Es gibt da einen bemerkenswerten Beitrag im Guardian. Der Guardian ist vom Weinstein-Skandal selbst betroffen, zwei frühere Mitarbeiter der linken, britischen Tageszeitung gehören zu denen, die bislang wegen Anschuldigungen des sexuellen Fehlverhaltens ihre Arbeit verloren. Der Guardian weiss also, dass er auf der einen Seite zwar Feministinnen wie Jessica Valenti schreiben lässt, aber auf der anderen Seite Leute beschäftigt hat, deren Verhalten im krassen Gegensatz zur Blattlinie und den von ihnen verfassten Artikeln stand. Es erinnert ein wenig an Harvey Weinstein, der selbst ein liberales, feministische Anliegen unterstützendes Aushängeschild Hollywoods darbot, aber sein eigenes Verhalten war den Anwürfen zufolge ganz anders. Der Guardian jedenfalls beschäftigt sich mit der sogenannten “Shitty Media Men”-Liste, auf der 70 Namen von problematischen Vertretern der Branche vor allem aus New York zusammen mit ihren Verfehlungen aufgeführt werden.
Wer gedacht hätte, dass der nach weiteren Informationen gierende Guardian als Aufklärer die Namen veröffentlicht, sieht sich allerdings getäuscht. Es gibt zwar inzwischen mit dem Publizisten Leon Wieseltier einen Fall, der auch auf der Liste stand, seinen Job verlor und sich veranlasst sah, sich für sein Verhalten zu entschuldigen – insofern ist es zumindest plausibel, dass die Liste kein Hoax rechtsextremer Kreise ist, die linke Journalisten beschädigen wollen. Die Guardian-Autorin Helen Gould beschreibt die Liste als eine Zusammenstellung der Notwehr, um Betroffene vorab still über Problemfälle zu informieren. Sie fordert dann eine kulturelle Änderung der Gesamtsituation, damit Fälle wie jene 70 nicht mehr vorkommen. Es geht also nicht primär darum, 70 vermutete Skandalpersonen in den Medien für ihre Taten haftbar zu machen, sondern um alles und jeden. Um die gesellschaftliche Realität, die geändert werden soll, um die Machtverhältnisse, um den Siegeszug des Feminismus.
Darüber kann man nur lächeln, wenn man selbst in linken Projekten mit feministischen Ansprüchen tätig war und Fälle kennt, sei nun in fortschrittlichen Medien oder in sozialen Kontexten, in denen mittelalte Frauen mit Minderjährigen für die Männerseite reichlich frühe sexuelle Erfahrungen teilten. Die Geschichten sind in diesem Kontext wie immer, es gibt eine von den 68ern herrührende, eher distanzlose Feierkultur, die Einnahme von Drogen ist nicht wirklich atypisch, und rückblickend würden die beteiligten Frauen heute vermutlich auch das sagen, was Harvey Weinstein zu seiner Verteidigung angebracht hat: Dass sie eben aus einer anderen Zeit stammen. Diese Verteidigungslinie gab es auch beim Skandal um den sexuellen Missbrauch von Kindern im Umfeld der damals noch jungen grünen Partei, oder bei anderen Vertretern der Öffentlichkeit, die sich in Folge der sexuellen Revolution provokant gaben, und derartige Aussagen heute nicht mehr treffen würden. Ich will das hier nicht bewerten – kaum zu bestreiten ist jedenfalls, dass die westlichen Gesellschaften bis in die 60er bis 80er Jahre von rigiden Sexualnormen dominiert waren, und bei deren Durchbrechung tatsächlich bisweilen wenig zimperlich argumentiert, mit fragwürdigen Gruppen koaliert und gehandelt wurde. Ich habe mal ein Interview mit einem Starphotographen gemacht – heute ein alter Mann, verheiratet, Kinder – und der meinte, man könnte das nicht vergleichen, damals seien die Drogen viel weicher gewesen, und der Sex wurde als gewünscht vorausgesetzt – das wusste jeder, deshalb wurde man Teil der Bewegung, und wer das nicht wollte, war einfach nicht in diesen Kreisen unterwegs, nach deren Details nun lüstern im Guardian gefragt wird.
Der Photograph, der früher wüste Backstage-Orgien abgelichtet hat, macht heute Portraits bekannter Künstler und Politiker, und ist, wie so viele aus dieser Generation, im Mainstream angekommen. Andere haben sich totgefixt oder umgebracht, vielen Heroen war kein langes Leben beschieden, 2016 hat uns das noch einmal deutlich vor Augen geführt. Die Gesellschaft jedoch hat sich mit dem Erbe der sexuellen Revolution in Form einer allgemeinen Sexualisierung arrangiert – was man am Aufschrei merkt, wenn plötzlich eine junge Muslima meint, im schwarzen Burkini ihre Runden zwischen der Rentnerinnenschwimmgruppe in bunten, freizügigen Badeanzügen drehen zu können. Pornographie ist leicht verfügbar, und statt Perversionen der Vergangenheit gibt es heute einfach Kategorien von Wunschdarstellungen. Bei Elitepartner findet man das erwartete Vermögen des Anderen, bei den diversen Seiten für düstere Leidenschaften kann man sich die nächste Traumorgie zusammenklicken. Wer in den Medien heute homosexuelle Praktiken verurteilen würde, bekäme schnell den Ärger der Lobby zu spüren. Wir leben in einer Gesellschaft, die Wagenladungen von Halbnackten inzwischen auch von konservativen Parteien auffahren lässt, und die gleichzeitig selbstgerecht und mit Medienunterstützung Gruppen blockiert, die für ein traditionelles Familienbild stehen.
Um das klar zu sagen: Ich war mit schwulen Freunden auf dem Hans-Sachs-Strassenfest, als das noch kein Mainstream war, und empfinde Abtreibungen als Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschritts, der mit Zähnen und Klauen verteidigt werden muss – ich weiss nämlich noch, was für ein Drama das im Bayern der 90er Jahre war. Sex hat diese Gesellschaft zum Guten verändert und ihre Fundamente komplett neu organisiert, und vor allem wurde Sex demokratisiert: Der Markt, vor allem im Internet, macht möglich, was früher in kleinen Kreisen machbar war. Ich könnte rückblickend auch #metoo twittern, einfach, weil eine bekannte amerikanische Schriftstellerin das Morizz in München schätzte, und ich eine Stunde dort auf sie wartete: Das, was heute als “unwanted advances” Karrieren beenden kann, war in diesem Raum gegenüber allein herumsitzenden Männern völlig normal. Allein die Anwesenheit galt als Zeichen der Verfügbarkeit. Ich habe das aber nicht als Belästigung empfunden. Und wenn ich auf der Strasse gewartet hätte, wäre es schlagartig vorbei gewesen.
Feministinnen im Guardian und in anderen Medien wollen nicht an die Shitty Media Men in ihrem eigenen Morizz heran, sondern lieber das gesamte System vor der Tür ändern. Sie gehen von einer Rape Culture aus, aber ich, als Wanderer zwischen den Welten, sehe darin die Liste der vor allem betroffenen Medien: Darunter sind auch Vice, Mother Jones und Buzzfeed, die sich den Feminismus auf die Stirn gemalt haben. Kunst, Kultur, Theater, Medien, Film, diese Szenen sind durchsetzt mit den Bunten, den Kreativen, den Säufern, den Anderen, den Freaks und generell denen, die im engen Korsett einer reaktionären Gesellschaft keine Chance hätten. Die gesellschaftliche Veränderung zur Dienstleistungsgesellschaft bringt es aber mit sich, dass in diesem Bereich nicht mehr jeder ein Caravaggio, eine Lee Miller, ein Hendrix, eine Sackville-West, ein Cohn-Bendit oder eine Kiki de Montparnasse ist. Die Folge ist, dass nun die Trennschärfe verloren geht: Metoo ist aus Sicht der Betroffenen oder sich betroffen Fühlenden undifferenziert alles von den widerwärtigsten Erscheinungen der Pädophilie bis Verhaltensweisen der Annäherungen oder Komplimente, die nur Lieschen Müller-Chebli aus dem HU Genderseminar wirklich schockieren. Aber nicht diejenigen, die zur eigenen Freude und Erholung die Clubvorhöfe der Kreativbranche besucht haben. Für die Nachgeborenen reicht es, wenn sie einmal eine alte Ausgabe der Tempo um 1990 herum lesen. Da findet man freizügige Texte, die heute von keinem Medium mehr abgenommen würden, das auf der anderen kein Problem hat, Antifagewalt zu fördern.
Das weiss jeder, der damals dabei war. Es gab zwei Sphären, die einen tanzten am Montag morgen im Springbrunnen vor dem Parkcafe und die anderen fuhren von der Familie aus daran vorbei zur Arbeit. Wir sangen in Zegna und Moschino höhnisch “Holzfällerhemd und Samenstau, er studiert Maschinenbau”. Extrempositionen, Abgrenzung vom Normalen, Hedonismus und hemmungsloses Überschreiten von Grenzen gehörten zum Prinzip der Selbstdefinition. Wir hatten damals in den späten 80er Jahren das Glück, dass wir die Hippies schon abstoßend finden konnten, und uns nicht sexuell, sondern luxuriös revolutionär geben durften. Aber das, was wir damals alle, gleich welches Geschlecht oder welche sexuelle Orientierung, als Befreiung vom restriktiven Druck der Kleinstädte empfanden, wäre nach den strengeren Massstäben der #Metoo-Bewegung höchst fragwürdig. Es trifft nicht die Maschinenbauer, die wir ausgelacht haben, und die mit zwei Kindern und Frau glücklich wurden. Es trifft nicht Alt Right, wo man in einer männerbündischen Szene die Vergangenheit beschwört. Es betrifft vor allem den Bereich der Lebens- und Arbeitswelt, der die Anderen, die Schrägen, die nicht Passenden magnetisch anzieht.
Die Shitty Media Men gehören vermutlich in diese Kategorie, und man darf davon ausgehen, dass es wirklich eine Vielzahl von Problemfällen gibt. Für manche macht diese Halbwelt auch den Reiz aus – ich möchte in diesem Kontext an den taz-Journalisten mit der Keylogger-Software erinnern, der sich um die jungen Mädchen bemühte. Der Guardian und andere Medien sitzen auf einer brisanten Liste, und es wäre wirklich spannend, sie durchzugehen und zu schauen, was diese Leute angetrieben hat, und wie sie an ihre Machtpositionen gelangten. Es ist anzunehmen, dass Leute die wirtschaftliche und publizistische Macht, die sie hatten – und dank des Schweigens über die Liste immer noch haben – hemmungslos benutzten. Meine Bekanntschaft mit Maschinenbauern sagt mir gefühlsmäßig: Die Branchen, bei denen Kreativität, Enthemmung und Egomanie zwingende Teile des beruflichen Erfolgs sind, sind dafür anfällig. Speziell, wenn die Abhängigkeitsverhältnisse so ausgeprägt wie im Bereich von Kunst und Kreativität sind, und das Leben derartig prekär ist. Das Erpressungspotenzial muss übrigens noch nicht mal sexuell sein: Man hört böse Geschichten über von Journalistinnen betreute Jugendportale, bei denen andere Journalistinnen zu möglichst krassen Texten gedrängt werden, die sie mit Sicherheit später bedauern werden. Auf einen wie mich, der die Aufmerksamkeitsmaschinerie des Netzes reiten kann, kommen viele Abgenutzte der Klickzuhälterei mit Burnout und sozialer Traumatisierung.
Und linkskreative Kreise leiden hier unter dem Umstand, dass momentan der 3.-Welle-Feminismus mit seinen Rape-Culture-Verschwörungstheorien zugeführt wird, der unbedingt seine Weltsicht durchsetzen will. Da liegt es natürlich nahe, den Inquisitorinnen, die im Morizz keine 10 Minuten ohne Herzinfarkt überstanden hätten, den Weg zur allgemeinen Gesellschaft zu weisen, zu den Spiessern, zu den Normalos, und zu den weissen, heterosexuellen Männern, die bitte auch twittern sollen, wie schlimm sie das finden. Spätestens seitdem es aber auch um Schwule und Pädophilie auf der Besetzungscouch geht, seitdem eine Liste, die vermutlich inzwischen jeder hat, unterdrückt werden muss, und dort eine Vorsicht im Umgang angeraten wird, die dem alten, weissen, heterosexuellen Mann als Hauptschuldigem nicht gegönnt wird – seitdem würde ich fast annehmen, dass hier ein spezielles Problem einer speziellen Schicht zur Kollektivschuld verallgemeinert werden soll.
Sie haben die hochbrisante Liste. Sie kennen die Namen. Sie würden aber lieber über alle anderen reden. Auch das erinnert mich an Harvey Weinstein, der beim Women’s March mitgegangen ist, um es allen draußen zu zeigen – aber das Problem in sich selbst trug. Ich kann vollkommen verstehen, dass niemand in der kreativen Szene jetzt selbst mit dem Strafkatalog der Genderreligionspolizei von Stokowski, Butler und Aufschreierinnen beurteilt werden möchte, die man so lange gehätschelt hat und die lustig waren, solange ihre extreme Empfindlichkeit mit ihren Gendersternchen nur andere traf. Die Anklägerinnen werden selbst vermutlich nicht beurteilen wollen, was die 50-Jährige damals in der linken Szene mit dem Joint und dem Nachwuchsdemonstranten gemacht hat, ganz zu schweigen von dem, was die famose Melisa Erkurt über Flüchtlinge und Frauen recherchiert hat. Mein Vorschlag wäre wirklich, Vergehen als das zu sehen, was sie sind: Etwas, das einem Schuldigen unter Berücksichtigung der Umstände nach klaren Kriterien nachgewiesen werden sollte.
Alles andere sorgt nur für einen Generalverdacht, in dem die Täter dann wieder untertauchen können, weil angeblich “alle” so sind. Wir sind nicht alle, und wir sind in einem Bereich, in dem alle individuell sein wollen. So leben wir. So sollten wir auch beurteilt werden.