Medienpolitik muss in der digitalen Gesellschaft Strukturen für Kinder zu schaffen, die sie dabei unterstützen ihr Wissen zu mehren. Der neue Jugendmedienschutz-Staatsvertrag hingegen legt offen, dass Erwachsene den Log-in für die Welt der Kinder längst verloren haben.
Mit ernsten Gesichtsausdruck steht ein fünfjähriger Junge unschlüssig vor der Schaukel auf dem Spielplatz an der Steinstraße. Bei seinem Anblick vergesse ich, dass ich manchmal wütend bin darüber, dass ich mit einem fast 40-jährigen Kind zusammen in einer Wohnung am Hackeschen Markt wohne. Große Zweifel leuchten in den Augen des 5-Jährigen, der da im Schnee steht. Ihnen entspringt die Frage, ob das Turnen auf diesem Spielgerät sich für die Aufnahme in dem viersprachigen Exzellenzkindergarten förderlich erweisen wird. Dann mag ich auch das erwachsene Kind aus der gemeinsamen Wohnung wieder, dessen Spieltrieb so oft an meinen Nerven zehrt, der mich dann aber bekocht und mir den Ernst von den Lippen küsst. Kindliche Unbekümmertheit sieht man in der Hauptstadt häufiger blondgeschopft auf Barhockern wippen. Vergnüglich brabbelnd in einem Designer-Kinderwagen, sieht man sie weniger oft.
Der Kontakt zur Jugend im Herz und im heute rieselt in Berlin, in Deutschland, leise mit dem ersten Schneestaub zwischen den Fingern hindurch auf den Boden, wo ihn prall gepolsterte Moonboots geräuschlos mit Füßen treten. Kinder in Berlin sind keine Wonneproppen, die quietschend aus Holzklötzen etwas Größeres bauen, als Papas akkurates Architekturmodell. Sie sind kleine Erwachsene, in deren Leben der einzig kindgerechte Aspekt das Label „Kinder-“ vor dem Yoga ist. Dabei bemerken die Eltern nicht, dass ihr zweijähriger Sprössling das Smartphone schon besser beherrscht als seine Milchkaffee schlürfenden Erzeuger. Und so realisieren weder sie, noch die Repräsentanten, die sie auf einen abgesessenen Parlamentsstuhl wählten, was die nachwachsenden Generationen brauchen, um mit digitalen Klötzchen noch Größeres zu bauen, als die Holzburg auf dem antiallergischen Wohnzimmerteppich.
Die Lustlosigkeit grassiert nicht nur in den Betten in deutschen Städten und verwehrt dem Elterngeld die demographische Erfolgsmeldung. Sie spreizt ihre Flügel auf in alle Richtungen: Gesundheitsminister Rösler will während des Bundespresseballs nicht vor der RBB-Kamera tanzen (“Zu privat!”), Charlotte Roche offeriert dem blassen Bundespräsidenten Sex um die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zu stoppen, der Autor Colm Tóibín gibt dem Tagesspiegel zu Protokoll: “Auf einem gemeinsamen Foto nehme ich nur Angela Merkel und Nicolas Sarkozy Sinnlichkeit ab, Berlusconi andererseits nicht.”
Die schmerzlichste Lustlosigkeit jedoch, die Deutschland so verschlafen und spröde wirken lässt, ist der Blick auf Kinder und Jugendliche: nichts scheint dem öffentlichen Diskurs, der Politik, den Eltern rätselhafter als die modern benannten Nachkommen. Das junge Leben von Anouk, Konrad und Salomon ist vom Lätzchen bis zur Studienwahl durchgeplant, und dennoch sind ihre Gedanken für ihre Erzieher noch geheimnisvoller als die Liebe. Und die? „Die Liebe schafft es, noch unergründlicher zu sein als das Internet.“
Die Liebe und das Internet nicht verstehen zu wollen, gehört hierzulande zu den beliebtesten Standardausflüchten, wenn Gespräche beginnen an Tiefe zu gewinnen und ein mehr an Mut, Kreativität und Loslassen verlangen, als ein enger Hemdkragen erlaubt. Doch wer braucht schon die Liebe und das Netz, wenn er alleine und ungekämmt am Frühstückstisch in der Zeitung die Nachrichten von gestern lesen kann? Denn noch weit hinter Sex, Technologie und Online-Journalismus rangiert unsere Zukunft. Über Kinder würde es sich mehr zu debattieren lohnen, als über die Hochzeiten von britischen Thronerben, verpixelte Häuserfassaden und Bezahlschranken für Boulevardberichterstattung. Doch da wir diese jungen Dinger nicht verstehen möchten – die geheimnisvolle Jugend, die zwar Pornos konsumiet, doch dennoch nicht promisk durch die Prüfung fällt und zudem fest an die große Liebe glaubt – und außerdem diese böse Technik nicht begreifen wollen – die alles gleichzeitig kann, will und uns durchleuchtet – werfen wir die Kids und das digitale Leben mit den anderen Rätseln in einen Topf.
Rätsel löst man in Deutschland immer noch gerne damit, ihnen mit Regeln und Verboten ein Kostüm überzuwerfen, dass sie erklärbar erscheinen lässt. Die besonders liebevolle Variante dieses Lösungsversuches stellt aktuell die Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages dar, der Kinder und Jugendliche nicht nur vor den Gefahren der klassischen Medien bewahren möchte, sondern nun auch vor den Fallstricken des Internets.
Im Netz verdient man in Deutschland kein Geld, für die Liebe taugt es selten, für die Jugend muss es gefährlich sein. Denn dort lauern besonders viele Inhalte, die “offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit unter Berücksichtigung der besonderen Wirkungsform des Verbreitungsmediums schwer zu gefährden”. Schon allein diese Formulierung aus dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wäre für ein “gemeinschaftsfähiges” Gespräch nicht geeignet. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen, an Orten, wo sie des Schutzes und der Unterstützung bedürfen, sei es vor Armut, Krankheit, körperlicher und seelischer Gewalt, Einschränkung ihrer Entwicklungs- und Ausbilundgschancen aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeit, ist wichtig und richtig. Gesetze für diese Art der Gefährdung eines kindgerechten Lebens, dass sie sie “eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten” heranwachsen lässt, sind jedoch nicht vorhanden oder wenig ausgefeilt. Sie sind zudem unterdiskutiert, wie im Falle der Kinderegelsätze von Hartz IV.
Wie die zerplatze Illusion über die Existenz einer Generation Porno, weiß man mittlerweile, dass Kinder schon früh über Filtersysteme verfügen, die sie wichtige von weniger relavanten Informationen unterscheiden lassen, die sie vor allem aber reale Sachverhalte von Fiktion trennen lassen und diese dementsprechend abspeichern und Schlüsse für ihr eigenes Verhalten daraus ziehen. “Obst verdirbt, Kinder nicht, Kinder schalten ab”, schreibt Malte Welding in einem Kommentar zur geplanten Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages, an dem besonders laut die Kritik von Medienpädagogen kratzt. Im Fokus des Jugendschutzes, auf den sich die Bundesländer verständigen, steht eine Symbolpolitik, die ein ein einseitiges Verständnis von die Macht über Medien und wenig Gespür für den Wandel der Informationswelt verrät. Erwachsene versuchen auf Senderseite zu regulieren, ohne anzuerkennen, dass mit Hinzunahme des Internets in den Staatsvertrag, das zudem eine Verstrickung mit den klassischen Medien aufweist, die deren Natur ebenfalls zu großen Teilen jetzt schon verändert hat, die klare Zuweisung von Urheber, Absender, Empfänger kaum noch möglich ist und der Informationsfluss sich ergießt in einem gemeinsamen Produkt, an dessen Gestaltung man über Wissen und Medienkompetenz mitwirken kann, dass aber niemals mehr kontrollierbar oder vollständig begreifbar sein wird.
Vor unerfreulichen Inhalten, seien sie in Zeitungen, im Fernsehen, auf Websites, seien sie pornografischer, beleidigender, schrecklich dummer oder brutaler Natur, kann der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag in der Form, in der er in den nächsten Wochen ratifiziert werden soll, weder Kinder noch Erwachsene schützen. Der Spiegel-Online-Redakteur Christian Stöcker nennt den Vetrag “weltfremd”, da unter anderem die darin vorgesehenen Alterskennzeichnungen und Sendezeiten von Websites an der Realität des technisch Machbaren vorbeigehen; vor allem aber ist er weltfremd, da er an der Lebens- und Netzrealität von Kindern und Jugendlichen vorbeigeht.
Wenn Sie sich über das geballte Computerwissen ihrer 11-jährigen Tochter wundern, die weder einen älteren Hacker-Bruder hat noch die Internet-AG in der Schule besucht, bekommen Sie eine Ahnung dafür, dass die Erwachsenenwelt kaum noch weiß, über was und über welche Wege Jugendliche tatsächlich Wissen austauschen. Es ist eine nicht unwichtige semantische Differenzierung, dass Kinder nicht im Internet missbraucht werden, sondern ihr Missbrauch im Internet dokumentiert werden kann. Genau so ist es wichtig, dass die Chancen und Risiken des Gebrauchs und der Wirkung von Medien auf Jugendliche sich aus den Erkenntnissen ihrer Welt schöpft, und das Anliegen Erwachsener sein muss, diese Welt reichhaltiger zu gestalten, statt ängstlich zu beschneiden.
Im Zeitalter des Internets, dass Kindern und Erwachsenen neue, einfache Wege aufzeigt sich Wissen anzueignen und manchmal auch Dummheiten zu begehen, braucht es keine Medienpolitik die begrenzt und in Aufseher und Betreute unterscheidet. Wir brauchen eine umfassende Förderung der Medienkompetenz in allen Altersklassen, die zum einen für alle uneingeschränkten Zugang zu möglichst vielen Medien und insbesondere dem Internet herstellt, und zum anderen Kinder und Erwachsene darin schult, Medien für Kommunikation und Bildung besser zu nutzen und darauf bedacht ist, dass digitale Medien mehr Wissen für alle schaffen, anstatt Wissensklüfte und kulturelle Spaltung zu vertiefen. Zur Vermeidung einer weiter greifenden kulturellen Kluft gehört auch, dass Medienförderung sich darum bemüht, dass ältere Generationen nicht den Anschluss an die nachfolgenden verlieren. Es muss vermieden werden, dass durch fehlende Kommunikation und falsche strukturgebende Entscheidungen das kreative und intellektuelle Potential auf allen Ebenen beschnitten wird.
Wenn Kinder und Bildung die Zukunft des Landes sind, sollten Grips und Geld nicht in digitale Stoppschilder und Filtersysteme fließen, sondern Kindern über Infrastruktur, Zuspruch und offene Ohren ermöglichen, untereinander ihr Wissen, ihre Ideen, ihre Schutzmechanismen weiterzugeben. Was daraus entstehen kann, wagt niemand zu ahnen. Und die Kinder werden so klug sein, auch diejenigen ins Spiel zu holen, die vormals nichts anderes kannten als Sorgen.