Je mehr Denkarbeit wir an Computer, Smartphones und Navis delegieren, desto mehr drohe uns die Verblödung, warnt der Hirnforscher Manfred Spitzer. Doch seine bewahrpädagogischen Abwehr-Rezepte riechen reichlich weltfremd.
Ich hatte früher mal ein ziemlich passables Gedächtnis für Telefonnummern. Freunde, Verwandte, Auftraggeber, wichtige Ansprechpartner in der Branche und Informanten – die meisten der von mir halbwegs regelmäßig angerufenen Nummern wußte ich auswendig. Wie mir diese Fähigkeit über die Jahre allmählich abhanden kam, kann ich gar nicht genau sagen. Dass viele Anschlüsse inzwischen im Handy-Adressbuch anrufbereit abgespeichert sind, trägt sicher dazu bei. Überhaupt telefoniert man auch gar nicht mehr so viel wie früher, vieles lässt sich per Mail oder Instant Messaging regeln, wofür man vor zwanzig Jahren noch den Telefonhörer in die Hand genommen hätte.
Für den Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer wäre mein Fall vermutlich ganz klar: digitale Demenz, verursacht durch das Delegieren von Denkprozessen an digitale Gerätschaften. Spitzer ist seit Jahr und Tag als Mahner und Warner unterwegs, um unablässig die Bedrohungen aufzuzeigen, die seiner Ansicht nach von Bildschirmmedien vom TV über Spielekonsolen und Smartphones bis hin zu Computern ausgehen. Jetzt hat er seine düstere Diagnose im Buchform unter dem griffigen Titel „Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen” auf den Markt gebracht. Das Auslagern von Kopfarbeit an Gerätschaften berge „immense Gefahren”, heißt es im Klappentext, der auch „alarmierende Forschungsergebnisse” verspricht. Bei Kindern und Jugendlichen werde durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. „Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.”
Mag es bei Licht besehen mit dem wissenschaftlichen Anspruch von Spitzers Bildschirmwarnungen auch nicht übermäßig weit her sein – das breite Medienecho der Buchveröffentlichung zeigt: Seine Thesen treffen in der Gesellschaft einen Nerv. Und wie so oft bei digitalen Debatten teilt sich das Publikum auf in Heilsgläubige und Apokalyptiker. Letzteren, denen der ganze Digitalisierungsprozess diffus suspekt ist, gibt Spitzer ordentlich Wasser auf die Mühle. Mit dem bewährten Schocker-Narrativ „am Schlimmsten trifft es immer die Kinder” ist dem Mahner und Warner die Aufmerksamkeit sicher. Und ebenso die Dankbarkeit der von den digitalen Begehrlichkeiten des Nachwuchses gestressten Eltern, die aufatmen, endlich sagt‘s mal jemand. Eine Kommentatorin „Petra” schreibt auf der Verlagswebsite: „Das, was ich als Hausfrau und Mutter als Folge des Medienkonsums meiner Kinder intuitiv gespürt habe, wird nun – endlich – von einem Neurowissenschaftler bestätigt! Der Author spricht mir aus der Seele!” Und ein „Horst” (toller nickname übrigens) merkt an: „Schlimmer noch: durch diese Verursacher der Verdummung bekommen Unschuldige den Elektrosmog mit, der dann zur völligen Verdummung aller, zu Demenz, Tumoren, Herzifarkten, Herzflimmern etc.führt. 24 Stunden pro Tag wird uns die Mikrowelle nicht nur erhitzen, sondern auch uns die athermische Wirkung spüren lassen, die heute noch Industrie und Politik verschweigen.” Dass die Computerei von solchem Lesepublikum nicht auch noch für die Erderwärmung samt drohender Klimakatastrophe verantwortlich gemacht wird, ist grad alles. Christian Jakubetz, kurzzeitig auch Blogger im Dienste dieser Zeitung, fasst die zugrundeliegenden Reiz- und Reaktionsmuster bei Cicero online treffend zusammen: „Die Masse misstraut der Neuerung und irgendwo findet sich sicher jemand, der einen Beleg dafür findet, dass das Neue auch gefährlich ist.”
Nun bin ich selber Vater einer Tochter im Grundschulalter, die gerade ihre ersten begleiteten Gehversuche am PC und im Internet unternimmt. Diesbezügliche Elternsorgen sind mir also durchaus nicht fremd. Die Gravitation des digitalen Universums, das unsere Kinder wie magisch anzieht, ist gigantisch. Und natürlich wäre ich der Letzte, der unbegrenzte Bildschirmzeit für Kinder für eine gute Idee hielte. Das heißt, meine Frau und ich setzen nicht nur gewisse Limits fest, sondern führen auch manche engagierte Diskussion darum, und machen wir uns nichts vor: Mit zunehmendem Alter werden das eher mehr als weniger werden. Trotzdem käme ich im Traum nicht auf die Idee, der Kleinen zu drohen, „mach jetzt die DVD aus, sonst kriegst Du im Alter Hirnerweichung.” Oder darauf, meiner Frau das geschenkte Navi wieder wegzunehmen mit dem Hinweis auf Hirnschrumpfung, wenn sie die Routen nicht anhand der Straßennamen und der Maßstabskarte memoriert, wie es der Professor Spitzer für sinnvoller hält.
Studien hin, Wissenschaftlichkeit her: Die Lehrmeinung von heute kann der erkannte Irrtum von morgen sein. Mir sind diese Befunde schlicht zu dünn, um mich davon in Angst und Schrecken versetzen zu lassen. Als ich klein (und eine ziemliche Leseratte) war, hieß es, Du verdirbst Dir die Augen, wenn Du so viel liest. Oder noch mehr, wenn Du bei schlechtem Licht so viel liest. Ich habe, wenn die Batterien der Taschenlampe alle waren, im Bett oft im trüben Licht der Straßenlaterne weitergelesen, und wenn das auch nur annähernd gestimmt hätte, was die Mahner und Warner damals prophezeiten, müsste ich längst blind sein wie ein Grottenolm. Dabei komme ich als Spätvierziger noch gut ohne Sehhilfe klar. Was mich an Spitzers Horrorgemälde stört ist nicht so sehr der an sich gut gemeinte Ratschlag, die Digitaldosis des Nachwuchses zu begrenzen. Es ist die dahinter stehende alarmistisch-kulturpessimistische Grundhaltung und der Geist hinter seinen bewahrpädagogischen Radikalrezepten, wie sie noch zu allen Zeiten aufgetischt wurden, wenn irgendwo eine neue Technik oder ein neues Medium Verbreitung fand. So plädierte Plato in der politeia dafür, Märchen und Sagen zu zensieren, damit Kinder nicht unerwünschte Wertvorstellungen aufnähmen. Die katholische Kirche verhinderte jahrhundertelang, dass ihre Schäflein selber in der Bibel lesen. Im Barock standen dann die neu entstandenen Zeitungen mit ihren Berichten von Mord, Totschlag und Kriegszügen in der Kritik, im Kaiserreich sorgte man sich viel über sogenannte Schund- und Schmutzliteratur, von harmlosen Comic-Heftchen hieß es noch in den 50er- und 60er Jahren, wer sich zu viel damit beschäftige, werde zwangsweise verblöden und/oder eine Verbrecherkarriere machen. Berichte über die Schädlichkeit von Film und Fernsehen sind Legion, noch in den späten Siebzigern forderte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt einen fernsehfreien Tag. Medienkritiker Neil Postman diagnostizierte zunächst „das Verschwinden der Kindheit” und setzte dann mit „Wir amüsieren uns zu Tode” Mitte der Achtziger noch eins drauf.
Ich aber lebe noch, manchmal sogar deutlich unteramüsiert. Ich habe nicht mehr alle relevanten Telefonnummern im Kopf, aber ein Kind mit einer einigermaßen intakten Kindheit zuhause. Und so frage ich die Klappentexter von Professor Spitzers Buch und den Neil-Postman-Übersetzer: Wer ist eigentlich wir?