Alternde Rockstars mussten Hotelzimmer verwüsten, wenn sie mediale Aufmerksamkeit wollten. Das war kraftraubendes, ehrliches Handwerk. Alternde Kulturschaffende, deren Werke in der Publikumsgunst fallen, haben es heute leichter: Es reicht, einen Social Media Kanal mit Verweis auf erlittene Hatespeech zu schliessen, um Öffentlichkeit für das eigen Sein und Produkt zu bekommen. Ausserdem kann man dafür andere verantwortlich machen.
Zwei Frauen, deren öffentliche Einlassungen selbst alles andere als höflich und zurückhaltend sind, haben das in den letzten Tagen erfolgreich durchgeführt: Zuerst warf die Schauspielerin Leslie Jones die Brocken in einem Konflikt über den eher bescheiden laufenden Film “Ghost Busters“ hin – zu ihrer Show in Las Vegas war sie dann aber wieder da. Kurz darauf nahm die Guardian-Kolumnistin Jessica Valenti, bekannt durch die unverbrüchliche Unterstützung der Vergewaltigungserfinderin “Jackie“, eine Auszeit von Twitter, nachdem sie sich noch kurz zuvor als Bestseller-Autorin der New York Times gefeiert hatte. Ihre neue Autobiographie der lebenslangen sexuellen Objektifizierung steht auf Platz 8 der monatlichen Unterliste zum Thema Love & Romance – da passt das natürlich.
Andere Abgänge sind dagegen unfreiwillig. Der britische Journalist und konserative Exzentriker Milo Yiannopoulos galt Twitter als einer der Verantwortlichen des Beschimpfungen, mit denen Ghost Busters zu kämpfen hatte. Obwohl er selbst zwar gestichelt, aber im Gegensatz zu anderen nichts rechtlich Fragwürdiges gesagt hatte, wurde er unter Verweis auf die Twitterrichtlinien dauerhaft gesperrt. Offensichtlich wollte das Netzwerk, das finanziell und moralisch unter hohem Druck steht, ein Exempel statuieren. Dass Twitter nicht in der Lage ist, nach allgemein gültigen Kriterien vorzugehen, zeigt sich später auch beim Fall der amerikanischen Autorin Kassy Dillon, die von Twitter wegen heftiger Wortmeldungen suspendiert wurde:
Der Witz an der Sache: Dillon, die wie Yiannopoulos dem konservativen Bereich zuzuordnen ist, hat dabei nur wörtlich das geschrieben, was die Schauspielerin Leslie Jones anderen schon zugemutet hatte – ohne dass sie deshalb von Twitter Konsequenzen erfahren musste. Dadurch erhielt die Debatte um die Ausgewogenheit der sozialen Netzwerke, die schon seit dem Skandal um die redaktionellen Eingriffe bei Facebook tobt, neue Nahrung. Und ich selbst sehe mich leider veranlasst zu bekunden, dass es mit meinem Vertrauen zu Twitter auch nicht weit her ist. Denn vor kurzem schrieb ich über eine Kampagne von Journalisten von Zeit und Tagesspiegel, die offensichtlich der Amadeu Antonio Stiftung der Ex-Stasi-IM Anetta Kahane zuarbeiteten. In der folgenden Nacht erfand jemand den Hashtag #amadeuantoniofilme. Das ist harmlose, allgemein übliche Spötterei, bei der bekannte Filmtitel so umgedichtet werden, dass ihre Handlung auch auf den Gegenstand passt. “Für eine Handvoll Fördermittel“ etwa spielt nicht nur auf einen Italowestern von Sergio Leone an, sondern auch auf das Finanzgebaren der Stiftung, deren neuer Vertrag in Thüringen gerade Thema beim Rechnungshof und bei einer Ermittlung wird.
#amadeuantoniofilme wurde – was einiges über das öffentliche Ansehen der Stiftung aussagt – ein grosser Erfolg und schaffte es bis zum Morgen des nächsten Tages auf die Liste der öffentlich angezeigten Trending Topics. Und während man sich noch amüsierte, verschwand der Hashtag schnell wieder aus den Topics. Gleichzeitig änderte sich noch etwas anderes: Normalerweise gibt es bei beliebten Themen ein “Autocomplete“. Man gibt die ersten paar Buchstaben ein, und dann erscheint darunter das ganze Wort. Mit dem Hashtag verschwand auch das Autocomplete schlagartig.
Ich habe dann bei Twitter nachgefragt, warum das nicht mehr geht. Und bekam keine Antwort. Ich stellte die Frage bei Twitter öffentlich nochmal, und bekam wieder keine Antwort. Ich packte die Screenshots in eine weitere Mail und belästigte Twitter nochmal in meiner zuvorkommenden “Ich gehe Euch so lange auf die Nerven bis ich eine Antwort bekomme“-Art. Dann kam – schlagartig – das Autocomplete wieder.
Und Twitter schickte mir diese Antwort mit dem Inhalt, dass sie ausser einem allgemeinen Verweis auf ihre Richtlinien nichts zu sagen haben.
Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, dass sie eventuell zugeben würden, am Morgen den Hashtag gelöscht zu haben, der eine Stiftung der Lächerlichkeit preisgibt, die in ihrem vom Bundesjustizministerium verantworteten Kontrollgremium sitzt. Ich weiss nicht, ob das ein technischer Zufall oder eine Art stille Hilfe für Frau Kahane war, deren Stasiverstrickung ausgiebig belacht wurde. Ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass ich mit ein und demselben Rechner und IP am gleichen Ort und dem offenen Browser das Autocomplete erst wieder bekam, als ich denen auf die Füsse gestiegen bin. Es ist keine Zensur, sondern “nur“ die Begrenzung einer Eingabehilfe und, wenn es wie beim Fall Tim Hunt hart auf hart kommt, eines Brandbeschleunigers. Es mag nachvollziehbare Gründe geben, einen nicht genehmen Hashtag die Förderung zu entziehen. Aber bei derartigen Antworten bleibt ein schales “Der grosse Bruder“-Gefühl. Das passiert einfach so, und eine Erklärung gibt es nicht. Ich habe das seitdem mehrfach bei anderen populären Hashtags versucht, und nicht mehr erlebt. Aber beim verschwundenen Hashtag #DNCleaks zu den peinlichen Mails der US-Demokraten erlebten Nutzer und besonders Unterstützer von Bernie Sanders etwas ganz ähnliches. “Stealth-” oder “Shadowbanning” heisst das Phänomen in den USA.
Während Twitter in den USA auf die erheblich grössere Meinungsfreiheit bauen kann, steht es in Europa unter heftigem Druck – viel heftiger als Facebook, das mit enormen finanziellen Mitteln und als soziale Infrastruktur erheblich selbstbewusster auftreten kann, wenn Politiker Beschneidungen der Meinungsfreiheit über den Graubereich der Hatespeech verlangen. Wie das aussieht, zeigte letzte Woche die Social Media Abteilung des Bundesinnenministeriums im Rahmen der Kampagne nohatespeech, als es befragt wurde, was denn nun zulässige Meinungsäusserung sei:
Das sagt das Innenministerium der BRD, nicht der DDR, wohlgemerkt. Offensichtlich ist die Beschaffung des Staatstrojaners dort wichtiger als Grundkurse in Sachen Grundgesetz. Es passt aber bestens zu den leisen Bestrebungen auf Ebene der EU, wo soziale Netzwerke auch im Schnellverfahren auf schwammige Hatespeech-Richtlinien eingenordet werden: Als gäbe es keinen Brexit und keinen Ansehensverlust bei den Bürgern, wurden Vertreter der betroffenen Nutzer so ausgebremst, dass sie sich aus Protest zurückzogen. Was an Meinungsäusserung verbreitet werden kann und was nicht, bestimmen nicht mehr Recht und Gerichte, sondern informelle Absprachen zwischen in der Kritik stehenden Politikern, Gruppierungen, die für mehr politisch motivierte Netzzensur stehen, und Firmen, die mit der Androhung von rechtlichen Konsequenzen unter Druck gesetzt werden, die Kontrolle der Inhalte zu privatisieren. Eine Klage gegen eine Accountsperrung ist ohnehin schwer möglich, und wie auf die vierte Gewalt reagiert wird, sofern sie nicht Medienpartnerschaften mit einem Kontrollvereinen hat, habe ich selbst erlebt. Gleichzeitig ist es für Twitter aber scheinbar völlig In Ordnung, wenn Alexander Nabert, Journalist und ehemaliger Beisitzer im Bundesvorstand der Grünen Jugend, mit Amadeu-Antonio-Unterstützer Matthias Meisner vom Tagesspiegel unter Verweis auf ähnliche Attacken gegen Beatrix von Storch und Sarah Wagenknecht einen Tortenanschlag auf Philipp Lengsfeld MdB abspricht, und Meisner das auch noch retweetet:
Auch von Aktionen gegen die Accounts von Freunden der Rigaer Strasse 94, die Gewalt gegen den Staat offen befürworten, ist nichts bekannt. Es gibt keinerlei nachvollziehbare Kriterien, was an Äusserungen unter welcher beteiligten Organisation akzeptabel ist. EU, deutsche Ministerien und von ihnen begünstigte Organisationen erschaffen gezielt ein Klima der ausserdemokratischen Unsicherheit, das Denunziation Tür und Tor öffnet, ohne dass die Folgen für die Nutzer erkennbar wären.
Der altmodische Herr Erdogan, der in der Türkei noch mühsam eine Beleidigung nach der nächsten vor Gerichte bringt, über die er noch keine totale Kontrolle hat, ist im direkten Vergleich ein Stümper. Allerdings wird es sicher nicht lange dauern, bis sozialen Netzwerken auch in Ankara türkische Zwänge auferlegt werden: Unser Menschenrechtspartner Erdogan lernt schnell, und begründete auch den Ausnahmezustand schon mit seinen europäischen Vorbildern.