Netzneutralität klingt exakt so lange nach einem langweiligen Thema, bis sie in Frage gestellt wird. Innerhalb der EU vertreten viele Politiker die Meinung, der Markt werde es schon regeln: Wer als Internetanbieter nicht alle Daten gleichrangig behandle, werde früher oder später die Konsequenzen zu spüren bekommen. Statt klarer Vorschriften will man die Anbieter zwingen, ihre Leitungen genau zu veröffentlichen, und bei einer Änderung eine sofortige Kündigung durch die Nutzer erlauben. Die Theorie ist mindestens so schön wie die Vorstellung deregulierter Finanzmärkte, und was in der Praxis davon zu halten ist, erlebte Frankreich in den Tagen nach Neujahr.
Denn am 3. Januar verschwand die Internetwerbung weitgehend von den Bildschirmen der Kunden des zweitgrössten Anbieters Free. Free, das über eine Muttergesellschaft an der Börse und mehrheitlich im Besitz des Unternehmers Xavier Niel ist, bietet mit seiner Box den Zugang zu TV, Internet und Telefon aus einer Hand an, und hatte sich mit günstigen Tarifen einen guten Namen gemacht. Nun ist das Verschwinden von Werbung vermutlich nichts, was viele Nutzer todunglücklich machen würde. Aber Free blockierte die Werbung nicht nur, ohne die Nutzer vorher zu informieren. Die Firma hatte den Coup offensichtlich von langer Hand vorbereitet und nahm dabei besonders die Dienste von Google ins Visier. Neben dem Werbeprogramm Adsense waren auch Youtube und Google Analytics betroffen, sowie natürlich auch die Werbung, mit denen sich viele Internetangebote und Onlinemedien finanzieren.
Eine bemerkenswerte Ausnahme gab es allerdings: Der Internetauftritt der Zeitung Le Monde konnte auch weiterhin die 4 Millionen Kunden der Free-Breitbandbox mit Werbung beliefern. Einen Zufall kann man getrost ausschliessen: Niel ist einer der neuen Anteilseigner der in den letzten Jahren in Bedrängnis gekommenen Zeitung. Drei Tage lang war Le Monde ihren Werbekunden ein verlässlicher Partner, während die Konkurrenz Einbussen bei den Werbeerlösen hinnehmen musste. Nicht allein deshalb kam es zu massiven Protesten, die sich unter dem Hashtag #Adgate verbreiteten: Free hatte seinen Nutzern und Konkurrenten seine Macht nur anhand der Erlösmodelle im Internet gezeigt. Aber mit der Blockade im Server könnte Free, wie China, Syrien Nordkorea oder die in Deutschland zwischenzeitlich geplanten Netzsperren, auch andere Daten und Informationen nach Belieben unterdrücken. Oder, wenn sie nützen, vom geeigneten Ort durchkommen lassen.
Es gibt, wie gesagt, kein Gesetz zur Netzneutralität, und so konnte Xavier Niel ungeniert verkünden lassen, es sei keine Zensur, sondern eine Art gerechtfertigter Angriff vor allem auf den amerikanischen Konzern Google, der zwar mit dem Netz Unsummen durch Werbeeinnahmen erlöste, sich aber nicht an den Kosten der von Firmen wie Free aufgebauten Infrastruktur beteiligte. Nun haben antiamerikanische Töne in der Weltmacht Frankreich schon länger Konjunktur, und Angriffe auf die Geschäftsmodelle von Google erfreuen sich nicht nur im Deutschland des Leistungsschutzrechts einer grossen Beliebtheit. Allerdings taugt die Figur Xavier Niel wie andere Dotcom-Unternehmer nur bedingt für die Rolle des Weissen Ritters der Europäischen Werte im Abwehrkampf gegen die USA: Sein Geschäftserfolg hat einige eher halbseidene Aspekte, was aber Nikolas Sarkozy nicht davon abgehalten hat, ihn in den Internetbeirat der französischen Regierung zu berufen, wo sich Niel mit anderen wiederum massiv für eine Googlesteuer einsetzt.
Für seine Aktion ist er allerdings nicht von diesem Gremium entfernt worden. Die beigeordnete Ministerin für die Internetwirtschaft rügte das Vorgehen zwar nach dem Proteststurm, beklagte dann aber auch, dass eine Investition von 25 Milliarden Euro für den Ausbau der Netze zu bezahlen wäre, mit denen man die Internetdienstleister – wie eben den börsennotierten Billiganbieter Free – nicht alleine lassen lassen dürfte. Übersetzt: In der Sache hat Niel recht, nur die Methode war nicht in Ordnung. Trotzdem traf sich die Ministerin dann zu einem Meinungsaustausch mit einem Firmenvertreter von Free. Die Ministerin heisst übrigens Fleur Pellerin und gilt angesichts ihrer diversen Tätigkeiten als wirtschaftsnah, solange es um die Interessen französischer Firmen und Rechteinhaber geht. Beobachter bezweifeln, dass Niel angesichts dieser Intervention angstschlotternd überlegt, wie er in Zukunft solche Aktionen besser vermeidet.
Zumal sich Pellerin in den letzten Tagen auch klar für weitere Begrenzungen des Datenverkehrs im Internet – man könnte auch sagen „Zensur” – stark gemacht hat. Bei Twitter machten in letzter Zeit einige unerfreuliche Hashtags die Runde, woraufhin einige französische Organisationen klagten und vor Gericht gegen Twitter, wo diese Äusserungen verbreitet wurden, verloren. Nun fordert Pellerin Twitter auf, das französische Recht zu respektieren und entsprechende Massnahmen zu ergreifen. Im Guardian wird das nicht ganz zu Unrecht mit dem Bemühen gewisser Diktaturen verglichen, das Internet in ihrem Sinne zu gestalten. Anstatt die ursächlichen Probleme anzugehen und etwas gegen Fremdenfeindlichkeit, Schwulenhass und Antisemitismus zu tun, soll besser das Internet über die Anbieter der Dienste reglementiert werden. So zumindest die Meinung jener Politikerin, die in Frankreich auf diesen Teil des politischen Lebens und damit das gesamte Internet grossen Einfluss hat. Was vermutlich kein gutes Vorzeichen für die Bestrebungen bedeuten mag, Netzneutralität innerhalb der EU politisch verpflichtend durchzusetzen.
Womit sich ausgerechnet profitorientierte Firmen aus den USA mit der Aufgabe konfrontiert sehen könnten, allein schon aus Eigeninteresse die Freiheit im Internet zu verteidigen, weil in Frankreich ein Netzwerk aus Politik, Internetwirtschaft und Rechteverwertern versucht, die eigenen Interessen, Ziele und Gewinnabsichten durchzusetzen. Google ist gross, reich, amerikanisch und mag daher als ideales Opfer erscheinen. Und der geneigte Beobachter kann sich fragen, was beispielsweise ein Xavier Niel sagen würde, wenn ihn eine Fleur Pellerin dringend ersuchen würde, mit seinen Servern Inhalte zu blockieren, wenn es nicht nur um ein paar Werbedaten oder Videos, sondern um französische Gesetze. Der Tabubruch ist da, und ob die vier Millionen Kunden der Freebox, über die ihre gesamte digitale Kommunikation läuft, wirklich so einfach kündigen könnten, müsste sich im Zweifelsfall auch erst erweisen. Vorerst wird die Googlesteuer aber wieder im dafür eingerichteten Beirat hinter verschlossenen Türen von den Interessensvertretern besprochen und empfohlen.
Zurück bleibt die Frage, was in diesen Konflikten die Freiheit eigentlich noch wert ist: Ein paar Werbeeinnahmen und ein paar missliebige Tweets, wenn sich nur die Richtigen zusammentun und ihre Pläne gemeinsam durchdrücken. Niel hat gezeigt, wozu er mit dem Anbieter „Free” bereit ist. Am Ende kommt dabei vielleicht ein fauler Kompromiss heraus, wie bei den Verlegern in Belgien: Die wollten von Google Geld und kooperieren jetzt mit dem Konzern, wenn es um die Analyse der Nutzerdaten geht. Man könnte auch sagen; Da haben sich jetzt Politik, Medien und Google zusammengetan, und schlachten jetzt gemeinsam den Datenschatz der Nutzer. Es ist wie in der italienischen Renaissance, man bekämpft sich erst mit allen Mitteln, und dann rottet man sich zusammen, wenn man einen gefunden hat, den man gemeinsam zerstückeln und unter sich aufteilen kann. Und dazu gibt es Panegyriker wie Frau Pellerin, die gegenüber dem Volk so tut, als kämen die etwaigen Beiträge von Google für den Netzausbau französischer Privatkonzerne aus dem Nichts – und nicht am Ende doch wieder vom Verbraucher, vulgo dem Nutzer, der bitte nichts lesen soll, was Frau Pellerin nicht gefällt. Das ist Netzneutralität in der Praxis.
Und Weltmächte wie Frankreich und China wissen, wie sie auch im Internet ihrer Bedeutung gerecht werden.