Irgendwo hinter dem Chiemsee stellte ich das Navigationssystem aus. Zugegeben: Ich wäre in die falsche Richtung aufgefahren, hätte die Software mich nicht in Richtung München geschickt. Aber jetzt will ich wissen, ob ich das alte Hotel im Zentrum Merans ohne Navigationssystem wiederfinde und mit ihm das Restaurant, dass Don mir schon mehrmals empfahl und an dem wir vor einigen Wochen nur vorbeigefahren sind, weil es direkt hinter unserem Schlafplatz in Hall steht, eine Rampe entfernt, die einem den Hunger sowieso aus dem Leib treibt, wenn man die Strecke – wie wir – mit italienischen Rennrädern fährt. Danach weiter über die enge Straße, die auf der Brenner-Autobahn gegenüberliegenden Seite des Tals Richtung Passstraße führt, dann hinüber nach Italien, Sterzing, zum Jaufenpass hinauf und schließlich hinab nach Meran: Die erste Fahrt seit langem ohne Navigationsunterstützung; die erste Fahrt überhaupt ohne die Computerstimme aus der Mittelkonsole, seit ich kein eigenes Auto mehr besitze.
Ich halte mich für durchaus technologiefreundlich, veröffentliche meinen Aufenthaltsort ständig im Internet, bin dauernd online und nutze Navigationssysteme auch gern. In München, wo ich wohne und das ich sonst nur aus der Sicht eines Radfahrers kenne, erspart mir das Navigationssystem sehr viel Zeit, weil ich mich im eigenen Viertel natürlich noch einigermaßen auskenne, doch wenn der alte Schreibtisch, den ich abholen möchte, in einer Seitenstraße am Rande von Bogenhausen steht, wäre ich ohne Routenplanung wahrscheinlich verzweifelt. Aber – und darüber sprachen wir einige Zeit auf dem Weg nach Italien – die ständige Nutzung von Technologie scheint kontraproduktiv zu sein für die eigene Intuition. Erklärt unsere These die Berichterstattung vor einigen Jahren über Unfälle an Fähranlegern? Erklärt sie auch das Gefühl der leichten Unsicherheit, aus dem Heraus man das Navigationssystem trotzdem anschaltet in Umgebungen, die man eigentlich kennt?
Der I. verhielt sich stets folgendermaßen: Er stieg ins Auto, gab gewissenhaft den Zielort ein, zu dem er wollte und missachtete in Gegenden, die er von früher her kannte, regelmäßig die Vorschläge des Routingprogramms. »So ein Käse, man kann auch direkt hier hineinfahren!« oder »Das ist ein Umweg, ich kenne eine kürzere Strecke!« konnte man oft hören und tatsächlich erwiesen sich die eingeschlagenen Wege oftmals als gar nicht so schlecht. Dass er sich völlig verfuhr und »der Dame«, wie er sagte (er stellte stets die weibliche Stimme ein), zähneknirschend Recht einräumen musste, kam natürlich auch vor, jedoch selten genug. War sein Verhalten das Aufbegehren gegen die Übermacht der Technologie? Sein Versuch der Versicherung, dass man selbst der Technologie überlegen sei? Der I. ist einer gewesen, der mir seine neuen Rechner stets hinstellte und verlangte, das alte Betriebssystem zu installieren, das er noch kannte; Er habe keine Lust mehr, sich jetzt noch mit etwas Neuem auseinanderzusetzen, wo doch das alte noch läuft.
Ich bin indes nicht so alt, dass ich meine Sätze mit »Früher« beginnen möchte. Aufgewachsen bin ich auf dem Land, in meiner Jugend war die einzige Möglichkeit, längere Distanzen zu überbrücken, das eigene Kraftfahrzeug. Einige meiner Freunde machten wie ich mit Sechzehn den Mopedführerschein, ausnahmslos alle fuhren mit Achtzehn dann Auto. Das war Ende des letzten Jahrtausends und natürlich fuhren wir alte Autos, deren Technik zum Großteil in Radios und CD-Spielern zu finden war. Wir fuhren bis Frankreich und passierten Paris in jener Nacht, in der Prinzessin Diana tödlich verunglückte. Als ich damals für ein Jahr nach Frankfurt und überstürzt wieder weg zog, stand mir im gemieteten Transporter selbstverständlich kein Navigationssystem zur Verfügung – sie kosten ja heute noch Aufpreis. Aber ich hatte so etwas wie ein Gefühl, eine Intuition, in welche Richtung in fahren musste; der Rest ergab sich von selbst.
In London gehört die Orientierung ohne technische Unterstützung zur Prüfung des Taxischeins. Drei Jahre dauert im Schnitt das Lernen von Name und Ort jeder der etwa 25.000 Straßen der Stadt. Das ist eine außergewöhnliche Leistung, zum Vergleich: ich kenne bis heute nicht alle Straßen der Stadt, in der ich zur Schule ging. Wenn man durch die Stadt fuhr und eine Straße suchte, die man nicht kannte, orientierte man sich an den Eigenheiten der Viertel: Oben am Friedhof hießen alle Straßen wie Bäume, nebenan waren Vögel die Namensgeber und im Dichterviertel trugen die Straßen entsprechende Namen. Als ich darüber nachdachte, während wir ohne Navigationsunterstützung das Inntal hinabfuhren, fiel mir auf, dass ich diese Fähigkeit seit Jahren nicht mehr benutze. Ich weiß nicht, wie sich die Straßen hier in München gliedern, ob die Namensgebung einem System folgt. Ich habe darüber bisher nicht nachdenken müssen. Was mir jedoch schon lange auffällt ist, dass ich keine Telefonnummern mehr weiß. Wenn mein Handy ausfällt und ich keinen Zugang zum Internet habe, kann ich weder meine Freundin erreichen, deren Nummer ich nach sechs Jahren noch nicht auswendig kann, noch – seit ihrem Umzug – meine Großeltern. Die Mobilnummer meiner Mutter kenne ich nur deshalb, weil sie diese Nummer schon sehr lange besitzt. Dafür erinnere ich Nummern, die schon lange nicht mehr existieren: Die meines besten Freundes zu Grundschulzeiten oder die Nummer der Vobis-Mailbox, in die ich mich Mitte der Neunzigerjahre regelmäßig eingewählt habe mit einem für damalige Verhältnisse wahnsinnig schnellen und teuren Modem: 02405 94047.
Als ich letztes Jahr kurz vor Silvester in ein Taxi am Koblenzer Hauptbahnhof stieg und in eine Straße nach Vallendar wollte, bat mich der Fahrer, den Namen der Straße langsam zu buchstabieren, er käme mit dem Touchscreen nicht gut zurecht und es dauerte tatsächlich einige Zeit, bis er das Ziel in sein Navigationssystem eingegeben hatte. In Vallendar war er sich dann unsicher, ob er der Straße weiter bergauf folgen sollte, obwohl die Frau – auch er hatte die weibliche Stimme konfiguriert – behauptete, das Ziel sei erreicht, doch an dieser Stelle stand kein einziges Haus. Ist diese Unsicherheit und Unfähigkeit, Touchscreens in angenehmer Geschwindigkeit zu bedienen, eine Eigenheit von uns Digital Immigrants, ist das Unwohlsein beim völligen Verlass auf digitale Geräte, das sich nicht ständig, wohl aber ab und zu Bahn bricht, eine milde Form der Angst vor Neuem? Weiter: Ist diese Angst denn begründet? Sollten wir uns an alte Verhaltensmuster klammern, sollten wir sie trainieren, um die Fähigkeiten nicht ganz zu verlieren, die unsere Eltern einst hatten? Ich denke an die oben genannten, ich denke an die schöne Handschrift meines Vaters und ich denke an die Kiste im Keller, in der meine Freundin alte Briefe und Photographien aufbewahrt; keine Fähigkeit zwar, aber etwas, was ebenfalls seltener wird. Oder wird die Jugend unserer Kinder gar nicht so schlimm, vielleicht sogar besser, obwohl sie anders aussieht als wir unsere kennen?
Letztlich haben wir Meran gefunden und auch wieder zurück. Alles funktionierte fast ohne Vorfälle. Nur in Aldrans, kurz hinter dem Wilden Mann, bog ich einmal falsch ab. Sofort meldete sich die Intuition »das sieht hier merkwürdig aus«. Wir wendeten und an der nächsten Kreuzung gratulierte ich meinem Gefühl: Der Wegweiser nach Ampass war wirklich sehr klein und schlecht nur zu sehen.