, und man hier über einen Toten zu Gericht sitzt, der sich nicht wehren kann. Auch dafür gibt es historische Vorbilder wie die Leichensynode des Jahres 897. Man wirft Sieferle vor, er stünde in einer äußerst schlechten, historischen Tradition, was durchaus stimmen mag. Aber die Geschichte kennt viel mehr Hässliches, das es zu vermeiden gilt, wenn man das Erbe der Aufklärung nicht schmälern möchte.
Ich habe die Befürchtung, dass mich Sieferle entsetzlich langweilen wird, wie die meisten früher linken Renegaten, wie auch Augustinus einer war. Und wenn man Sieferles Empfehler kühl, nüchtern und umfassend darzulegen erlaubt hätte, ganz ohne falsche Demut, warum das Buch lesenswert sein soll, hätten sich vermutlich auch die Käufe von Finis Germania in Grenzen gehalten.