Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Verkauft die Kinder, uns fehlt das Geld

Wer konnte ahnen, dass angesichts der katastrophalen PISA-Ergebnisse von 2003 in Berlin jemand auf die Idee kommen konnte, Kinder mit einem Bildungsanspruch in die Welt zu setzen. Jetzt sind sie da - und wir haben den Salat.

Vorbemerkung Don Alphonso: Bei uns am Tegernsee wurde im Schlossgymnasium die Ganztagsbetreuung von Schülern hinterfragt, weil die Eltern ohnehin viel Zeit für ihre Kinder hätten. Statt Kriseninterventionskräften gibt es Strand und Alpenpanorama, wer sich austoben will, kann das an der schuleigenen Kletterwand machen, und als Herr Beisheim der Schule viel Geld zukommen lassen wollte, lehnte man bestimmt ab: Die Vorgeschichte der Person hat nicht wirklich gut gefallen, und Geld, pfff. Das ist tegernseenormal und wurde hier oft beschrieben. Weil das aber nicht deutschlandnormal ist, habe ich, mittelalter Single ohne Verpflichtungen, als Kontrast Katrin Roenicke, junge Mutter von zwei Kindern gebeten, einmal aufzuschreiben, was Schule in Berlin bedeutet und wieso es eigentlich dort weder einen Segelclub noch Skipisten gibt, und die Schulen auch nicht in einem Schloss residieren.

Wenn Bildung frei macht,
so will der Deutsche seine Bildung dazu auch so billig wie möglich haben.

Wenn der November die Temperatur merklich absenkt, der Himmel grau und die Sonne am Nachmittag verschwunden ist, dann gibt Sankt Martin vielen Eltern halt. Kurz nach der Umstellung der Uhren auf die unerbittliche Winterzeit, die dazu führt, dass nach der Schule kein Kind mehr auf einen Spielplatz geht, weil man ab 16:30 Uhr die eigene Hand nicht mehr vor den Augen sieht, ist das Martinsfest ein Highlight: Es werden Lagerfeuer angezündet, man wickelt Stockbrotteig um lange zurechtgeschnitzte Äste, der erste Glühwein wird für die Eltern aufgesetzt und für die Kinder ein überzuckerter Glühpunsch. Die Kinder basteln in Schule und Kita Laternen, sie üben Lieder ein und am Ende läuft man, wahlweise mit Fanfarenzug, Sambatruppe oder pur, im Dunkeln durch ein paar Straßen und trägt das Gebastelte wie das Eingeübte zur Schau.

Doch dieses Jahr läuft das anders: Die Eltern, nicht die Kinder, basteln und üben ein. Wir basteln Transpis mit wütenden Sprüchen und wir üben ebenso wütende Parolen ein, die wir beim Laternenumzug unserer Kinder eins wie das andere zur Schau stellen. Man hat uns den beschaulichen Sankt Martins-Umzug genommen, denn es ist ernst. In Berlin ist Schule nämlich ein Krampf.

© Katrin RönickeKinder. Laternen. Alles schön. oder?

Ähnlich wie die Berliner Bäcker sind Berliner Schulen für Süddeutsche immer wieder ein Schock. Während man die einen immerhin gut durch Bio-Läden ersetzen kann und schwäbische Bäckereien, in denen man Weckle statt Schrippen bekommt, boomen, hat Berlin seine ungenutzten Schulgebäude verscherbelt – egal, wer braucht Mauern, wenn man beliebig viele Container aufstellen kann? Wer konnte denn ahnen, dass irgendwann im Prenzlauer Berg und im Friedrichshain Latte-Machiavelli-Muttis die lieben Finkid-bezipfelten Kleinen in Emmaljungas zum Baby-Yoga schunkeln und fünf Jahre später in die Schule schicken würden? Wer konnte ahnen, dass in Berlin angesichts der PISA-Ergebnisse von 2003 irgendjemand auf die Idee kommen konnte, ernsthaft Kinder mit einem Bildungsanspruch in die Welt zu setzen.

Nun – da haben die Eltern wohl nicht so richtig aufgepasst. Die Eltern, das sind wir. Das Kind ist nun da und seit diesem Sommer auf einer Schule, genauer: einer staatlichen Schule. Die Schule seines Einzugsgebietes, denn wir haben keinen Sonderaufwand betrieben, das Kind anderswo unterzubringen. Damit fallen wir als Bildungsbürgertums-Eltern schon mal komplett aus dem Rahmen. Andere Eltern bemühen psychologische Gutachten, die ihrer Brut besondere Fähigkeiten wie Hochbegabung oder Hochsensibilität attestieren – ein Freifahrtsschein für die besonders begehrten Schulen. Andere – gar nicht so wenige – fahren 30, 45 oder 60 Minuten zu einer Waldorfschule in einem anderen Stadtbezirk und begnügen sich damit, dass ihr Kind vor dem Ende der zweiten Klasse zwar nicht lesen können, dafür aber seinen Namen tanzen wird. Für diese Eltern, angesichts der Aussicht auf die staatliche Schule, ein fairer Deal.

© Katrin RönickeDie ehemalige Max-Kreuziger-Schule in Friedrichshain. Eine Investorengruppe hat sie mit dem Architekturbüro „Arin + Partner” in hochwertige Wohnungen umgebaut.

Während Schule ohnehin für eine Vielzahl von Menschen aus persönlichen Gründen ein absolutes Reizthema ist, bin ich bisher nur politisch und wissenschaftlich motiviert auf die Barrikaden gegangen. Zumindest war das bisher immer so. Meine eigene Schulzeit in Süddeutschland war eine gute Zeit. Einige Kinder waren fiese Mobber und manche Lehrer inkompetent, aber gelernt habe ich immer gern, und Schule an sich vom ersten Jahr an gemocht. In der Oberstufe lernte ich bei einem wundervollen Biologie-Lehrer, der sein Fach merklich liebte, dass die Natur unglaublich clever ist: Er las uns aus Konrad Lorenz‘ Geschichten über die Gans Martina vor um uns zu zeigen, wie frühkindliche Prägung funktioniert. Im Chemielabor legte er weniger Wert darauf, sklavisch Strukturformeln auswendig zu lernen, sondern lächelte selig, wenn eins verstand, dass und warum freie Radikale in Kettenpolymerisationen und Substitutionsreaktionen so abgehen. Irgendwann sah man überall das Schlüssel-Schloss-Prinzip und war verblüfft, wie schlau die Natur all diese Dinge eingefädelt hatte. Kurz: Liebe. Diese Liebe habe ich mitgenommen, als ich mich nach Berlin aufmachte, wo ich zunächst Biologie studierte. Doch leider hatte man in Berlin gerade auf den neuen Bachelor umgestellt. Dieses Studium habe ich nach drei Jahren ausgelaugt und demoralisiert geschmissen. Danach dauerte es noch einmal zwei Jahre, bis ein Professor zaghaft über eine Mailingliste, auf der ich immer noch eingetragen war, anmerkte: Man habe das Gefühl, der Studiengang sei schwer studierbar.  Bravo. Berlin hat zerstört, was die süddeutsche Provinz aufgebaut hat.

Im vergangenen Jahr kamen wir alle zurück zu jenem Ort an dem wir 2002 unser Abitur gemacht hatten. Neun Jahre hatte ich das eckige Gymnasium in einem beliebten Kurort besucht. Der Verein der Freunde dieses Gymnasiums hatte anlässlich unseres Erscheinens extra einen Sektempfang bereitet. Zudem wurden wir Teil einer Führung durch das Schulgebäude, wo uns offenbart wurde, wie sehr auch heute, in den Jahren der Krise, diese eine Schule sich nicht unterkriegen lässt. Kurz: Das Geld fließt. Der Sektempfang fand in den neugebauten Horträumen der Schule statt, die seit letztem Jahr auch eine Ganztagsschule ist. Auch wenn das Wort „Hort“ zu meiner Schulzeit ein ostdeutsches Fremdwort in dieser Region war, ist doch die Schule heute ganz nach dem Motto „Learning from the Best“ mit einem exquisiten Ganztagsversorgungsprogramm  ausgestattet. Sämtliche naturwissenschaftlichen Schulräume waren nicht nur generalüberholt, sondern technisch und im Sortiment großzügig bestückt worden. In meinem Biologie-Studium habe ich Praktika absolviert, wo wir weniger Instrumente hatten. Weswegen man sich in der Regel alles selbst kaufen musste, was ohnehin in Berlin an der Tagesordnung ist, denn Bildungseinrichtungen sind immer knapp bei Kasse.

© Katrin RönickeIm beschaulichen Schlosspark kann man auch im 21. Jahrhundert noch Postkutschen beobachten.

Ich laufe durch diese Schule vier Stockwerke hoch, vier Stockwerke runter. Zu unserem Empfang samt Führung (ooohhh! Aaaaahh!) waren auch einige unserer damaligen Lehrerinnen und Lehrer gekommen. Man fragt mich wie es mir ginge. Ich antworte in knappen Sätzen, denn im Moment der Frage geht es mir bescheiden. Ohne dass ich genau sagen könnte, warum eigentlich. Ich antworte ausreichend, meine Kinder erwähne ich nie.

Noch am selben Abend hat das Orchester beim Fest im Kurpark einen Auftritt. Mein Herz rutscht in die Hose. Ich musste meine Kurortschule etwa 5-8 Jahre besuchen, ehe mir bewusst wurde, dass ich selbst auch sehr gerne Teil dieses Orchesters gewesen wäre. Aber auf manche Ideen kommen Arbeiterkinder aus dem Osten etwas später als andere. Habitus hin, Herkunft her – es war jenes popelige Schulorchester, das mir gezeigt hatte, dass ich bei klassischer Musik weinen muss. Die Wandelhalle wird von ihrer seltsam pompösen Lichterdekoration hell erleuchtet. Um mich herum Kurgäste, Eltern, Großeltern, Lehrerinnen und Lehrer, meine alten Klassenkameraden. Ich fühle mich als wäre ich nie weg gewesen und fremd zugleich. Das Orchester beginnt. Und auf einmal bricht es in mir zusammen: diese Kultur, dieses Wissen, diese umfassende Bildung, dieses Geld! Als Erziehungswissenschaftlerin hat man doch ein sehr genaues Bild davon, wie man sich Bildung und Schule und die Begleitung von Kindern in Ihr Leben vorstellt. Die bittere Erkenntnis lautet:

So. Ich stelle mir das so vor. Ich kann das selber gar nicht glauben, wollte ich nicht nach der Schule so schnell es geht weg? Einfach weg? Weit weg?

© Katrin RönickeFrüher fand ich diese Bäumer bieder…

Das Orchester spielt, ich lausche, es ergreift mich sofort wieder, rührt mich im Innersten. Welch eine Leistung: Ein Orchester, bei dem jedes Kind mitmachen kann und das um die ganze Welt tourt. Man muss dafür nicht bezahlen, man muss nur ein Instrument spielen. Ein Schulorchester eben, für jede Schülerin, für jeden Schüler dieser Schule zugänglich. Einer Schule, die 31 Zwölftklässler nach Den Haag zum “International Criminal Tribunal for the former Yugoslawia (ICTY)” schickt. Endlich kapiere ich, was ich für ein irrsinniges Glück hatte. Bisher hatte ich mich – weil Hauptstadtbewohnerin – immer besser gefühlt, hipper, weltoffener. Nach meinem Weggang hatte ich für diese meine Vergangenheit, diese meine alte Heimat manchmal heimlich, manchmal auch nicht so heimlich, nur Mitleid. Ich merke, wie ich mir plötzlich wünsche, ich könnte meine Kinder auf diese eine, diese richtig gute Schule schicken.

Ein Jahr später in Berlin sammle ich Unterschriften, damit die Schulsozialarbeiter an der Grundschule meines Sohnes nicht in weniger als zwei Monaten gekündigt werden. Die Schulleitung hatte es aus der Presse erfahren: Anfang vergangener Woche stand in der Zeitung, dass neben unserer Schule auch viele andere Schulen ihre Sozialarbeiter verlieren würden. Weil: Aus unerfindlichen Gründen hatte Schulsenatorin Scheeres jetzt erst bemerkt, dass ihr leider eine Million Euro in ihrer Kasse fehlt.  Eine Million fehlt. Von Haushaltsdingen habe ich wahrlich keine Ahnung, aber ich lese manchmal beim Bio-Bäcker die großen rot unterstrichenen Überschriften der Klatschpresse und irgendwie kommt es mir so vor, als ob eine Million selbst im armen Berlin vergleichsweise lachhaft ist (Stadtschlösser und Großflughäfen, sowie kaputte Dächer und Gleise von kürzlich errichten Hauptbahnhöfen werfen ganz andere Summen in die Debatte). Es ist – seien wir doch ehrlich – ein lächerlicher Betrag für den Senat, erst recht in Relation zu allem anderen. Doch Scheeres muss offenbar sparen: Weitere vier Millionen werden aus der Vorbereitung von Jugendlichen für die spätere Ausbildung in einem Projekt in Spandau gezogen – ein Projekt, dessen Erfolgsquote bei 90 Prozent liegt. Warum fällt plötzlich, am Jahresende auf, dass Geld fehlt? Vielleicht liegt es an der eben vom Senat durchgeschubsten Strukturreform, die Berlins Landespolitik in Zukunft jährlich zehn Millionen Euro kosten soll? Weil die steuerfreie Kostenpauschale von 1000 auf 1.500 Euro pro Abgeordneter erhöht, das Budget für Mitarbeiter von 580 auf 3.000 Euro verfünffacht und der gesamte Senat mit zwei Senatoren mehr ausgestattet werden soll? Man weiß es nicht.

© Katrin RönickeMit Laternen und Schildern: Unsere Kinder müssen etwas früher politisch werden, als im Süden.

Der Laternenumzug jedenfalls, der zu einer Demo umfunktioniert worden war, trommelte sich an einem Donnerstagabend durch die Straßen dieser Stadt. Begleitet von Polizeiautos skandierten Zehnjährige voller Inbrunst: „Die Schulsozialarbeiter müssen bleiben!“ Immerhin sind Berlins Kinder eines sehr früh: Politisch aktive Subjekte, die Parolen brüllen.