Zwei Worte ist dieser Beitrag alt, und schon steht der nächste böse Witz über Christian Wulff im Internet, so schnell kann das gehen, eine Anspielung auf Ernst Jünger und einen sinnlosen Krieg, schon ist er ins Lächerliche gezogen. Ja, es ist ein Kreuz mit diesem Internet, da haben die Bedenkenträger schon recht, der Nutzer ist ein Untier, der Respekt fehlt, und die nächste Suchanfrage mit kompromittierenden Worten ist nie weit entfernt. Das Internet kennt keine Grenzen und keine Zurückhaltung, es gibt Themen und die Suchmaschinen richten sich danach aus: Die Achtung vor dem Amt, die allgemein gern beschworen wird, spielt keine Rolle, wenn der sogenannte „Sh*tstorm” – ich denke, ich muss nicht übersetzen – über alle Konventionen des Betriebs von Medien und Politik hinwegrollt. In Fäkalgewittern, wie gesagt.
Durch manche Berichte schwingt ein gewisser Schauder über das, was im Internet so gesagt, geschrieben und rechtlich haltlos verbreitet wird, man fragt sich, ob das kleine Unwetter der Medien, das immer noch staatstragend grollt, nicht auch dem Umstand geschuldet ist, dass man die Erregungspotenziale des Netzes irgendwie aufgreifen muss. Die Medien, so die Theorie, sind getrieben von all dem Gift und der Häme in HTML, es laste der Druck der Leser auf ihnen, möglichst in der anschwellenden Kakophonie mitzuspielen, und nur so sei es zu erklären, dass es überhaupt so weit gekommen sei, wegen ein paar läppischer Vorfälle. Derweilen wühlen in den gleichen betroffenen Medien oft genug die Gesellschafts-, Gossip- und Gossenressorts bei Facebook und Twitter und delektieren die Leserschaft mit inzwischen unzählbaren Beiträgen: So lacht das Netz über Wulff. Oder: Die Internetcommunity führt Wulff vor. Fehlt eigentlich nur noch die Klickstrecke mit den 100 übelsten Netzgerüchten, aber die kommt vielleicht auch noch. „Denunziatorische Ruchlosigkeit” verkauft sich auch.
Man muss also die Schneise der Verwüstung durch das Fäkalgewitter erst gar nicht suchen, die Medien berichten schon gern und freudig, vermutlich, weil es sie von der Pflicht entbindet, sich selbst die Hände schmutzig zu machen, und die Leserschaft das auch gerne anklickt: Es ist Gaudi, es ist Entertainment, es ist die feixend niedrige Ergänzung zur moralisch hohen Empörung, es ist Demütigung wie in der Castingshow. Andere müssen für solche entwürdigenden Rituale in den Dschungel, aber der Netzdschungel hat längst Bellevue erreicht, und ist recht innovativ beim Erfinden grausamer Spielchen. Es gibt erfolgreiche Bildchen, Formulierungen und Witze, es verbreitet sich viral, jeder hat es gesehen, man macht das mit Freude und aus Überzeugung und weiß, dass man nichts Unrechtes getan hat, aber nicht alles richtig war, was man getan hat.
Die Erfahrung mit derartigen Fäkalgewittern zeigt, dass jeder Appell für Gnade um der Gnade willen wenig hilfreich ist; schon Freiherr von Guttenberg musste 2011 ähnlich schmachvolle Erfahrungen machen, auch wenn sich zu seinen Gunsten Facebookgruppen gründeten und jenes Organ, das im Moment die verfolgte Presse mimt, eine Kampagne für ihn veranstaltete. Der scharfe Witz der Wütenden – in früheren Epochen hätte man ihn als zersetzend bezeichnet – lässt sich dadurch nicht aufhalten; das Fäkalgewitter ist da auch nur eine Art unvermeidliches Schicksal, mit dem man sich abfinden muss, wie mit dem Sonnenschein der Speichelleckerei davor. Allerdings kann man nach gut 10 Jahren Blogs, intensiv genutzter Foren und einigen neuen Angeboten durchaus die Parameter erkennen, die darüber entscheiden, ob nur mal ein Wölkchen des Missbehagens im Internet aufzieht, oder ein Hurrikan vor der Tür steht.
Entscheidend wie bei jedem Unwetter ist, was vorher unten bei den Verantwortlichen an Ansprüchen, Phrasen und Inszenierungen verdampft ist. Vor einiger Zeit etwa hatte ein bayerischer Ministerpräsident eine Geschichte mit Nachwuchs – das hat niemanden allzu sehr überrascht, auch wenn der Mann davor recht katholisch aufgetreten ist. Medien zürnten, das Internet nahm es als natürliche Sache hin. Dann gab es einen Ex-Kanzler und einen Ex-Aussenminister und zwei Ministerpräsidenten, die sich der Industrie andienten – unschön, vielleicht sogar raffgierig, aber nichts anderes als das, was man von diesen Leuten erwartet hätte. Weniger erwartet hätte man die Trunkenheitsfahrt einer Bischöfin, aber sie zog schnell die Konsequenzen, bevor der Unterschied zwischen Anspruch und Realität zu sehr auffallen konnte. Bei all diesen Stürzen gab es eine gewisse Differenz zwischen zur Schau getragener Moral und gelebter Nichtsoganzethik, aber es war nichts, worüber man sich ereifert hätte. Oder, um mit dem Wulff zu heulen: „Das ist keine Entschuldigung, das ist auch keine ausreichende Erklärung, aber vielleicht der Impuls, der dazu geführt hat.” Hat er gut gesagt, der Wulff.
Dagegen kann man sehr gut erklären, was Wulff und Guttenberg – letzterem gleich zweimal – aus dem Netz ins Gesicht explodiert ist: Der enorme Unterschied zwischen lauthals verkündeten Idealen und gelebter Bigotterie. Das allein reizt schon, das ist das Material, der sich nachher wieder über die Personen ergiesst. Der eigentliche Auslöser aber ist dann noch die Unfähigkeit, das eigene Versagen einzusehen, das Negieren, das Verschleppen, das Aussitzen, das Lügen, das Taktieren. Das dauert, das geht bei den Betrachtern und den von diesem Personal Beherrschten an die Nieren, und nach zwei, drei Tagen schreibt auch der brave Familienvater ins Netz, was er vor 30 Jahren allenfalls gegen das TV-Gerät gebrüllt hätte. Jedes ordentliche Unwetter braucht eine gewisse Zeit, um sich zu sammeln. Wenn aber alles getan wird, damit weiter das Versagen deutlich wird, seien es nun 80 Disketten oder Übernachtungen bei privaten Freunden, die nur zufällig Multimillionäre und Sponsoren sind, bleibt es nicht bei der verärgerten Bemerkung. Die Leute haben Blogs, Twitter, Photoshop und Google Plus, und sie werden es einsetzen. Genau so rücksichtslos, wie man sie befäkaliert.
Die zur Schau gestellte Dreistigkeit wird als eigene Handlungsmaxime begriffen. Die Unlauterkeit ist der beste Anlass für die Vermutung, dass da noch mehr sein müsste. Dann wird eben gesucht, gesucht und spekuliert. Dem einem geht es um seine Karriere und sein Gehalt, das alle zahlen, den anderen um ihren Spass und den Return on Investment. Kein Panzerglas, keine Bodyguards, kein Protokoll und keine handverlesene Gästeliste können das Internet aufhalten. Der Verursacher will nicht reden, sich nicht erklären, die Sache klein halten? Macht nichts. Dann macht man es eben ohne ihn. Man braucht ihn nicht. Ab einer gewissen Grösse ist so ein Fäkalgewitter im Netz selbsterhaltend. Jemand redet von Verantwortung und sieht nicht ein, dass dazu auch Konsequenzen gehören? Dann ruiniert man eben seine Reputation. Egal ob beim Blattablesen, bei den öffentlich-rechtlichen Fragenabhaken, in einer Pressekonferenz oder mit einer Erklärung der Anwälte im Internet: Das ist keine Kommunikation, sondern nur die nächste Verweigerung mit dem Ziel, doch irgendwie durchzukommen. Der Ärger darüber wird nicht aufhören, solange sich vorgebliche Tugenden und tatsächliche Verfehlungen so angleichen, dass es wieder etwas wie Vertrauen geben kann, oder die fragliche Person durch den Rücktritt aufhört, eine öffentliche Schande zu sein. Die Bildzeitung mag die Macht haben, Politiker zu bedrängen, aber auch sie ist nicht in der Lage, Politiker vor den Mechanismen des Fäkalgewitters zu retten. Achtung gibt es vor Nichts und für Niemanden.
Und wie man beim versuchten Guttenbergcomeback gesehen hat, ist so ein Unwetter im Internet auch nicht wirklich vorbei: Ein paar dumme Bemerkungen, eine gewisse Renitenz, ein Rückfall in alte Neigungen der Selbstüberhöhung, und es geht sofort wieder los. Nicht jeder ist so dumm, Giovanni di Lorenzo etwa hat schnell eingesehen, dass er angesichts der Kritik mit Einsicht schnellstens Raum zwischen sich, Guttenberg und dem niederprasselnden Unwillen über die Steigbügelhalterei bringen muss. Vielleicht ist es ja wirklich so, dass die Medien ein wenig vom Internet und den Empörungswellen getrieben werden; sollte es so sein, muss man das nicht bedauern.
Die meisten Beteiligten sind keine Trolle und Hetzer, sondern ganz normale Leute, die sich nicht gern mehr als nötig belügen und hintergehen lassen. Und wenn alles vorbei ist, möchten sie auch wieder etwas anderes als das Elend der politischen Kaste sehen. Dann reparieren sie wieder den Wasserhahn, streichen den Zaun und sind recht freundlich und umgänglich, ja, bisweilen sogar nachsichtig und verständnisvoll. Es ist nicht schwer, sie nicht zum Äussersten zu treiben. Hätte man sie nicht enttäuscht, hätten sie kein Gewitter entfacht. Es ist nicht das böse Internet und seine grenzenlose Perfidie, es ist eine Antwort auf einen, neudeutsch, Moral- und Kommunikationsfail, eine Antwort, die gegeben wird, gerade weil sie von den anderen nicht gehört werden möchte. Diese Leute werfen nicht den ersten Stein. Aber sie werfen zurück, und sie warten dabei auch nicht, bis ihnen die Priester der Medien mit der Pfeife das Zeichen geben.