Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Geldpolitik in den Sternen

Kann sich die Geldpolitik in unseren Tagen noch auf stabile wirtschaftliche Zusammenhänge stützen? Fed-Chef Jerome Powell hat auf der Konferenz von Jackson Hole eine Rede gehalten, die Anlass zum Nachdenken bietet.

Powells Ausgangspunkt sind ökonomische Größen, die in der seit mehreren Jahrzehnten nicht nur in Amerika, sondern in vielen Ländern betriebenen Geldpolitik eine wichtige Rolle spielen. Diese Größen werden in der Formelsprache der Ökonomen üblicherweise mit einem Stern (*) versehen:

  • Das auf den Nobelpreisträger Milton Friedman zurückgehende und heute von den meisten Ökonomen akzeptierte Konzept einer “natürlichen Arbeitslosenquote”, abgekürzt u*, beschreibt jenes Niveau von Arbeitslosigkeit, das auf strukturelle Ursachen wie mangelnde Mobilität oder unzureichende Ausbildung zurückgeht und nicht mit Geldpolitik bekämpft werden kann. 1)
  • Der “natürliche Zins”, abgekürzt r*, beschreibt jenen Zins, bei dem in einer Wirtschaft ohne Geld Sparen und Investionen ausgeglichen sind und eine Wirtschaft somit eine optimale Wachstumsrate erreicht. Mit dem natürlichen Zins haben wir uns in FAZIT häufig befasst.
  • Das Inflationsziel, abgekürzt (p*), ist die von der Zentralbank angestrebte Inflationsrate. Sie beträgt in den Vereinigten Staaten, aber auch in vielen anderen Ländern, 2 Prozent. (Die EZB hat mit einer etwas unter 2 Prozent liegenden Rate ein leicht niedrigeres Ziel als die meisten anderen Zentralbanken.)
  • Die optimale, mit dem Inflationsziel vereinbare Wachstumsrate der Wirtschaft wird mit y* abgekürzt. Die Differenz zwischen dieser optimalen Wachstumsrate und der aktuellen (in manchen Fällen: erwarteten) Wachstumsrate ist die berühmt-berüchtigte Produktionslücke (“output gap”).

Die Bedeutung dieser “Sterne” für die Geldpolitik ist immens, wie ein paar Beispiele zeigen: Liegt die erwartete Inflationsrate über dem Inflationsziel, wird eine Zentralbank ihren Leitzins über den “natürlichen Zins” (r*) setzen. Das soll die Wirtschaft dämpfen und die Inflationsrate senken. Liegt die Arbeitslosenquote auf oder unter ihrem “natürlichen Niveau” (u*), ist es kontraproduktiv, mit einem unter dem “natürlichen Zins” (r*) liegenden Leitzins die Wirtschaft befeuern zu wollen, wenn dabei die Inflationsrate über ihren Zielwert ( p*) steigen sollte. Ähnliches gilt für den Versuch der Geldpolitik eine auf oder über der optimalen Rate für das Wirtschaftswachstum (y*) liegende Wachstumsrate anzustreben, wenn dabei die Inflationsrate über ihren Zielwert ( p*) steigen sollte. Zudem beruht moderne Geldpolitik auf der Annahme einer inversen Beziehung von Inflationsrate und Arbeitslosigkeit – das ist die viel diskutierte Phillips-Kurve.2)

So weit, so gut. Leider lassen sich drei der vier “Sterne” in der Praxis nicht direkt beobachten: die natürliche Arbeitslosenquote (u*), der natürliche Zins (r*) und die optimale Rate des Wirtschaftswachstums (y*). Sie müssen geschätzt werden. Powells Botschaft in Jackson Hole lautete, dass diese Schätzungen sehr schwierig sind und eine Geldpolitik, die sich stark auf diese Schätzungen stützt, in eine falsche Richtung gelenkt werden kann. Dies gilt vor allem in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten, in denen sich die “Sterne” möglicherweise stärker verändern, als es der Geldpolitik lieb sein kann. Powell zeigte dies in Jackson Hole unter anderem anhand der Schätzungen der natürlichen Arbeitslosenquote und der optimalen Rate des Wirtschaftswachstums zwischen 1960 und 2000. Geradezu chronisch sind in vielen Ländern über die Jahre Fehlschätzungen der Produktionslücke gewesen.

Seit den vergangenen Jahren liegen viele Schätzungen vor, die einen Rückgang des natürlichen Zinses, der natürlichen Arbeitslosigkeit und des optimalen Wirtschaftswachstums annehmen. Dafür existieren gute Gründe, aber woher will eine in die Zukunft blickende Geldpolitik heute beispielsweise wissen, ob die enttäuschende Produktivitätsentwicklung der vergangenen Jahre, die einen Grund für die Reduzierung der Schätzung für das optimale Wirtschaftswachstum bildet, eine vorübergehende Spätfolge der Finanzkrise darstellt oder einen längerfristigen Trend?

“Die Annahmen über die Werte der ‘Sterne’ sind unpräzise und anfällig für künftige Revisionen”, schränkte Powell in Jackson Hole ein. Besonders stellte er die Unzuverlässigkeit der Phillips-Kurve heraus: Weder lasse sich aus der Arbeitslosigkeit eine Prognose für die Inflation ableiten, noch sei umgekehrt die Inflation ein guter Indikator für den Zustand des Arbeitsmarktes.

Wie soll sich die Geldpolitik in einer solchen Situation der Unsicherheit verhalten? Auch das ist nicht ganz klar. Powell zitierte zunächst ein 50 Jahre altes Postulat des Yale-Ökonomen William Brainard, wonach eine Zentralbank in einer Phase großer Unsicherheit mit geldpolitischen Schritten vorsichtig vorgehen solle.3) Auf die Medizin angewandt würde dieses Postulat bedeuten: Wenn man nicht weiß, wie ein Medikament wirkt, sollte man mit einer kleinen Dosis beginnen. Das klingt plausibel, aber schon Brainard kannte Ausnahmen von seiner Regel und Powell nannte zwei Fälle, in denen die Geldpolitik nicht zögern dürfe, sondern tun, was nötig ist. Powell verwendete in seiner Rede Mario Draghis berühmte Formulierung “whatever it takes”. Die beiden Fälle sind eine drohende Finanzkrise und eine drohende rasche Beschleunigung der Inflation. Beide Fälle betrachtet Powell derzeit aber nicht als relevant, weshalb er eine Fortsetzung der Politik gradueller Leitzinserhöhungen favorisiert.

Was soll man von dieser Analyse halten? Joachim Fels, ökonomischer Berater bei der großen Fondsgesellschaft Pimco, schreibt, die traditionelle Wissenschaft von der Geldpolitik sei in den vergangenen Jahren für die Geldpolitik weniger nützlich geworden.4) Bis die Wissenschaft diese Herausforderung bewältigt habe, werde die Geldpolitik ein wenig wie eine Kunst betrieben werden müssen – und weniger an ökonomischen Modellen und Regeln ausgerichtet. Damit werde die Geldpolitik weniger langweilig als zuletzt, sagt Fels voraus. Immerhin etwas.

 

  1. Diese Interpretation der Phillips-Kurve hatten wir hier vorgestellt.
  2. Mit der aktuellen Debatte um die Phillips-Kurve haben wir uns unter anderem in diesem Beitrag befasst.
  3. Brainards Aufsatz hatten wir in FAZIT  hier behandelt.
  4. Auf dem diesjährigen EZB-Forum in Sintra hatte Larry Summers darauf verwiesen, dass sich seit der Finanzkrise das geldpolitische Denken kaum verändert hat, während nach früheren wichtigen Ereignissen (Weltwirtschaftskrise nach 1929 oder dem deutlichen Anstieg der Inflationsraten nach 1970) das geldpolitische Denken grundlegend überprüft wurde: https://blogs.faz.net/fazit/2018/06/19/wir-koennen-uns-keine-neue-krise-leisten-10035/