Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Das Internet als die größte Selbsthilfegruppe der Welt

Geshartes Leid ist halbes Leid - denken Twitternutzer, und tauschen sich unter dem Hashtag "notjustsad" über ihre Depressionen aus. Das ist leichter als eine Therapie, und zudem nur bedingt hilfreich.

Vorbemerkung: Viren haben  es ja so an sich, dass sie sich verbreiten und dabei nicht viel denken –  Grippe und Hepatitis sind folgerichtig auch nicht dafür bekannt, Menschen weise zu machen. Und wie bei echten Viren muss man auch im Internet ab und zu mit Medizin hinterher laufen, wenn sie sich dank Twitter und oft selbst anfälliger Medien verbreiten. Nicht alles ist so fragwürdig wie das inzwischen gezielt nachgestellte Hollaback-Video, aber auch beim aktuellen Hashtag “Notjustsad” meldet hier Psychologin Mareike Ernst gewisse Bedenken an:

Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Krankheiten. Laut Schätzungen der WHO werden sie im Jahr 2020 die weltweit zweithäufigste Volkskrankheit sein. Doch psychische Krankheiten sind nach wie vor mit einem Stigma behaftet, vielen Gesunden fällt es schwer, die mitunter schwere Beeinträchtigung des Lebens durch dieses nicht sichtbare Leiden nachzuvollziehen.

Nicht darüber sprechen zu können und auf vollkommenes Unverständnis zu stoßen, falls man sich dann doch mal traut, das erschwert den Alltag erkrankter Personen zusätzlich.
All dies war und ist auch Thema bei der aktuell unter dem Hashtag “notjustsad” geführten Diskussion auf Twitter. Depressive weisen in Verbindung mit dem Schlagwort auf die vielen Facetten einer depressiven Erkrankung hin und dass eine Depression weitaus mehr bedeutet als “einfach nur traurig” zu sein, sondern auch mal komplett leer, so leer, dass es einen von innen zu verschlingen droht. Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit zu verspüren. Keinen Schlaf finden zu können oder tagelang das Bett nicht zu verlassen, ohne sich jemals ausgeruht zu fühlen. Wie es sich anfühlt, sich inmitten von Menschen hoffnungslos verloren und allein vorzukommen.
Die Intention ist dabei eine ähnliche wie schon vor einiger Zeit mit dem Hashtag “isjairre”: Entstigmatisierung, Information, Verständnis und Aufmerksamkeit.

Diese Diskussion ist eine wichtige und es bleibt zu hoffen und abzuwarten, ob sie auch außerhalb des Internets Wellen schlägt. Sie ist auch von enormer Aktualität, denn steigenden Zahlen von (potentiellen) PatientInnen, vor allem auch Kindern, stehen keinesfalls in ausreichender Menge Therapieplätze zur Verfügung, im Schnitt müssen Menschen in psychischer Not über zwei Monate auf einen Therapieplatz warten, so die Bundespsychotherapeutenkammer.

In Zeiten des Internets wird der Umgang mit der eigenen psychischen Erkrankung um eine weitere Dimension ergänzt, nämlich den Austausch mit zunächst noch Fremden, sei es auf öffentlichen Plattformen wie Twitter oder Tumblr oder in nach außen eher geschlossenen Foren. Nicht selten finden sich hier relativ feste Gruppen meist selbstdiagnostizierter Betroffener zusammen, die einander ein offenes Ohr und Unterstützung schenken. Das kann als sehr hilfreich erlebt werden. Endlich ist da jemand, der all das teilt. Der es versteht. Der da ist und zuhört. Wie ein Therapeut eben.

Für viele ist es schon ein wunderbares Gefühl, überhaupt einen Namen für das gefunden zu haben, was mit einem nicht zu stimmen scheint. Nimmt man also folgerichtig die Rolle des oder der Kranken an, entlastet das. In der Psychologie spricht man vom “Krankheitsgewinn”, welcher zunächst gar nicht als etwas Verwerfliches betrachtet werden muss.

Problematisch wird es erst, wenn die “Vorteile”, die mit dem Selbstbild und der Rolle als kranker Mensch einhergehen zu bequem sind, um sich auf den steinigen Weg der Besserung zu begeben.
Eine Gruppe gefunden zu haben, welche sich eben dadurch auszeichnet, dass man einander versteht, weil man gegen die gleiche Dunkelheit anzukämpfen hat, wenn auch in unterschiedlicher Erscheinung – das erleichtert nicht, die Krankheit loszulassen, denn was hat man dann noch? Vor allem Leere. Aber eine Konfrontation mit der Leere im Leben, einen Anstoß dazu, diese von sich aus mit etwas zu füllen, beides ist nötig, wenn man aus dem Loch wieder herausklettern möchte.

Wahrscheinlich erlebt man durch seine Onlinekontakte mehr Unterstützung als durch das sonstige soziale Umfeld, man hat sie ja schließlich nach diesem Kriterium ausgesucht, aber das Internet ist keine Couch und Tweets kein Therapieersatz. Eine Therapie ist darauf angelegt, dass zwar eine vertrauensvolle, neue Beziehung zustande kommt, die vieles tragen kann, auch einen selbst in schwierigen Phasen, aber diese soll, muss und wird auch wieder enden. Geplant. Und zwar so, dass man stärker aus ihr hervorgeht als man vorher war. Zur Therapie gehört die Vorbereitung auf ihr Ende, das ist eine der Besonderheiten dieser Bindung.

Stützt man sich stattdessen auf seine persönliche Online-Selbsthilfegruppe, so ist diese Beziehung gänzlich anderer Natur. Man hat schließlich aufgrund seiner Krankheit zusammengefunden, man fühlt sich zum ersten Mal nicht allein, wie will man dieser dann den Rücken kehren? Woher soll die Motivation und Kraft kommen, das vereinende Element zu fallenzulassen? Wenn man die Anstrengung unternimmt, die Depression loszuwerden, verliert man auch etwas, eine Art von Sicherheit und vielleicht auch einen Teil der eigenen Identität. Es fehlt ein festes Übergangsobjekt, das außerhalb des ganzen Chaos steht, welches einen gerade umtreibt.

Dem Chaos durch eine (Selbst-)Diagnose einen Namen geben zu können ist somit als ein Versuch anzuerkennen, die ganze Überforderung durch das Leben an sich irgendwie beherrschbar zu machen. Bei der Menge an Blogposts von Personen, die plötzlich wussten, was mit ihnen los ist, muss das Internet zu 99,7% von Menschen bevölkert sein, die eine psychiatrische Diagnose haben. Der Weg zu dieser wird beschrieben, als habe sich plötzlich der Himmel geöffnet und ein Engel Halleluja gesungen, bis dann im gleißenden Licht der Sonne schließlich das passende Label herabgesegelt sei, welches man nun für sich akzeptieren darf. Endlich weiß man, wer man ist.

Auch ist es modern geworden, sich selbst eigentlich als “krank” besetzte Eigenschaften zuzusprechen, um etwas zu beschreiben, was sich noch im Normbereich bewegt und keinesfalls mit Leiden verbunden ist. Nein, man ist nicht sehr ordentlich und gewissenhaft, man ist “zwanghaft”. Obwohl man sich vermutlich nicht vorstellen kann, wie eine Person durch eine Zwangsstörung beeinträchtigt sein kann und dass das nichts damit zu tun hat, seinen Haushalt besonders gut im Griff zu haben. Es ist ihnen nicht klar, dass es umgekehrt sogar bedeutet, eben die Sachen nicht tun zu können, die für Normalgesunde kein Problem darstellen, beispielsweise das Haus zu verlassen.

Eine solche Verwendung des Begriffs einer psychischen Krankheit stellt eine Bagatellisierung dar und erschwert es tatsächlich betroffenen Personen, mit ihrem Leiden ernstgenommen zu werden.
Die neuen psychisch Kranken sind die empfindsamen Künstler, die das Internet mit ihren tiefschürfenden Gedanken vollschreiben und auf Instagram die dazugehörige düstere Illustration kreieren, nicht diese verlorenen Leute, die im Winter barfuß und mit leerem Blick durch die Stadt laufen oder manchmal neben uns im Bus sitzen und anscheinend grundlos schreien, sabbern und schlecht riechen und allen unangenehm sind. An die denken wir nicht.

Es geht nicht darum, jemandem seine Beeinträchtigung abzusprechen, weil sie nicht “ausreichend schlimm” sei. Belastung ist subjektiv und zur Diagnostizierung einer psychischen Störung gehört in der Regel, dass die Person darunter leidet, aber nicht jede leidende Person ist psychisch krank. Schlechtere Phasen gehören zum Leben dazu und vieles geht von selbst vorbei. Falls nicht, sollte man allerdings nicht zögern, sich professionelle Hilfe zu suchen. Gedanken wie zum Beispiel „für eine Therapie nicht krank genug zu sein“, eben weil es anderen vielleicht noch schlechter geht, sollte man beiseite schieben. Therapeuten können das schon selbst einschätzen. Und egal, wie gut man googeln kann oder wie viele Follower man hat, das Internet wird niemals eine Therapie ersetzen können.