Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Die Inflation springt aus der Kiste: Die Fiskaltheorie des Preisniveaus. (Vor Risiken und Nebenwirkungen wird ausdrücklich gewarnt.)

Wer vor plötzlicher Inflation Angst hat, findet einen wissenschaftlichen Rückhalt: Die Fiskaltheorie des Preisniveaus hat wenige Anhänger in der Wissenschaft, aber es gibt Notenbanken, die auf sie schauen. Das ist Grund genug, sie vorzustellen. Von Gerald Braunberger

Wer vor plötzlicher Inflation Angst hat, findet einen wissenschaftlichen Rückhalt: die Fiskaltheorie des Preisniveaus. Sie hat wenige Anhänger in der Wissenschaft, aber es gibt Notenbanken, die auf sie schauen. Das ist Grund genug, sie vorzustellen.

Von Gerald Braunberger

Zum Einstieg einige Stimmen zur Fiskaltheorie des Preisniveaus:

“The fiscal theory is often regarded as some wacko sideshow… Ideologically pure, but no chance of being adopted.” (John Cochrane)

“This particular perspective is new but still somewhat unorthodox, and there is a bit of a scientific battle on this.” (Harald Uhlig)

“Despite the fact that there is no alternative I know of at the moment that confronts the actual institutions we face in monetary and fiscal policy, it’s still controversial.” (Chris Sims)

 

Dies ist ein Versuch, die Fiskaltheorie (FTP) in ein paar Thesen zu erklären. Für Verbesserungsvorschläge und eventuell notwendige Korrekturen wäre ich dankbar.

1. Geld ist eine Staatsschuld. In einem Land mit staatlichem Geld gehören der Staat und die Zentralbank ökonomisch zusammen, auch wenn die Zentralbank in Unabhängigkeit vom Staat agiert. Basisgeld, das heißt: Guthaben bei der Zentralbank, sind nach dieser Wahrnehmung “eine sehr kurzfristige Staatsschuld” (John Cochrane). In der traditionellen monetären Theorie ist Geld Zahlungsmittel.

2. Geld- und Finanzpolitik beeinflussen das Preisniveau. Der Geldwert wird nicht alleine durch das Verhalten der Geldpolitik bestimmt, sondern auch durch das Verhalten der Finanzpolitik. Da ist ein fundamentaler Unterschied zu allen geläufigen Theorien, in denen die Zentralbank durch die Steuerung der Geldmenge (Monetarismus) oder des kurzfristigen Zinses (Taylor-Regel) den Geldwert alleine stabilisieren kann. Die Zentralbank alleine kann den Geldwert nicht garantieren, solange im Falle einer Überschuldung des Landes die Option eines Staatsbankrotts nicht existiert, sondern nur die Option einer Entschuldung durch Inflation.

3. Es kommt auf die künftigen Steuereinnahmen an. Staatsschuldtitel besitzen einen Wert, weil sie einen Anspruch auf künftige Staatseinnahmen verbürgen, die in der Regel durch Besteuerung erhoben werden: “Why do you buy government debt? Well, because you think you’re going to get paid back. The government is borrowing in order to spend now, and promising to raise the taxes to pay you back later. So government debt is an asset that’s valuable because it’s a claim on future taxes. If the government doesn’t or can’t raise future taxes relative to spending in order to pay off the debt – like, for example, the government of Greece – then the government debt becomes worthless, just as stocks must become worthless if the company makes lower profits. If the government doesn’t default on its debt, then inflation must break out until all the debt – including money – declines in value.” (John Cochrane)

4. Wie interagieren Geld- und Finanzpolitik? Die FTP unterscheidet zwei Regime: Im ersten Regime betreibt der Staat eine solide Finanzpolitik, die keine Zweifel an seiner Fähigkeit aufkommen lässt. In einer solchen Situation kann die Zentralbank wie in traditionellen Theorien den Geldwert alleine bestimmen. Viel interessanter ist das zweite Regime, in dem ein Staat eine Fiskalpolitik betreibt, die Zweifel an der Rückzahlungsfähigkeit seiner Schulden aufkommen lässt. Hier kann die Zentralbank mit der Stabilisierung des Preisniveaus in Schwierigkeiten geraten; es entsteht ein, wie es die Literatur nennt, “game of chicken” (Sargent/Wallace) zwischen Geld- und Finanzpolitik.

5. Die Grundgleichung der FTP. Wir betreiben in FAZIT normalerweise keine Mathematik, aber die Grundgedanken und die sich ableitenden Folgerungen lassen sich am einfachsten anhand einer für diese Theorie zentralen Gleichung beschreiben:

B/P = T

mit
B= nominale Staatsschuld
P = Preisniveau
B/P = reale Staatsschuld
T = diskontierte künftige Primärüberschüsse des Staates

Die wesentliche Aussage lautet somit: Die aktuelle reale Staatsschuld entspricht den künftigen diskontierten Primärüberschüssen (das sind Haushaltsüberschüsse ohne Zinsausgaben), aus denen die aktuellen Staatsschuld verzinst und getilgt werden muss. Anders ausgedrückt ist es die künftige Steuerkraft eines Staates, die über die Werthaltigkeit der heutigen Staatsschuld entscheidet.

6. Drei Szenarien bei drohender Überschuldung. Früher gab es keine Zweifel an der Tragbarkeit der Staatsverschuldung in den westlichen Ländern. Das ist heute angesichts hoher Bestände an Staatsschulden, einer ungünstigen Demografie und schwacher wirtschaftlicher Wachstumschancen in nicht wenigen westlichen Ländern anders; Italien und Spanien sind aktuelle Beispiele. Schauen wir anhand der Gleichung
B/P = T,
was geschehen kann, wenn sich die Erwartung verbreitet, T könne in Zukunft nicht groß genug sein zur Finanzierung der aktuellen realen Staatsschuld B/P, weil die Regierung nicht genügend künftige Steuereinnahmen generieren kann oder will:

a) Man versucht, T zu steigern, was eine langfristig angelegte Politik zur Steigerung des Potentials des Wirtschaftswachstums erfordert. Dies ist ein Plädoyer für Angebotspolitik, die wirtschaftliche und politische Strukturen und Institutionen verbessert; außerdem verlangt sie staatliche Ausgabendisziplin. Das ist die Strategie der Troika in den Programmländern Irland, Portugal und Griechenland, wobei in Griechenland die Umsetzung der Reformen lahmt. Die Erwartung auf positive Wirkungen von Angebotspolitik sind ein wesentlicher Grund, warum die Anleiherenditen in Irland und Portugal gesunken sind. Italien und Spanien haben solche Reformen in Angriff genommen, sind aber nach Ansicht vieler Beobachter bislang auf halbem Wege stehengeblieben.

b) Wenn sich T nicht ausreichend steigern lässt, bleiben nur zwei Optionen. Eine ist, dass B sinken muss. Das ist die Option der staatlichen Insolvenz mit anschließender Umschuldung. Diesen Weg ist man in Griechenland gegangen, allerdings war der erste Schuldenschnitt offenbar nicht ausreichend.

c) Wenn sich T nicht (ausreichend) steigern lässt und eine staatliche Insolvenz (Reduzierung von B) politisch nicht erreichen lässt, gibt es nur noch einen Weg, wie die beiden Seiten der Gleichung zusammen kommen können: P muss steigen – und das heißt im Klartext: Inflation. Aktuell gibt es eine Debatte darüber, ob dies der Weg jener Staaten ist, in denen Zentralbanken Staatsanleihen ankaufen. Für die Privaten ist dies ein Tausch staatlicher Titel, indem sie Anleihen gegen Geld tauschen, das nach Ansicht der FTP ebenfalls ein staatlicher Schuldtitel ist. Mit der Schöpfung von Geld entsteht daneben ein Gewinn bei der Zentralbank (“seigniorage“), den dieser an den Staat ausschüttet.

7. Eine Anwendung auf den Euroraum. Schaut man sich diese Optionen an, erkennt man sehr gut die aktuellen Debatten in Europa:
– Es gibt nördlich der Alpen die Furcht, dass die Länder im Süden die notwendigen Strukturreformen nicht in ausreichendem Maße durchführen. Dann droht T angesichts der hohen und wachsenden Staatsschuld zu klein zu werden.
– Dann gibt es nach der FTP nur noch die Alternative: Schuldenschnitt oder Inflation. Wenn Schuldenschnitte aus politischen Gründen unmöglich sind, bleibt nur noch Inflation übrig. Das ist eine Befürchtung, die unter anderem in der Deutschen Bundesbank kursiert. Die Verlockung der Inflation ist umso größer, je höher die Schuldenlast ist, da Inflation auch die Staatsschulden entwertet. Hier ist es also eine schlechte Fiskalpolitik, die zur Überschuldung zu führen droht, die sich gegenüber der normalerweise auf Preisniveaustabilität ausgerichteten Zentralbank durchsetzt. Und es sind die in der Zukunft erwarteten unzureichenden Primärüberschüsse, die heute Inflationsgefahren erzeugen. Cochranes Schlussfolgerung ist naheliegend: “Monetary policy needs fiscal foundations.”
– Der Euroraum ist komplizierter zu analysieren als ein Nationalstaat, weil der EZB kein Europäisches Finanzministerium gegenübersteht, sondern die Finanzminister der Mitgliedsstaaten mit ihren Eigeninteressen. Die daraus folgenden Probleme hat der Nobelpreistäger Chris Sims bereits in einem Beitrag im Jahre 1999 geahnt. Auf Sims’ Homepage findet sich ein aktueller Beitrag mit dem Titel “Gaps in the Institutional Structure of the Euro Area”.

8. Die Gefahr der Überraschungsinflation. Dramatisierungen sind mit Hilfe der FTP leicht möglich: “The fiscal theory warns that future deficits can cause inflation today, without warning.” (Cochrane). Dies hängt vor allem damit zusammen, dass eine extrem wichtige Größe in der obigen Gleichung, die diskontierten künftigen Primärüberschüsse (T), weder beobachtet noch genau berechnet werden können, da es sich um zukünftige Ereignisse handelt. Man kann T vielleicht für die kommenden ein oder zwei Jahre einigermaßen vernünftig schätzen, aber kaum darüber hinaus. Die Einschätzung der Schuldentragfähigkeit eines Landes hängt somit von den Erwartungen der Teilnehmer am Markt für Staatsanleihen ab, und deren Erwartungen können sich, abhängig vom Vertrauen in die Politik eine Landes, möglicherweise rasch ändern. Dann ist sogar kurzfristig eine Verkaufspanik denkbar. Cochrane hat im Frühjahr 2009 solche Befürchtungen für die Vereinigten Staaten geäußert: “In fact, as many people have mentioned, the danger now is inflation.  And I would say it’s a greater danger than most of the other people have said.  Our danger now is a run on Treasury debt.  It’s not just can the Fed soak this stuff back up again, but can it soak this enormous amount of debt back up again when people don’t want either money or Treasury bills or anything labeled ‘U.S. Government.’ The danger is not 1932; the danger is Argentina, a massive run from Treasury debt.  And then monetary policy will not be able to do anything.  You can fool around with interest rates all you want. When people don’t want Treasury bills or money you’re stuck”, schrieb Cochrane. In den vergangenen dreieinhalb Jahren hat es keine Verkaufspanik bei amerikanischen Staatspapieren gegeben (sie gelten im Gegenteil immer noch als ein sicherer Hafen), noch hat die Inflationsrate in den Vereinigten Staaten deutlich zugenommen.

9. Überraschungsinflation mit und ohne Inflationserwartungen. Wie aber kann überraschend schnell Inflation entstehen, wenn der Umweg über Staatsankäufe durch die Zentralbank und das dadurch geschaffene Zentralbankgeld lang und unsicher sein mag?
a) Das geht, um ein Beispiel Cochranes zu benutzen, ziemlich einfach, sobald als Folge von drohender Überschuldung und drohenden Anleihekäufen durch die Zentralbank sich Inflationserwartungen bilden und ein nicht unerheblicher Teil der Staatsverschuldung kurzfristig ist und immer wieder erneuert werden muss: Das Interesse an kurzfristigen Staatspapieren lässt wegen der Inflationsfurcht nach: Statt dessen werden weniger inflationsempfindliche Anlagen wie Aktien, Immobilien oder Rohstoffe erworben, deren Preise steigen. Damit steigt auf dem Papier das Vermögen der Besitzer solcher Anlagen, die wegen der höheren Preise aber niedrigere Renditen befürchten. Das lässt sie mehr Geld für den Konsum ausgeben, was, bei einem möglicherweise nicht sehr elastischen Güterangebot, zur Inflation führt. (Dieser Sequenz liegen Annahmen zugrunde, die nicht selbstverständlich sind wie eine spürbare Abhängigkeit der Konsumneigung von Veränderungen bestimmter Vermögenswerte.).
b) Übrigens kann es auch ohne Inflationserwartungen und expansive Geldpolitik zu Inflation kommen: Wenn sich ein Staat über Gebühr verschuldet und die Menschen die zusätzlichen Staatspapiere als zusätzliches Vermögen betrachten, kann über diesen Vermögenseffekt die Konsumnachfrage zunehmen, was bei wiederum unelastischen Güterangebot zu höherer Inflation führt. (Das Beispiel stammt von Michael Bordo).  

10. Wachsendes Interesse trotz Kritik. Gegen die theoretischen Modelle der Anhänger der FTP sind Einwände formuliert worden. (Eine Beschreibung der Theorie gibt es hier und hier.) Ein Einwand lautet, dass hier die Inflation in der Tat “aus der Kiste” springt, ohne dass in diesen Modellen ein Finanzsektor enthalten wäre. Es ist zwar richtig, dass Hyperinflationen in der Geschichte in der Regel die Folge finanzpolitischen Abenteurertums waren, aber umgekehrt hat es in der Geschichte Fälle gegeben, in denen sich Staaten sehr hoch verschuldeten und die Zentralbank Staatsanleihen ankaufte, in denen aber keine schwere Inflation folgte. Eine empirische Untersuchung über die Brauchbarkeit der FTP anhand der Entwicklung Deutschlands und Spaniens in den ersten Jahren der Währungsunion, ist hier. Auch wenn die FTP in der Fachwelt umstritten ist, wie Harald Uhlig weiter oben in einem Zitat beschreibt, nimmt in einer Welt, in der in vielen Ländern die Staatsverschuldung steigt, das Wirtschaftswachstum schwach ist und die Geldpolitik mit Nullzinsen und Anleihekäufen die Konjunktur stimulieren will, das Interesse an der FTP zu.

11. “Schlafende Schocks”: Ein etwas anderer Blick. Ein interessantes neues Paper von Francesco Bianchi und Leonardo Melosi versucht, eine etwas andere theoretische Begründung für eine “Überraschungsinflation” zu finden und historische Beispiele zu liefern (Dank an Rüdiger Bachmann für den Hinweis). Es lebt vom Konzept “schlafender Schocks”: In der Ausgangssituation verhalten sich Geld- und Finanzpolitik solide. Dann werden die Finanz- und die Geldpolitik etwas unsolide. Darauf reagieren die Menschen aber nicht durch radikale Verhaltensänderungen, aber sie merken sich die Abweichungen von guter Politik und beobachten weiter die Lage. Es entsteht aber eine Art “schlafender Schock”. Die Politik setzt ihre Abweichungen von guten Regeln fort. Die Menschen, die noch für längere Zeit an eine Rückkehr zu solider Politik geglaubt haben, werden nun pessimistisch und es bilden sich Inflationserwartungen. In einer solchen Situation kann es dann quasi explosionsartig zu einer höheren Konsumneigung der Menschen kommen mit dem Ergebnis stark steigender Inflationsraten. Die Autoren nennen historische Beispiele für ihre Überlegungen, darunter ein durchaus verwegenes: So wollen sie die hohen Inflationsraten in den siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten unter anderem mit der Ankündigung der “Great Society” durch Präsident Lyndon Johnson Mitte der sechziger Jahre erklären. Diese Ankündigung sei mit der Erwartung steigender Staatsausgaben und Staatsverschuldung einher gegangen und habe einen ersten kleinen “schlafenden Schock” erzeugt. Ausgebrochen sei die Inflation dann erst richtig nach weiteren Schocks in den siebziger Jahren.