Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Der Niedergang des Sittenverfalls ohne Dekadenz

Italien ist ein lustiges Land.

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Das hier ist blanke Pornographie im Palazzo Ducale von Mantua. Drüben, im Palazzo Te, geht es noch härter zur Sache: Unverhüllte Penetration, Fummeleien mit Tieren, wie man sie in Deutschland nur von Gedichten über türkische Staatschefs kennt, barbusige Frauen in verschwenderischer Fülle an Bischofsgräbern in der dominierenden Kirche, und minderjährige Nackedeis.

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Selbst nach unseren heutigen Vorstellungen von Sexualität und deren offener Verbreitung – der AfD-Abgeordnete in Sachsen-Anhalt Andreas Gehlmann benutzt zur Rechtfertigung eines minder klugen Zwischenrufs das herrliche Wort “Sittenverfall“ – ist Italien in kunsthistorischer Sicht ein sexuell enorm aufgeladenes und unkeusches Land. Das liegt einfach daran, dass der Umgang mit Sexualität vor dem 19. Jahrhundert in Europas besseren Kreisen vergleichsweise frei und natürlich war, und das hat seinen Weg in die Kunst gefunden. Deshalb bekommen italienische Schulklassen beim Besuch von Kirchen auch Inhalte zu sehen, die man dort nicht zwingend erwarten würde.

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Auf der anderen Seite sperrt Italien aus Gründen des Jugendschutzes den Zugang zu pornographischen Angeboten im Netz. In etwa so, wie die EU das nun laut einem durchgesickerten Entwurf des Wahrheitsministeriums mit Eingriffen in die freie Rede und mit Kontrollzwängen durch die Internetprovider überall durchsetzen will. Ausserdem wird über Identitätsfeststellung der Nutzer nachgedacht – was Leser in den Kommentaren sagen, könnte diskriminierend ein Gschleaf als ein solches benennen, und ich will lieber gar nicht wissen, was Facebook dann macht, wenn ich angekettete, dickbrüstige Seekühe mit einer Sadomaso-Vampirlady des 16. Jahrhunderts zeigen würde.

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Italienische Schulklassen können mit solchen Darstellungen, die in jener Zeit als sehr gewagt galten, übrigens prima umgehen: Gelangweilt stehen sie vor Rubens, wenig begreifen sie von Mantegnas abgeblättertem Schlachtgemälde, aber die Grotesken und das, was sie dort oben an der Decke so treiben, wie sie übereinander herfallen, sich begehren und – da lacht der Sultan! – Ziegen an die Eutern greifen – das gefällt den Kindern. Und nein, sie gehen nachher nicht in den Innenhof und probieren Gruppensex aus, oder Missbräuche aus einer Menge heraus, wie man das jüngst wieder aus Darmstadt von Trägern einer eher bilder- und lustfeindlichen Unkultur hören musste.

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Wie auch immer, es ist nicht zu bestreiten, dass der Fortschritt in der sexuellen Darstellung des 20. und besonders 21. Jahrhunderts mit dem Internet in der westlichen Hemisphäre in keinem Gegensatz zur sexuellen Selbstbestimmung der Menschen steht: Schwulenrechte, Frauenrechte, Rückgang der Diskriminierung von Sexarbeitenden, zunehmend lockerer Umgang mit früher undenkbaren sexuellen Präferenzen und Partnerschaftsmodellen – die gesamte Liberalisierung, sie geht einher mit der weitgehend problemlosen Verfügbarkeit von Material, dessen Besitz früher den gesellschaftlichen Ruin bedeutet hätte. Und auch in Italien gibt es zwar eine Netzsperre, aber kinderleichte Proxymethoden, um sie zu umgehen.

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Vor 20 Jahren war das Internet noch nicht so verbreitet, und die Angebote eher spärlich: Damals hatte ich, wenn wir über Sittenverfall reden wollen, das grosse Glück, im Bürgerradio die Redakteure einer schwulen Radiosendung zu kennen. Das hat mir, verglichen mit meinem gängigen Umfeld, enorme Wissensvorsprünge verschafft: Natürlich konnte man sich, wenn man wollte, auch Bücher kaufen und nachlesen, was die da so machen. Direkte Kommunikation ist viel einfacher, und Herr Gehlmann von der AfD könnte sich zur Wissensvertiefung jederzeit bei queer.de anmelden und fragen, wie denn das so läuft und ob Schwule denn wirklich den ganzen Tag an Sex denken wie andere an das Wegsperren von Kritikern, und das sind wirklich phantastische Möglichkeiten, die es früher einfach nicht gab. Die Trennung zwischen Lebenswelten ist mit einem Klick zu überwinden. Man kann sich im Netz einmal unverbindlich anschauen, was es alles so an Optionen gibt, und sich dann überlegen, was einem passt. Geheim, frei, ohne Angst.

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Das führt im Endeffekt dazu, dass noch nicht einmal in der AfD Anlass besteht, sich in der Führungsriege nach rechtsreaktionären Vorstellungen zu verhalten: Die partnerwechselnd entstandene Patchworkfamilie Petry wäre vor 25 Jahren noch in der CDU undenkbar gewesen. Und dem Sittenverfall-Gehlmann steht auf der anderen Seite mit Alice Weidel eine selbstbewusste Frau im Parteivorstand gegenüber, die mit einer anderen Frau ein Kind erzieht. Nach meiner bescheidenen Einschätzung sorgt der Sittenverfall der offen ausgelebten Neigungen dafür, dass man durch das Netz und jenseits des privaten Umfelds sieht, wie banal und ungefährlich da alles letztlich ist, sofern es im Rahmen der gesetzlichen Regelungen ist. Da, wo vor 20 Jahren noch Graubereiche waren, ist heute lichter gesellschaftlicher Konsens, dass man die Leute einfach so leben lassen sollte, wie sie wollen. Offenheit, Information und Kommunikation tragen zum Abbau von Vorurteilen ganz erheblich bei. Die christlich-alteuropäische Überzeugung, ein strafender Gott würde Verderben bringend einschreiten, lässt sich angesichts der Realität auch nicht erhärten.

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Das Internet ist also fraglos eine Bereicherung und Wohltat, wenn es darum geht,Menschen früher Unvorstellbares zu zeigen, so wie sie sich auch im Palazzo Ducale von Mantua durch immer neue, burleske Einfälle bezaubern lassen können. Internet ist da wie freizügige Kunst, es gibt wenig Regeln und viele Möglichkeiten. Ausser man macht viele Regeln und grenzt die Möglichkeiten ein. Herrn Gehlmann würde das vermutlich freuen, aber auf der anderen, ebenfalls verbotswilligen Seite des politischen Spektrums muss man gerade feststellen, dass die neue Sittenstrenge herzlich wenig hilft. Im Gegenteil, in einer Welt des Sittenverfalls ist die Paste für Alle längst aus der Tube, und wenn das nicht zu den Regeln passt, gibt es Skandale. Die neuen Regeln sind in dieser Hinsicht grün und feministisch, und gerade eben zappelt der frühere Landwirtschaftsminister von Baden-Württemberg in einem Skandal, weil seine Ex-Geliebte, damals ebenso grün wie er, bei Facebook intime Details ihrer Beziehung veröffentlichte.

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Denn ohne Internet geht es nicht. Mir deucht, es liegt daran, dass derartige neue Vorschriften des sexuellen Umgangs unter besonders aufmerksamen, diskriminierungsfreien und konsensorientierten Menschen nicht so ganz zur Triebhaftigkeit derselben passen, die beim Sex – Herr Gehlmann wird es mindestens so entsetzt hören wie Pinkstinks, die Helferinnen von Heiko Maas – masslos und inbrünstig, ja sogar wollüstig und besitzergreifend ausgelebt wird. Der Mensch ist kein zwingend monogames Tier, das erzählen die Sagen des Altertums und die Filme von Sasha Grey, das singt Leporello über Don Giovanni, und das berichtet auch der Inhalt eines Keyloggers eines taz-Redakteurs, der viel mit Praktikantinnen zu tun hatte.

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Und mutmasslich mit gewonnenen Passwörtern in ihren Internetaccounts herumschnüffelte. In der taz. Auf Tasten, die ansonsten wie das Henkerbeil auf Leute wie mich herabsausten, wenn wir uns mal wieder über Gendergruppierungen mit dem Wort “Schlangenbrut“ verlustierten. Auf diesen keuschesten, diskrimierungsfreiesten Rechner_Innen also kramte sich einer mutmasslich durch Social Media Profile von Praktikantinnen. Das ist eine bittere Realität hinter den ausschweifenden Legenden, die seit Tucholsky über den Eros der Schreibzunft verbreitet werden: Wenn die Igel in der Abendstunde still nach ihren Mäusen gehn, hing der taz-Mann vor dem Bildschirm, um andern in die Mail zu sehn.

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Seitdem die Alternativen so evangelisch-korrekt wurden, sind Sexskandale auch nicht mehr das, was sie mal waren. Es ist klar, dass es immer eine Internetkomponente haben muss, denn jeder – ausser vermutlich Herr Gehlmann – lebt sich da offen und selbstdarstellerisch aus. Aber dann wird auf Facebook Böses gertratscht. Es wird nicht mehr gebaggert, sondern in Accounts gelinst. Es werden Hashtags wie #whyisaidnothing veröffentlicht, in denen Betroffene auf 140 Zeichen schreiben, was ihnen alles so in meist linksliberalen Freundeskreisen an sexueller Gewalt widerfahren sein soll. Und als vorläufiger Höhepunkt wird eine anonyme Website gegen den Internetaktivisten Jakob Appelbaum produziert, auf der angebliche Exen von Avancen und Sexparties erzählen, die  nach feministischer Lesart “Rape” sein sollen. Zur Polizei geht der Seitenbauer trotzdem nicht, er macht es lieber über Rufmord und berechnete Empörung. Appelbaum sei total gemein, denn er ist smart und erfolgreich. Andere sollen sich melden, um auch anonym über ihn dort Geschichten zu schreiben, wo man schon mal Platzhalter hinterlassen hat.

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Das alles wird anonym gemacht, hindert aber manche nicht, die in Deutschland justiziablen Ausfälligkeiten einer Feministin mit mangelnder Impulskontrolle als weitere Verfestigung der Anklagen hinterher zu schieben. Im deutschen Sprachraum wird die Schmutzseite dann von bekannteren Vertretern des Feminismus wie Jürgen Geuter und Anne Roth bei Twitter verbreitet. Persönlichkeitsrechte? Vorsicht bei Gerüchten? Unschuldsvermutung? Roth, der Mitarbeiterin der Linkenfraktion im Bundestag, ist es offensichtlich nicht sonderlich wichtig.  Nicht belegte Behauptungen waren im christlichen Abendland ein beliebtes Mittel zur Ausgrenzung sexuell freizügiger Menschen, und die AfD-Sexualmoral bekommt von der anderen Seite ein Update für das 21. Jahrhundert:

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Appelbaum wird sogar vorgeworfen, dass er sich loyal zu Julian Assange verhalten hat – einem nicht verurteilten Mann. Insgesamt sind alle Vorwürfe gegen Appelbaum so schrecklich, dass man vor dem Einzug des Internets, Anfang der 90er Jahre, am Sonntag um 4 Uhr morgens das ganze Parkcafepublikum in München mit solchen Anschuldigungen hätte überziehen können. Das war unsere wüste Jugend, da küsste man noch ohne Erlaubnis, aber damals standen die Linken und Grünen noch für sexuelle Freiheit, und lagen nicht mit dem den Gehlmännern dieser Welt im verhaltensgeregelten Querfrontehebett. Inzwischen wissen sie, dass von Julian Assange bis Tim Hunt bei solchen Kampagnen immer etwas hängen bleibt, und nicht jeder ist in der Lage, sich wie Jörg Kachelmann, Peter Thiel, Hulk Hogan oder Milo Yiannopoulos gegen den Mob zu wehren.

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Man wird sich also möglicherweise an kleine, miese Skandale aus dem Vollkorn- und Hennamilieu gewohnen müssen, den ein oder anderen Nerd werden sie vorführen, mancher AfD-Anhänger wird die Idealfamilie nicht leben, und es wird sehr, sehr hässlich werden. Es geht so schnell mit den Unterstellungen, von der übersteigerten Vermutung zum nationalen Aufreger. Grandezza ist das nicht, nur schlechter Empörungsporno. Das Netz bietet alle Freiheiten, aber leider auch alle Freiheiten, sie zu missbrauchen und so lange Terror zu verbreiten, bis sich jeder bedroht fühlt. Es ist nicht schön, dass ein Herr Gehlmann über Gesetze entscheiden darf, und es ist nicht schön, dass eine Feministin wie Anne Roth jemanden gegenüber ihren 20.000 Followern an den anonym gefüllten Pranger stellt, der nur das Ziel hat, ihn menschlich zu vernichten. Die Verunsicherten werden sich andere Wege für ihre Triebe suchen, und durch das Netz schleichen wie ein Politiker zum Crystal-Meth-Dealer. Sittenverfall muss nicht sexuell sein, es kann auch sexfeindlich moralisch sein, und am Ende sitzen alle wieder in ihren Safe Spaces und fürchten sich vor den Trieben.

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