Die Zeiten für Menschen ohne eindeutige parteipolitische Haltung sind hart: Ist man in sozialen Netzwerken etwas bekannter, und sagt man recht offen, dass man Gauland und seine Aussagen zur Wehrmacht wie auch seine ganze Partei massiv ablehnt, kommt einer daher und nennt einen Volksverräter, weil man sich für die AfD zu fein sei: In meinem Fall hat das der inzwischen gesperrte Account @felixaustria97 gemacht. Ist man aber auch regierungskritisch, und auf dem Höhepunkt der Debatte um das NetzDG und die damit verbundene Zensur durch die Regierung von Heiko Maas und Angela Merkel froh, dass man leicht nach Österreich radeln kann, meldet sich ein @littlewisehen und unterstellt mir gleich, ich hätte Probleme, in einem Rechtsstaat zu leben.
Nun ist littlewisehen kein gesperrter Nutzer, obwohl er mittlerweile schon länger damit auffällt, Andersdenkenden Sprachvorschriften zu machen, ihnen schlechte Eigenschaften nachzusagen oder ganz generell vieles anzugreifen, was seiner klar linken Haltung nicht ins Konzept passt. Hinter dem Kürzel steckt angeblich ein Wirtschaftsblogger und Anwalt, dessen Namen leicht festzustellen ist, aber wer weiss das schon? littlewisehen hat seinen Nutzern auch schon mal ein phantastisches Bild vom Tegernsee gezeigt und behauptet, er werde sein Wochenende hier verlängern:
Als Einheimischer wundert man sich über die frappierende Ähnlichkeit mit einem Bild aus dem Archiv der bekannten Webcam des Wallbergkircherls. Fast könnte man denken, die obere Leiste mit den Herkunftsangaben wurde für Twitter einfach abgeschnitten. Eine gewisse Vorsicht ist also angesagt, egal ob @felixaustria97 vor seiner Löschung den Grünen kinderschänderische Neigungen nachsagte, oder littlewisehens Thesen im Netz massiv verbreitet werden. Gestern war es mal wieder so weit: Er hat mit seiner Behauptung, die AfD würde in Sachen Oktoberfest lügen, einen Viralhit gelandet. Hintergrund ist ein AfD-Plakat, das behauptet “Oktoberfest: Gähnende Leere”. Littlewisehen setzt eine Pressemeldung vom ersten Wiesnwochenende dagegen und schreibt: Und wieder lügt die #AfD. Am ersten Wochenende kamen rund 100.000 mehr (!) als im Vorjahr, trotz ekelhaftem Wetter.
Auf der Welle reitet auch die BILD-Politik-Redakteurin Miriam Hollstein, die zur AfD “Weg mit den Fakten” sagt
Da kann das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Form von Quer/BRmit einer Fake News Behauptung natürlich auch nicht zurückstehen:
“Unfassbar, wie die AfD lügt”, titelt ein weiterer Internetaktivist:
Und auch der SPD-nahe Twitter-Account Deine SPD behauptet, es sei der erfolgreichste Oktoberfeststart seit Jahren gewesen, und bezichtigt die AfD der Wiesn-Lüge:
Nun ist nicht von der Hand zu weisen, dass 2016 tatsächlich am ersten Wochenende beim strömendem Regen rund 500.000 Besucher den Weg zum Fest fanden, und dieses Jahr rund 100.000 mehr gezählt wurden. Aber die Frage ist: Was bedeutet das wirklich für die Wiesn?
2016 war für das Fest ein Jahr des drastischen Rückgangs der Besucherzahlen am ersten Wochenende. So schlecht war es in den ganzen letzten 10 Jahren nicht mehr, und tatsächlich wurde die Situation damals wörtlich mit “gähnender Leere” im Focus und bei der Welt umschrieben. Das einzig vergleichbar schlechte Jahr seit 2000 war 2001 – direkt nach den Anschlägen auf das World Trade Center. So gesehen sind 100.000 Besucher natürlich etwas mehr, und wenn letztes Jahr unter anderem wegen der Furcht vor Terror, sexuellen Übergriffen und massiven Sicherheitsvorkehrungen tatsächlich noch weniger los war, bedeutet der Anstieg noch lange nicht, dass das Fest gut oder auch nur ausreichend besucht wäre.
Das zeigt sich, wenn man nicht nur das absolute Horrorjahr 2016 mit der leichten Verbesserung 2017 vergleicht, sondern das ganze letzte Jahrzehnt. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, das zu tun, was littlewisehen, Miriam “Weg mit den Fakten ” Hollstein, Quer “Fake News” vom BR und Deine “der erfolgreichste Oktoberfeststart seit Jahren” SPD entweder nicht verstehen oder bewusst verschweigen.
2017: 600.000
2016: 500.000
2015 1.000.000 trotz durchwachsenem Wetter
2014: 1.000.000 trotz miserablem Wetter
2013: knapp 1.000.000
2012: 850.000 bei einem völlig verregneten Wochenende
2011: etwas unter 1.000.000 bei miserablem Wetter
2010: 900.000 bei kalter Witterung
2009: 1.000.000 bei schönem Wetter
2008: 1.000.000 bei einer richtigen Regenwiesn
2007: über 1.000.000 bei schönstem Wetter
Soviel zu “der erfolgreichste Oktoberfeststart seit Jahren”, den Deine SPD ins Internet lügt.
Betrachtet man also nicht nur den Extremwert vom letzten Jahr, sondern die tatsächliche Entwicklung und das Mittel der letzten 10 Jahre, und stellt man in Rechnung, dass für das erste Wochenende in den Medien nun Wörter wie “ruhig” und “entspannt” benutzt wurden, ist eigentlich klar, dass die Liebe zur Wiesn im Gegensatz zur zitierten SZ-Behauptung allenfalls sehr langsam wiederkommt. Die Zahlen sind ein Schlag ins Kontor – 300.000 bis 400.000 weniger Besucher am ersten Wochenende sind in der langfristigen Perspektive, und auf die gesamte Wiesn mit teilweise über 6 Millionen Bersucher bezogen, allein schon 5% weniger Besucher. Auf das Wochenende berechnet bleibt die Zahl 30-40% hinter den langfristigen Erwartungen zurück.
Möglicherweise hat es auch etwas damit zu tun, dass in Bayern wegen der Terrorangst und unlösbarer Sicherheitsprobleme die Sandkerwa in Bamberg abgesagt werden musste, und die Kirchweih in Hirschaid bei Bamberg letzte Woche kurz vor dem Abbruch stand, weil eine grössere Gruppe von Migranten Streit und sexuelle Übergriffe verursachten.
Die gähnende Leere, die die AfD erkennen will, ist Ansichtssache im Rahmen der Meinungsfreiheit – nicht mehr ganz so gähnend wie 2016, aber auch unabhängig vom Wetter immer noch zu wenig Besucher. Die 100.000 mehr, die Aktivisten, Medienvertreter und Parteienunterstützer im Chor als Argument gegen angebliche Lüge und Fake News vorbringen, reichen aber kaum aus, den massiven Rückgang zu erklären, der das Oktoberfest nach der Migrationskrise und der Offensive des islamistischen Terrors in Europa nun zum zweiten Mal trifft – zur Erinnerung: Der Wiesnauftakt wurde von einem Anschlag in London und einer Messerattacke in Paris überschattet. Egal ob der Lügenvorwurf durch die SPD-Freunde oder die “weg mit den Fakten”-Faktenfreiheit der BILD-Redakteurin oder die Fake News Phrase der Öffentlich-Rechtlichen: Im Wahlkampf zählt die ganze Wahrheit nicht besonders. Für Hunderte von Nutzern reicht in der Endphase eine Behauptung ohne jede tiefere Recherche durch einen Netzaktivisten völlig aus, um sie ungeprüft zu verbreiten – Hauptsache, die AfD kommt dabei als unglaubwürdig rüber. Das ist auch nicht besser als das ungeprüfte Verbreiten von AfD-Plakaten.
An der Erkenntnis, dass 600.000 Besucher am ersten Wiesenwochenende auch nach dem letzten Jahr immer noch eine äußerst schlechte Auslastung eines Festes sind, das spielend leicht mehr als 1 Million Besucher aufnehmen kann, führt kein Weg vorbei. Würde man sich ernsthaft nach den Gründen fragen, und etwaige Sorgen der Menschen ernst nehmen, statt sie mit Hinweis auf das geringe Allgemeinrisiko und ein paar Besucher mehr abzuwimmeln, hätte es die AfD mit derartigen Plakaten vielleicht weniger leicht, die Wähler anzusprechen. Es mag neben der Angst auch weitere Gründe geben: Die hohen Preise auf dem Fest oder ein generelles Ende des Wiesn-Hypes. Mit der die Realität negierenden Methode von littlewisehen überzeugt man vielleicht andere Twitteraktivisten. Aber kaum jemand, der sich wirklich Sorgen macht, fühlt sich vermutlich von diesem gleichtönenden Netzkonglomerat aus Medien, Parteien und Aktivisten ernst genommen. Und die AfD kann sich dank der fragwürdigen Zahlentrickserei mal wieder als Opfer einer Verschwörung der Medien präsentieren.
Nach der Wahl werden viele dann fordern, man müsste den Menschen endlich wieder besser zuhören, und Schuldige am Debakel suchen. Fake News, russische Hacker, nicht linientreue Journalisten – aber auf keinen Fall das eigene Versagen.