Wir befinden uns im Jahr 1982. Oscar Simonato, ein Künstler an der Lötlampe, baut in Treviso einen Rennradrahmen. Es ist der Rahmen, der in diesem Jahr zur Messe nach Mailand soll, und was Simonato aus den besten verfügbaren Rohren zaubert, vereint seine ganze Meisterschaft in sich. Alles ist Handarbeit, jedes Detail wird penibel nachgearbeitet, und am Ende geht ein Objekt der Begierde in die Lombardei, das viele am Stand bewundern werden. Ein Händler bewundert es so sehr, dass er Oscar Simonato diesen einen Rahmen vom Stand weg abschwatzt. Man muss sich das vorstellen, der Mann bestellt auf der Messe Dutzende von Rahmen bei grossen Firmen, es ist sein Beruf, aber hier bekniet er den Meister für diesen einen Rahmen. Daheim in Deutschland kann er nicht umhin, dafür einen Käufer zu suchen, und findet ihn in einer nicht unwichtigen Persönlichkeit des hiesigen Radsports. Der baut ihn mit feinen Dingen auf, aber eigentlich ist ihm dieses besondere Stück auch zu schade, und so wird es nur ab und zu im Sommer bewegt. Er kauft sich andere Räder, die Technik schreitet voran, er wird älter, zu alt für die gebückte Haltung, und irgendwann erkennt er, dass es Zeit ist, das Meisterstück weiter zu geben. Seine Tochter stellt es bei Ebay ein. Und jetzt gehört der Simonato mir, mir ganz allein.
Und ganz ehrlich: Er war teuer. Er ist technisch veraltet. Für das gleiche Geld würde ich ein erheblich besseres Neurad bekommen. Es ist mir vollkommen egal. Es gibt nur diesen einen Rahmen mit dieser Geschichte. Andere fahren vielleicht 5000 Euro teure Carbonräder – ich fahre eine Legende. Das ist hochgradig irrational, noch etwas irrationaler als die anderen 24 Ebay-Mitglieder, die ebenfalls erkleckliche Summen auf das Rad geboten haben, und sogar wissen wollten, ob der Besitzer es nach Japan verschiffen würde. Ich schaue mir das Simonato an und denke an den freundlichen Herrn in Osaka mit seinem schlechten Englisch, der sich gerade auf seiner Reismatte herumwälzt und sich auf japanisch verflucht, weil er so verdammt rational war, einfach seinen Maximalbetrag einzugeben und sich dann nicht mehr zu rühren – es werden immer wieder Räder kommen, und auch Überweisungen für ihn, aber dieses Rad kommt nicht mehr. Er weiss nicht, dass es ihm wenig gebracht hätte, nochmal 100 Euro draufzulegen, auch dann hätte ich ihn überboten, aber er könnte vielleicht besser in dem Wissen schlafen, dass es für den anderen wenigstens sehr, sehr teuer wurde. Dass es den anderen geschmerzt hat. So aber windet er sich, und ich muss keinen Meter mit diesem Rad fahren, damit es mich beglückt.
Ich weiss das. Ich kenne das alles. Ab und zu verliere ich auch bei Dingen, die mir wichtig sind, dann geht es mir wie dem schlaflosen Japaner. In meiner finsteren und an echten Auktionen im Saal geschulten Phantasie ist der Gegner immer ein ignoranter Zahnarzt, der mich nur bekämpft, weil ihm ein Anlageberater, ein Sammler oder sonst ein verkommener Parvenu es eingeredet hat. Nie, nie, nie ist mein Gegner ein netter Kerl, der halt auch ähnliche Interessen hat, und dem man deshalb etwas gönnen kann. Die Vorstellung, einem dummen Zahnarzt den Zugriff auf ein Gemälde zu verweigern, ihm eine sicher geglaubte Vitrine im letzten Moment zu entreissen, das Gefühl, noch einmal drüber zu gehen, selbst wenn es finanziell wirklich weh tut, und den Gedanken an das Aufgeld wegzuschieben, um dann im Gesicht des Zahnarztes zu sehen, dass er, piefiger Kleingeist, der er ist, beim Gedanken an das Aufgeld zurückschreckt – das ist natürlich nichts, was sich ökonomisch in Zahlen fassen lässt. Aber es ist fast so gut wie Sex. Mit der Frau, die der Zahnarzt gerne hätte, aber nie bekommen wird.
Auktionen sind, wenn es um seltene Dinge geht, gnadenlose Kriege, bei denen es am Ende immer nur einen gibt. Ich war einmal auf einer Auktion, bei der kleine Plakate für die ersten Disney-Taschenbücher in Deutschland versteigert wurden. Wer, dachte ich, kauft so einen sinnlosen Müll? Plakate mit amerikanischen Enten, die jedem Damenbesuch sofort vermitteln, was für Kindskopf da wohnt? Mein englischer Mahagonitisch, auf dem ich das hier schreibe, kam erst eine Stunde später, und ich hatte noch die Musse, den Verkauf der Plakate zu beobachten: Da sass ein unscheinbarer Mann im Publikum und hob die Hand. Und liess sie oben. Egal, welche Gebote eingingen, die Hand blieb oben. Das erste Plakat ging zu einem atemberaubend hohen Preis an ihn. Beim zweiten Plakat wollte es jemand wissen und trieb den Preis – vergeblich – noch höher. Das dritte Plakat erreichte Höhen, bei denen alle im Saal raunten. Dann war der Widerstand gebrochen, die anderen gaben auf, und die restlichen Plakate gingen zu vergleichsweise niedrigen Preisen an den Mann mit der gehobenen Hand. Und obwohl er für die Fetzen vollkommen irre Preise bezahlte, war er erkennbar bestens gelaunt. Er hatte es allen gezeigt. Er war ein vollkommener Idiot mit ein paar sinnlos überteuerten Papierfetzen, und dennoch glücklich.
Als dann mein Tisch an die Reihe kam, gab es keinen anderen, der gegen mich geboten hätte. Ich hob die Hand, und bekam ihn. Ich mag den Tisch sehr, aber es fehlt das Gefühl, ihn wirklich gegen einen anderen Bieter erobert zu haben. Das ist natürlich hochgradig irrational, und wirtschaftlich nachgerade idiotisch, aber es ist nun einmal so: Begierden werden angeregt, wenn etwas nicht einfach zu haben ist, und je persönlicher dieser Wunsch wird, desto teurer wird es.
So gesehen habe ich gar nicht den Eindruck, dass es im Internet besonders irrationale Vorgänge bei der Preisgestaltung gibt. Es gibt sicher ein paar wenig kluge Preisfindungen auf hohem Niveau, aber es bietet – im Vergleich zu einer echten Auktion – jede Menge Möglichkeiten zum rationalen Vorgehen. Man kann Vergleichsangebote suchen und deren Preisentwicklung beobachten, nach günstigsten Angebote ordnen, ideale Zeiten mit wenig Konkurrenz abwarten, es gibt ein riesiges Angebot und meistens – verkauft werden in der Regel ja nur schnöde Industrieprodukte – auch genug Nachschub, wenn man mal nicht gewonnen hat. Man hat Zeit, im Netz nach Alternativen zu suchen. Und wenn man nicht mal das beherrscht, kann man wenigstens versuchen, die Sache nicht allzu persönlich zu nehmen.
Das Internet hat im Vergleich zu offline-Preisfindungen den grossen Vorteil der praktisch unbegrenzten Transparenz und der langen Zeit, die zum Nachdenken bleibt. Danach kann man sich immer noch für ein dummes Verhalten entscheiden und zu viel zahlen, oder eine gute Chance verpassen. Den psychischen Druck eines Konflikts mit einem anderen Menschen jedoch kann man sehr leicht ablegen; man steigert im Netz nicht gegen einen sichtbaren Feind mit Emotionen, sondern nur gegen eine abstrakte Zahl auf einem gesichtslosen Bildschirm, die zu überbieten es einem wert ist. Dieser enorme Mangel an Irrationalität, das kühle Rechnen mit Zahlen anstelle des heissen Krieges mit menschlichen Gegnern ist es, was Auktionen für Unikate wie Kunst und teure Antiquitäten von Ebay fernhält: Es ist ein Ort des begrenzten Unsinns, aber kein Theater des blanken Irrsinns, den unpraktische Möbel wie mein Mahagonitisch und bunte Leinwände zur Bewertungsfindung dringend brauchen. Im Internet herrscht ein gewisses Grundmisstrauen gegenüber Beschreibungen und Bildern, das oft genug negativ auf den Preis einwirkt; im echten Auktionsbetrieb gibt es dagegen honorige Gutachten und bekannte Namen, für deren Sicherheiten man mehr zu zahlen bereit ist, auch wenn man keinerlei anklickbares Bewertungssystem der Verkäufer und Einlieferer wie im Internet hat.
Und wem das alles zu viel ist, und wer dabei keine Lust empfindet – der geht eben ins Online-Geschäft oder in den Nachverkauf, wo es ganz normal zugeht. Vernünftig. Angebot, Nachfrage, Preis, Produkt, Benutzung, Müll. Kein heisser Wahn, keine Lust, keine Verzweiflung, keine Gier, keine Emotion. Von diesem Standpunkt aus mag das Versteigern im Netz eine wüste, irrationale Sache sein. Ist es nicht. Das Netz ist kalt, berechnend und vergleichsweise gerecht, gerecht wie ein bezahlter Videochat mit einer nackten Frau oder ein gekauftes elektronisches Gerät, das nach ein paar Jahren wertlos ist. Der Irrsinn beginnt, wenn vorne das Bischofsgemälde gezeigt wird, auf das man all die Jahre gewartet hat; man ist der einsamste Mensch der Welt mit seinem gehobenen Arm im Saal, allein mit dem Auktionator. Und drei Zahnärzten, die es auch wollen. Und es geht im Sekundentakt nach oben. Nur einer wird zu all dem Schmerz die Freude erleben. Da muss man durch. Die Hand oben lassen. Und lächeln. Auch wenn es weh tut. Immer daran denken, wie sich die anderen in dieser Nacht ärgern werden. Man zahlt nicht das Bild.
Sondern den Preis der Vernichtung der anderen. Das muss es einem wert sein.Verstehen muss man es nicht. Das ist ja das Schöne am heissen Irrsinn in einer eisigen Welt voller kalter Zahlen.