In einem derartig verworrenen Fall wie dem des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy ist es keine besondere Überraschung mehr, wenn die Akte seines Verfahrens nicht mehr unter Verschluss, sondern in den Medien ist. Die Süddeutsche Zeitung hat sie offensichtlich gelesen und zitiert breit aus dem Inhalt – und der ist gruslig.
Es ist jenseits des abstossenden Geschäfts mit solchen Bildern aber auch etwas gruslig, weil Edathy, wenn man so will, über eine Art Vorratsdatenspeicherung und ihre Interpretation gestürzt ist. Aus den Datensätzen der ausgehobenen kanadischen Firma soll nach den Untersuchungen hervorgehen, dass er von 2005 bis 2010 31 mal Kunde war. Dass ihm die moralische Dimension der Bestellungen bei diesem Anbieter für Abgründiges und Verwerfliches durchaus bewusst gewesen sein sollte, ist kaum zu bezweifeln: Demzufolge wurden verschiedene Emailadressen benutzt, manche Inhalte mit der Post verschickt, andere aber auch mit der IT des Bundestages heruntergeladen. Dass so ein Verhalten für einen Abgeordneten nicht akzeptabel und generell höchst fragwürdig ist, versteht sich von selbst, die rein strafrechtliche Bewertung sieht aber anders aus. Hier vermerken die Unterlagen bei den in Frage kommenden Dateien, sie “sollte(n) strafrechtlich nicht relevant sein”. Obendrein hat Edathy über einen Anwalt nach Bekanntwerden der Aktion der kanadischen Polizei gegen den Pornohändler seine Kooperationsbereitschaft bei der Staatsanwaltschaft angeboten.
Die Geschichte nahm eine andere Wendung: Richter und Staatsanwaltschaft neigten eher zur Annahme, dass “nach kriminalistischer Erfahrung” in solchen Fällen noch mehr zu finden sei, und so kam es zur reichlich späten Hausdurchsuchung, zu den Photos durch das Fenster von Edathys Wohnung, zu den Stöpseleien bei SPD und CSU, und schliesslich auch zum Rücktritt von Landwirtschaftsminister Friedrich, der sich früher wie Edathy für die Vorratsdatenspeicherung eingesetzt hatte. Die besondere Ironie an der Sache: Hätte die Staatsanwaltschaft den Fall lediglich auf Basis der ihr vorliegenden Beweise und Daten behandelt, wie das von politischer Seite bei der geplanten Einführung der Vorratsdatenspeicherung versprochen wird, wäre die ganze Geschichte vielleicht nie aufgekommen. Statt dessen wurde ein “Graubereich” entdeckt, in dem sich Edathy befinden sollte, über die Natur der Inhalte müsste letztlich erst ein Richter entscheiden, und dazu kommt dann noch die “kriminalistische Erfahrung”, dass da noch mehr ist. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Unwillkürlich muss man an Amazon denken: “Kunden, die Nacktbilder von Jungen kauften, interessierten sich auch für andere pornographische Inhalte”. Oder an jene Professorin, die aufgrund der Persönlichkeitsstruktur von Männern sexuelle Übergriffe vorhersagen will. Oder an die Spieltheorie. Oder an den Film Minority Report, in dem vorhergesagt wird, wer ein Verbrechen begehen wird, mit dem entscheidenden Unterschied, dass es im Fall Edathy diesen Minority Report nicht gibt, sondern nur diese Schande für den Journalistenberuf, die auf der anderen Strassenseite die Bilder seiner Wohnung schoss, und Medien, die auf Basis dünner Informationen Edathy lebenslang bestraften. So, wie es sich im Moment aber darstellt, ist Edathy aufgrund der Informationen aus Kanada und der deutschen Gesetzeslage nicht eindeutig zu belangen. Dazu müsste man mehr finden – aber nach allem, was man bislang weiss, und was in der Aufgeregtheit und Schuldzuweisungen der Politik und Behörden etwas unterging, wurde bisher nichts Entsprechendes entdeckt.
Allzu viel gehört also offensichtlich nicht dazu, Gründe für einen Anfangsverdacht zu finden und mit Textbausteinen, wie die Süddeutsche schreibt, die Hausdurchsuchung und damit den irreversiblen Schaden für den Betroffenen einzuleiten. Wer sich an den Redtube-Fall und die Leichtigkeit erinnert, mit der von einem deutschen Gericht Tausende fragwürdigen Abmahnungen ausgesetzt wurden, mit vermutlich vielen privaten Problemen, bekommt vielleicht eine Vorstellung davon, wie das erst einmal sein wird, wenn alle Verbindungsdaten restlos und vollumfänglich gespeichert sind, und dann mit “Erfahrungen” und passenden Graubereichen verbunden werden.
Bei der Vorratsdatenspeicherung werden neben dem plakativen Reizthema Kinderpornographie auch meist organisierte Kriminalität und Terrorismus als Begründung angesprochen. Eigentlich sollte man in einem Rechtsstaat glauben, dass gilt: Nulla Poena sine Lege, keine Strafe ohne Gesetz. Wer nicht mit Drogen handelt, ist kein Drogenhändler, wer keine Bombe schmeisst oder sich dazu verabredet, ist kein Terrorist, wer keine Kinder schändet, ist kein Kinderschänder. In diesem Fall hat man aber Daten, die belegen, dass Edathy vermutlich die rechtlichen Freiheiten weitgehend ausgeschöpft hat. Das kann dank des Gummiparagraphen 184 StGB Verbreitung von Pornographie und dessen mitunter absurden Folgen sehr schnell gehen. Für §184b – Kinderpornographie – könnte rein inhaltlich betrachtet eine gut sortierte Klassikerbibliothek schon ausreichen, Mirabeaus “Bekehrung” und Hic et Haec”, Gides “Falschmünzer”, Manns “Tod in Venedig” (“Jedenfalls ist hier Päderastie annehmbar für den gebildeten Mittelstand gemacht”, erkannte damals Alfred Kerr). Oder auch Gipsabgüsse attischer Kouroi, die ich beim Studium der Klassischen Archäologie gesammelt habe und die jetzt in dem Raum stehen, in dem ich für diesen Beitrag recherchiert habe – und ich habe nicht den mindesten Zweifel, dass die Seiten, die ich heute Abend dafür besuchte, mit etwas bösem Willen auf grosses Interesse an Pädophilie, Drogenmissbrauch und Gründung einer terroristischen Vereinigung schliessen liessen (durch einen cis-heteronormativen, überzeugten Kinder-, Alkohol-, Tabak- und Drogenhasser, der bei einer bürgerlich-liberalen Zeitung arbeitet).
Solange auf der anderen Seite ein Staat und Behörden wären, die mir diese Informationsfreiräume vollumfänglich garantieren und sie mit grösstmöglicher Vorsicht behandeln, wäre eine Vorratsdatenspeicherung nicht allzu schlimm. Was aber in diesem Fall offensichtlich wird, ist das Gegenteil: Wer seine Rechte und Möglichkeiten ausschöpft, macht sich verdächtig. Wie die Grauzone anzusetzen ist, wie die Daten zu bewerten sind, die dann komplett und langfristig und jederzeit abrufbar sind, liegt ganz im Ermessen der Behörden – und bitte, nur ein paar hundert Meter von diesem meinem Zimmer, in dem der Tod in Venedig neben Hic et Haec steht, steht auch das Landgericht, das die Urteile im Fall Rudolf Rupp sprach. Bei Edathy haben 31 Internetvorgänge in 5 Jahren gereicht, um eine Existenz komplett zu zerstören. Vorratsdatenspeicherung bedeutet nicht weniger, als alle Verbindungen derartigen Verdächtigungen auszusetzen – oder eben darauf zu achten, dass man wie in einer Diktatur jeden Graubereich vermeidet, den das System definieren könnte. Die dafür nötigen Gummiparagraphen gibt es bereits, und selbst, wenn am Ende doch ein Freispruch oder eine Verfahrenseinstellung herauskommt, bleibt genug Ärger und Strafe hängen – völlig harmlose Bekannte wurden schon wegen Gotteslästerung verfolgt. In einem Internet voll mit anfälligen Routern, leichten Passwörter, infizierten Rechnern, staatlichen Trojanern, irren Stalkern und der Möglichkeit, anderen etwas unterzuschieben, kann das schnell gehen.
Dazu kommt noch ein weiteres Problem: Im Fall Edathy wird sein Jahre zurückliegendes Verhalten jetzt benutzt, um Abschätzungen über sein Verhalten in der Gegenwart vorzunehmen. Es ist schon übel genug, dass private Firmen wie die Schufa, Ebay, Amazon, Facebook und Google das tun und das Leben und Denken beeinflussen wollen, aber bei der staatlichen Überwachung sind die Folgen ungleich schlimmer. Das Menschenbild dieser rückwirkenden Verhaltensüberwachung ist fast schon totalitär – dass ein Mensch sich ändert, dazulernt, sich bessert, wird damit erst gar nicht angenommen, die alten Verfehlungen bestimmen das Bild und die Folgen für die Zukunft. Der nächste logische Schritt – Entwicklung von Modellen und Programmen, die auf Basis des Nutzerverhaltens potentielle Täter und Risikogruppen schon im Entstehen autonom aufspüren – wird dann sicher nicht lange auf sich warten lassen, wenn erst einmal alle Daten vorhanden sind. Hier noch ein Netzfilter – wegen KiPo natürlich und allenfalls wegen Extremismus – und da noch ein Verbot von Anonymisierungsdiensten, statt dessen eine Bürger-ID für das Internet, und das Netz ist so sicher wie in Nordkorea und China. Irgendetwas muss so ein Innenpolitiker ja fordern, wenn seine alten Forderungen erfüllt wurden, und sich an den grundlegenden Problemen nichts ändert.
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