Niemand redet heute noch über den Bahnhof München, den Mittelpunkt dessen, was findige Journalisten 2015 als Sommermärchen bezeichneten. Er ist aus den Medien weitgehend verschwunden, und es ist vielleicht auch ganz gut so. Man wünscht sich im Rahmen des kommenden Wahlkampfs eine Sicherheitsdebatte, und da stört die Erinnerung an die Zeit, als jeder ungeprüft kommen und bleiben konnte – und an die Politiker, die damals die erwarteten Gewinne versprachen, wie sie nun Sicherheit versprechen. Der Hauptbahnhof ist etwas vergessen worden, es ist ja nur ein Ort, und was 2015 noch als bösartiger, dunkeldeutscher Defätismus des Packs galt, ist heute teils Realität in Köln, teils Inhalt führender Politikerreden von Freiburg bis zum Breitscheidplatz.
Für Münchner ist das anders. Der Bahnhof ist nicht mehr wirklich Szenerie des Heldenmuts einer Stadt, deren Bürger damals – ich war dabei – im Gegensatz zu den Legenden in ihrer grossen Mehrheit gar nicht an den Geschehnissen aktiv teilnahmen. Mehr als ein paar hundert Applaudierende, darunter sehr viele Freunde und Angehörige der Ankommenden, gab es auch nicht. Dieses München der offenen Herzen war eine zuerst überschaubare, nach drei Tagen aus den Fugen geratene Veranstaltung. Als es die Möglichkeit gab, wurde der Ansturm aus der Stadt weg hin zu den grenznahen Regionen verlegt, über die dann auch prompt keiner mehr berichtete. Trotzdem hat sich der Bahnhof im letzten Jahr massiv verändert, es gibt offen – wenngleich nicht überregional – angesprochene Sicherheitsprobleme und eine Verdreifachung der Überfälle. Kurzfristig gab es wohl auch den Versuch, eine Drogenszene wie in Frankfurt, Wien oder Berlin einzurichten, aber das wurde von der Polizei knallhart unterbunden.
Aber Probleme bleiben, und sie bleiben vor allem am Schwammerl. Das ist ein auf Stelzen ruhendes Vordach vor dem Bahnhof, unter dem früher Ankommende bei Regen trocken zu den Taxis gelangen sollten. Eine nette, architektonische Geste. Dieses Vordach ist inzwischen ein Kriminalitätsschwerpunkt und Sammelplatz für Menschen unterschiedlicher Herkunft in der Nacht, die den Hauptzugang zum Bahnhof eng und bedrohlich machen. Reisende werden angegangen und bepöbelt, und das ist nun nicht wirklich eine schöne Visitenkarte für die Stadt. Zum Glück ist der Bahnhof heute vergessen, und deshalb gibt es für den Schwammerl und seine Gäste eine nachhaltige Lösung Münchner Art:
Denn der Schwammerl wird abgerissen, und rund um den Bahnhof herrscht Alkoholverbot. Sprich, man nimmt den Menschen, die Alltagsirritationen verbreiten, ihren Schutz und ihre bevorzugte Droge. Die SPD ist da mit von der Partie, und das geht recht geräuschlos über die Bühne. Probleme werden deutlich angesprochen, Tätergruppen und ihre Herkunft werden klar benannt, Konsequenzen werden gezogen und eine Debatte darüber, dass das Problem nicht gelöst, sondern nur verlagert wird, kommt erst gar nicht auf: Es hat sich ein massives Problem entwickelt, das muss weg, auch wenn es den Bahnhof sein Schwammerl kostet. Das Interesse der Allgemeinheit an einem sicheren Bahnhof geht vor die Selbstverwirklichung einer als belastend empfundenen Personengruppe.
Es gibt zu diesem Thema beispielsweise einen sehr offenherzigen Beitrag in der Abendzeitung. Es ist ein wenig wie mit den Silvestergeschehnissen in Köln: Eine insgesamt weder übergrosse noch für alle Deutschen oder Migranten repräsentative Gruppe stellt an einem neuralgischen Punkt ein Problem dar, das sehr viele Menschen betrifft und verunsichert. Man kann die Lösung völlig übertrieben finden, oder als viel zu hart, oder das Alkoholverbot als unangemessen bezeichnen. Aber es gibt eine klar erkennbare, unerwünschte Entwicklung, und sie wird beendet. Und es ist auch nicht so, dass die Angehörigen der Gruppe keinen anderen Ort haben, an dem sie verweilen könnten.
München hat das Glück, dass das alles unter dem Radar der grossen Medien läuft, die das alles ganz anders aufziehen könnten: “Herzloses München! Nach dem Sommermärchen kommt die Winterkälte: die unsolidarische Bayernmetropole macht ihrem alten Ruf als Hauptstadt der Borniertheit und Xenophobie wieder alle Ehre, indem sie einen Schutzraum für Geflüchtete, sozial Bedrängte und Verlierer der gnadenlosen Gentrifizierung dem Erdboden gleich macht. Bislang fanden sie zumindest noch einen trockenen Platz unter dem menschenfreundlichen Baudenkmal des Schwammerls, jetzt sollen sie restlos aus den Augen der Glitzermetropole verdrängt werden. Verantwortlich ist ein Dezernent, der mit Zahlen hantiert, die auch auf der gestiegenen Bereitschaft zu Anzeigen beruhen können, und der ohne stichhaltige Beweise pauschal Geflüchtete aus Schwarzafrika und dem Balkan verantwortlich macht. Das Klima in der Stadt wird dadurch massiv vergiftet, aber die SPD lässt sich lieber von der CSU vorführen und gibt ihr Einverständnis für dieses Sakrileg an der sozialen Verpflichtung für die Notleidenden des gnadenlosen Kapitalismus.”
Na, so in der Art, man durfte es ja hinlänglich oft in der Zeit und anderen Medien lesen, schuld sind immer die Deutschen mit ihrem falschen Verständnis, und es finden sich immer ein paar hundert Leute im Netz, die solche Geschichten mit dem Hashtag #Kaltland versehen und unter Gleichgesinnten verbreiten. Dabei zeigt der Fall des Schwammerls etwas ganz anderes: Es ist in einer Stadtgesellschaft durchaus möglich, Probleme zu erfassen, sie mit treffenden Worten zu umschreiben, und so durchzusetzen, dass für die Mehrheit der Bürger eine Verbesserung der Situation spürbar wird. Es ist eine Geschichte, in der die Betroffenen unter den Passanten und Geschäftsleuten ihre Sorgen, Ängste und Bedenken frei artikulieren konnten, und die Politik hat eine Lösung gefunden, die man von links und rechts in Frage stellen kann – für Rechte könnte der Abriss des Schwammerls auch eine Kapitulation vor Elementen sein, denen man mit anderen Methoden offensichtlich nicht mehr Herr wird. Aber im Kern ist es eine spezifische Ansprache für ein spezifisches Problem, für das es eine spezifische Lösung gibt. Und Hunderttausende bekommen beim Betreten des Bahnhofs wegen einer kleinen, pöbelnden Gruppe nicht den Eindruck, beim Scheitern der Integration mittendrin statt nur dabei zu sein.
Ich habe in meinem letzten Text das Wort Invasion benutzt, und das Wort Nafri – dafür gab es heute im Internet geteilte und teilweise sehr harsche Reaktionen. Verkehrsminister Dobrindt – von dem ich auch nicht allzu viel halte – wurde allein wegen der Verwendung des Wortes Nafri heftig attackiert. Man merkt als Journalist und Politiker deutlich, dass eine gewisse Klientel in den Berufen sofort bereit ist, einem alles Schlimme nachzusagen, besonders natürlich “Rassismus” und “Rechtsradikalismus”, wenn man deutliche Beschreibungen verwendet, die das Geschehen nicht verwischen. Es gibt Versuche, aus dem massenhaften Auftauchen einer bestimmten Personengruppe, die tatsächlich vor Ort war und deutlich überprüft wurde, eine Art eher zufälliges Aufeinandertreffen zu machen. Man möchte nicht mehr den Begriff Nafri verwendet sehen, und unterstellt ein Racial Profiling, das einfach alle aussiebte, die nicht Deutsch aussahen. Schliesslich wurden auch türkischstämmige Menschen mit deutschem Pass und Migranten eingekesselt, die nicht aus Nordafrika stammen. So wird der Eindruck geschaffen, es gäbe da gar keine Invasion der Nafris.
Nur, die Frage ist dann: Wie nennt man eine vierstellige Zahl von hochmobil angereisten Menschen mit recht frischem Migrationshintergrund mit einem einheitlichen Ziel, das sie trotz der Verbrechen des Vorjahres und Polizeiaufmarsch ansteuern, und der speziell deutsche Frauen mit so viel Unbehagen begegnen und fernbleiben, auf dass die Gegend einem Bürgerkriegsszenario ähnelt, bei dem der meist nichtmigrantische Polizei-Mann gegen den jungen, migrantischen Mann steht. Wie nennt man das, und zwar so, dass die Bevölkerung, die offensichtlich nur so mittelentspannt auf die Ereignisse reagiert, die Begriffe einerseits akzeptiert. Und andererseits nicht pauschal von den Anwesenden auf alle Migranten schliesst. Und da haben Worte wie Nafri und Invasion für die begrenzte Situation wieder ihre Vorteile, weil sie sich in ihrer Schärfe von der vierköpfigen Familie aus Syrien oder dem seit 40 Jahre ansässigen Tunesier leicht und eindeutig absetzen lassen. Versucht man aber, allein schon die Begriffe zu verbieten, und das in Form eines SPD-Mann, der im Netz wegen seiner Ausfälle Pöbel-Ralle genannt wird, einer Vertreterin einer Partei, deren Vorgängerin die letzte Diktatur und die Stasi zu verantworten hatte, und als beim Drogenerwerb gestrauchelter Moralist der Grünen: Dann sollte sich niemand wundern, wenn die Sprachregelung dieser Politiker mangels ethischer Strahlkraft von weiten Kreisen nicht ernst genommen wird.
Es gab Versuche, eine neue Terminologie zu erfinden – das Wort “Geflüchtete” anstelle von Flüchtling, oder der “Newcomer”, “Angekommene” oder “Menschen, die noch nicht so lange hier leben” – alles Ideen, um wegzukommen von einer befürchteten, negativen Konnotation. Ich kenne solche Worte im praktischen Sprachgebrauch überhaupt nicht, und im Internet meistens mit sarkastisch-ironischer Note. Das liegt daran, dass sich Menschen nur ungern beschönigende Worte für etwas aufzwingen lassen, das sie als weniger schön erleben. Wenn es dann wirklich, erkennbar, offensichtlich sehr unschön ist, und es dafür eine angemessen unschöne Wortwahl gibt, kann man sich damit wenigstens angemessen über die sehr unschöne Situation unterhalten, auch wenn es nicht angenehm ist.
Die Alternative sind die Kipping-Pöbelralle-Beck’schen Sprachverbotsversuche, die bei Rot Rot Grün reflexhaft kommen, weil sie die moralische Deutungshoheit erlangen möchten: Sag, was wir wollen, oder wir nennen Dich einen Rassisten. Harmlosere Worte sollen den Einstieg in eine harmlosere Debatte ermöglichen, aber das ändert nichts daran, dass am Bahnhof in Köln über Tausend und in München jeden Tag über hundert unerquickliche Zeitgenossen sind, die nur die wenigsten als Bereicherung oder auch nur dauerhaft erträglich empfinden. Eine nüchterne, gelassene und Probleme ansprechende Politik, die nicht ideologisch, sondern realistisch ist, kann einen Konsens herstellen. Aber wenn die erste Reaktion auf solche Ereignisse ist, anderen über den Mund zu fahren, damit das Thema in den gewünschten Bahnen bleibt und Meinungsfreiheit nur dann gilt, wenn sie gefällt, ist die Kommunikation eine einseitige Sache.
In jeder Krise kommt der Punkt, an dem man sich überlegen sollte, welche Positionen geräumt werden müssen, um andere halten zu können. Die Migrationskrise begann mit völlig überzogenen Erwartungen, die immer weiter zurückgenommen werden mussten, unter Hinterlassung verbrannter Wortruinen wie Rentenzahler, überdurchschnittlich gebildet, Facharbeiter, Ärzte, niemals Terroristen und Wir schaffen das. In Köln könnte man sagen: Ja, es gibt ein begrenztes Problem mit einer Invasion von Nafris, da müssen wir ran, aber Hunderttausende von Flüchtlingen sind brav daheim und denken gar nicht daran, sich anzuschließen und Randale zu machen. Statt dessen verbittet man sich Begriffe, und muss im Gegenzug damit leben, dass für viele Köln zum Problem “der Flüchtlinge” und “der Politik” wird, die keine andere Lösung als Polizei für die einen und Sprechverbote für die anderen kennt.
Und ansonsten warnt, mit der AfD drohe ein autoritärer Staat.
Hey, ich überbringe nur die schlechte Nachricht, ich mache sie nicht. Schlagen Sie bitte jemand anderen mit ihren Keulen.